Politik

Entwicklungsland Deutschland? Die UN-Nachhaltigkeitsziele auf dem Prüfstand

Vergangenen Montag hat nicht nur für die meisten von uns das Semester begonnen, sondern auch eine der Vortragsreihen des Studium Generale. Anhand des Themas „17 Ziele für eine bessere Welt – die UN-Nachhaltigkeitsagenda im (kritischen) Blick“ werden dieses Semester jede Woche im Kupferbau die von den Vereinten Nationen aufgestellten Sustainable Development Goals (SDGs) unter die Lupe genommen werden. Diese Woche ging es los mit einer Einführung in das übergeordnete Thema der Nachhaltigen Entwicklung und der Forschungsgeschichte, die zu diesen 17 Zielen geführt hat.

Drei Männer stehen in einer Kneipe und unterhalten sich über ihre Freizeitaktivitäten der letzten Monate, dabei finden auch die ökologischen Auswirkungen ihres Konsumverhaltens Erwähnung. Als einer der Männer nach der Rechnung fragt, rechnet die Kellnerin den Kunden ihren kollektiven CO2-Fußabdruck vor – 26 Tonnen, allein aufgrund der erwähnten Konsumentscheidungen. Dann: die pro-Kopf-CO2-Emissionen in Tonnen von Mosambik (0,2), Bangladesch (0,3), Indien (1,1) und schließlich Deutschland (10,0). Dieser vierminütige Kurzfilm namens „Die Rechnung“ aus dem Jahre 2008 eröffnet den Vortrag „17 Ziele – warum diese und auf welchen Wegen? Zur Konzeption und Praxis Nachhaltiger Entwicklung“.

Prof. Dr. Thomas Potthast tritt an das Rednerpult. Er ist Leiter des Kompetenzzentrums für Nachhaltige Entwicklung (KNE), ein Uni-Gremium, das für Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre sorgen soll und zum Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität gehört. Potthast beginnt mit einer steilen These: „Ökologische und soziale Nachhaltigkeit gibt es nicht.“ Warum er das so sieht, wird erst an späterer Stelle klar. Als Ethiker betont er zunächst die ethischen Grundsätze des Nachhaltigkeitskonzepts. Bei der Nachhaltigen Entwicklung gehe es in erster Linie darum, eine Situation als nicht angemessen oder nachhaltig zu bewerten (evaluativ), einen dringenden Verbesserungsbedarf festzustellen (normativ) und schließlich um einen Handlungsaufruf zur Transformation (präskriptiv).

Auch im Klimaaktivismus geht es um Nachhaltige Entwicklung. Bild: Jonathan Kemper auf Unsplash

Politische Nachhaltigkeitsambitionen in der älteren Vergangenheit …

Diesem Konzept folge auch der 1972 veröffentlichte Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums, der die gleichen globalen Probleme und Herausforderungen anspricht wie die 17 SDGs (Sustainable Development Goals) der UN. Dieser Bericht legt den Fokus allerdings nur auf die planetaren Grenzen des Wachstums der Weltbevölkerung und des damit einhergehenden Rohstoffverbrauchs, also wie weit die Menschheit und ihr Ressourcenhunger noch wachsen können, ohne sich ihrer eigenen Existenzgrundlage zu berauben und einen globalen Kollaps herbeizuführen. 

1987 folgte der Bericht Our Common Future der Brundtland-Kommission, ein eigens dafür geschaffener UN-Sachverständigenrat, der einen Plan für eine langfristige und umweltverträgliche globale Entwicklung darlegte. In diesem fällt zum ersten Mal der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung, den Potthast später noch näher beleuchten sollte. Allerdings wird der Gedanke eines nachhaltigen Ressourcenverbrauchs auch dort noch vielmehr auf den Menschen bezogen als die Natur – wenn auch erstmalig mit dem Kerngedanken der globalen Generationengerechtigkeit. Laut dem Brundtland-Bericht ist also nachhaltiges Wirtschaften und die nachhaltige Nutzung von Ressourcen primär wichtig, um die Interessen kommender Generationen zu berücksichtigen, nicht, um die Natur um ihrer selbst willen zu schützen.

… und in der jüngeren

Im September 2015 schließlich beschlossen die Vereinten Nationen die Agenda 2030, welche die Ziele für Nachhaltige Entwicklung beinhaltet – eigens gesetzte Ziele aller Mitgliedsstaaten für die globale Entwicklung für die nächsten 15 Jahre, unterteilt in 169 Unterziele, die, so Potthast, „alle Länder zu Entwicklungsländern“ erklären. Diese sollten explizit die Nachhhaltige Entwicklung sowohl im ökologischen als auch im ökonomischen und sozialen Sinne umschließen und beinhalten nicht nur den Schutz und Erhalt natürlicher Ressourcen, sondern auch das Stärken ihrer Resilienz. Nicht nur ist das Einbeziehen von Resilienz ein Novum in der Geschichte des Nachhaltigkeitsgedanken, diese ist laut Potthast auch ein Kernbestandteil der Nachhaltigen Entwicklung. Dennoch, so kritisiert er, stehe auch hier weiterhin der Mensch im Mittelpunkt der Überlegungen, der Natur werde nach wie vor kaum intrinsischer Wert zugeschrieben.

Erneuerbare Energien sind ein wesentlicher Bestandteil von Nachhaltiger Entwicklung. Bild: Appolinary Kalashnikova auf Unsplash

Laut Potthast hat sich also die Nachhaltigkeitsforschung im Laufe ihrer Entwicklung die Frage gestellt, ob wir als Menschheit nicht nur Verpflichtungen gegenüber heutigen und nachrückenden Generationen haben, sondern auch gegenüber der Natur. Dies sei eine Frage der normativen Ethik, also der bewertenden, welche sich mit der Stichhaltigkeit der Gründe eines Sollens befasse, während sich die Ethik allgemein lediglich mit den Gründen eines Sollens an sich befasse. Ethisch-normativ ist auch seine erste Kritik an dem Konzept der Nachhaltigkeit: Nachhaltigkeit bedeute lediglich die „Möglichkeit einer dauerhaften Nutzung“, wie sie im Club-of-Rome-Bericht verstanden würde, und sei lediglich als „Ressourcen-Klugheit“ zu verstehen und damit immer am sozioökonomischen Nutzen orientiert, nicht aber an dem Schutz ökologischer Vielfalt. Daher unterscheidet Potthast zwischen nachhaltig-anhaltend (oder auch langfristig) und nachhaltig-anhaltend-positiv, zwecks Klarheit plädiert er außerdem für die Verwendung des Begriffs Nachhaltige Entwicklung, um die Verbesserung von als negativ bewerteten Umständen zu implementieren.

Die SDGs genauer beleuchtet

Nach dem Aufzeigen einiger definitorischer Probleme der Nachhaltigen Entwicklung (ökonomische Bepreisung und Ersetzbarkeit von Natur-Stärken (Artenbestände, Waldbestände, etc.), wie viel wovon muss wem weitergegeben werden) und der Probleme von Begriffsdefinitionen allgemein (Zu-/Abnahme des Bedeutungsumfangs, vage Formulierungen) geht Potthast von der konzeptionellen in die inhaltliche Kritik an den SDGs und damit in den zweiten, wesentlich kürzeren Teil seines Vortrags über.

Da die meisten der 17 Ziele im Laufe der Vortragsreihe noch behandelt werden, umreißt Potthast die Ziele nur oberflächlich, um die mit ihnen einhergehenden Problematiken anhand weniger Beispiele aufzuzeigen und einen Rahmen für die folgenden Vorträge zu setzen. Da wäre zum Beispiel das Problem der Überforderung, wenn gewisse Ziele zu hoch angesetzt sind und damit als unerreichbar wahrgenommen werden, was das Gegenteil vom erwünschten Effekt bewirken könnte. Ähnlich verhalte es sich mit dem Problem der Umsetzung, da häufig überhaupt nicht klar sei, wie die Ziele überhaupt konkret realisiert werden können. Konkretheit scheint übergreifend ein Schwachpunkt der SDGs zu sein, da das bereits erwähnte Problem der Vagheit sich in sämtlichen Zielen zeige, so etwa bei Formulierungen wie „nachhaltiger Konsum“ und „Wachstum“.

2014 hat die UN-Vollversammlung dem Aufstellen einer Agenda 2030 mit den 17 SDGs zugestimmt. Bild: Mathias Reding auf Unsplash

Wie nachhaltig sind die Nachhaltigkeitsziele?

Damit einher geht auch das Problem der Messbarkeit, da die Ziele laut Potthast zwar (grob) auf Basis wissenschaftlicher Empfehlungen, allerdings praktisch durch langwierige politische Verhandlungen der Mitgliedsstaaten gestaltet wurden. Das macht die SDGs als Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses lediglich zu einer politischen Zielsetzung, aber zu keiner wissenschaftlichen  Empfehlung. Bei politischen Zielsetzungen stellt sich jedoch auch die Frage, wer über deren Prioritäten und Umsetzungen entscheidet, was laut dem Redner letztendlich eine Frage der nationalen und internationalen Machtverhältnisse sei. 

Als letzten Kritikpunkt nennt Potthast den Aspekt, dass sich die Ziele zum einen wiederholten und sich zum anderen gegenseitig widersprächen, da sie nicht alle miteinander vereinbar seien, so etwa der Aspekt des Wirtschaftswachstums und des Klimaschutzes. Dieser Zielkonflikt wiederum werfe die Frage der Prioritäten auf, welche wiederum zum Machtproblem führt. Die allgemeine Kritik des Vortrags: Bei Nachhaltigkeit gehe es immer um Modelle des Verhältnisses der Menschen untereinander und zur Natur; wie genau sich die Vereinten Nationen diese Verhältnisse vorstellen, gehe aus den SDGs allerdings nicht ausreichend hervor. Sind die SGDs also gut gemeint, aber schlecht gemacht? Das hofft Potthast zumindest, das sei immerhin besser als die Alternative, dass die Ziele bewusst widersprüchlich und nicht realisierbar gestaltet seien.

Die SDGs sind das Ergebnis eines zweijährigen politischen Verhandlungsprozesses internationaler Regierungen. Bild: Davi Mendes auf Unsplash

Mögliche Lösungsansätze

Als Potthast zur Lösungsfindung kommt, wirft er zunächst einmal die Frage nach dem Degrowth-Konzept auf, welches unter anderen die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus klar bejaht, Potthast allerdings eher kritisch beäugelt. Worin sich jedoch beide einig sind: Klimaschutz und Wachstum seien nicht miteinander vereinbar. Was der Leiter des KNE stattdessen vorschlägt: Dekarbonisierung, Suffizienz vor Effizienz (also ökologisch vor ökonomisch nachhaltig) sowie eine generelle Umkehr der Denkweise. So solle man beispielsweise nicht zur Vorsicht im Umgang mit Ressourcen mahnen, wenn man ethisch betrachtet auf diese Ressourcen gar keinen Anspruch besitze. Stattdessen solle die Überlegung davon handeln, wie viel wir tatsächlich für ein gutes Leben bräuchten. Darüber hinaus sei eine Balance zwischen moralischer Über- und Unterforderung vonnöten.

Damit endete der Vortrag und ging in eine 15-minütige Fragerunde über. Darin wurde unter anderem nochmal die politische Entstehung und Beschaffenheit der SDGs etabliert und dass bei deren Nicht-Einhaltung keinerlei Konsequenzen drohen, auch aufgrund der aufgeführten Problematiken. Wer sich für das Thema interessiert, kann am Montag, dem 30. Oktober um 18 Uhr im Kupferbau wieder dabei sein, wenn um das zweite SDG und das Beenden des globalen Hungers geht. Wie die Universität die SDGs umsetzen will, könnt ihr hier nachlesen. 

 

Beitragsbild: Vereinte Nationen, modifiziert

 

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