Politik

Demokratie in Russland: „Der Weg ist leider noch verdammt weit“

Gorbatschow, Jelzin, Putin – diese drei Namen prägten den Vortrag des Historikers Klaus Gestwa am Mittwochabend im Kupferbau. Das Thema: „Das Scheitern der Demokratie in Russland“. Wer sich neben historischem Hintergrundwissen auch eine Einschätzung der aktuellen Lage – wenige Tage nach dem Wagner-Putschversuch – erhofft hatte, wurde ebenfalls nicht enttäuscht.

Putins Russland? „Eine mittlerweile fast perfekte Führerdiktatur“. Das russische Staatsfernsehen? Eine „Zombiekiste“. Putins Gefolgsmann Dmitri Medwedew? „Völlig durchgeknallt“. Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Uni Tübingen, schreckt nicht zurück vor klaren Worten. In seinem Vortrag im Kupferbau zum Scheitern der Demokratie in Russland widmet sich der Historiker ausführlich der Geschichte des flächenmäßig größten Staates der Erde, nimmt sich aber auch viel Zeit, um auf Putin und die aktuelle Situation einzugehen.

Das Interesse an Gestwas Vortrag ist nicht gering. Bild: Maximilian Schmelzer
Gorbatschow – Friedensstifter oder Totengräber?

Der am Abend des 28. Juni im Rahmen der Studium-Generale-Vorlesungsreihe „Demokratien und ihre aktuellen Herausforderungen“ gehaltene Vortrag beginnt mit Michail Gorbatschow, dem im August letzten Jahres verstorbenen Staatspräsidenten der Sowjetunion. Gut 37 Jahre vorher, im März 1985, wurde der Politiker Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Bekannt ist Gorbatschow heute insbesondere dafür, eine dringend notwendige Modernisierung vorgenommen zu haben, die unter dem Namen „Glasnost und Perestroika“ (Offenheit und Umbau) firmierte. Gorbatschow, so Gestwa, verfolgte das Ziel, den Sozialismus in der Sowjetunion „fit für das 21. Jahrhundert“ zu machen. Während der Friedensnobelpreisträger nach seinem Tod im Deutschen Bundestag als Wegbereiter der Wiedervereinigung gewürdigt wurde, gilt er in Russland als „Totengräber des Sowjetimperiums“. Putin habe dem Verstorbenen, wie der Tübinger Historiker meint, „demonstrative Abschätzigkeit“ entgegengebracht und trete dessen Erbe nun gezielt mit Füßen.

„Imperialer Nachlassverwalter wider Willen“

Zwei Kardinalfehler beging Gorbatschow Gestwa zufolge: Erstens erkannte er nicht, wie marode die Sowjetwirtschaft geworden war, und leitete keinen Übergang zu einer postindustriellen Gesellschaft ein. „Als Wirtschaftsreformer versagte Gorbatschow auf ganzer Linie.“ Zweitens unterschätzte er die Sprengkraft des Nationalen. Er versäumte es, rechtzeitig aktiv auf die Forderungen der Sowjetrepubliken einzugehen, in denen nationales Selbstbewusstsein und Streben nach Autonomie wuchsen. Das Sowjetimperium wurde von diesen als Last empfunden. So wurde Gorbatschow am Ende zum „imperialen Nachlassverwalter wider Willen“, wie Gestwa es formuliert. Während die Sowjetbürger*innen politisch mündig wurden, bildeten sich nach und nach zivilgesellschaftliche Initiativen heraus, wie beispielsweise die 1989 gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial – die mittlerweile in Russland aufgelöst wurde.

Gorbatschow, Jelzin und Gestwa. Bild: Maximilian Schmelzer
Jelzin und der glückliche Kollaps

Zu einem ernsthaften Machtkonkurrenten Gorbatschows wurde Boris Jelzin, der 1991 schließlich zum Präsidenten gewählt wurde. Im Dezember desselben Jahres kam es zur Selbstauflösung der Sowjetunion, die sich, so Gestwa, nicht als große geopolitische Katastrophe, sondern als „weitgehend glücklich verlaufender Kollaps“ abspielte. Dennoch sei es zu erheblichen Verlusten an Sicherheit und Gewissheit gekommen, Raubkapitalismus habe um sich gegriffen, kurz: Die großen Erwartungen an den demokratischen Neubeginn verwandelten sich in große Enttäuschung. Jelzin erhielt den Spitznamen „Zar Boris“ und die Staatsduma, das russische Parlament, „blieb eine Zirkusarena für politische Raufbolde“. Im Zusammenhang mit Jelzins überraschender Wiederwahl 1996 spricht Gestwa von der „Geburtsstunde der gelenkten Demokratie“, die ihre volle Entfaltung dann in der Putin-Ära erreicht habe. Die Bilanz mit Blick auf Jelzin sei „sehr ambivalent“; immerhin seien die Prinzipien der Gewaltenteilung und der bürgerlichen Grundrechte weitgehend geachtet und die Macht des Präsidenten eingeschränkt gewesen – im Gegensatz zum „autoritären Putinismus des 21. Jahrhunderts“.

Wladimir der Große?

Als Putin 1999 russischer Ministerpräsident wurde, sei er „ein Mann ohne Gesicht“ gewesen, jemand, von dem die meisten glaubten, er werde nur eine kurze Amtszeit haben. Heute, 24 Jahre später, ist Putin immer noch da. Russland sei nun, so Gestwa, ein imperialer Unterdrückerstaat, in dem missliebige Gegner verhaftet, vergiftet oder auf andere Weise ermordet würden. Dem russischen Präsidenten gehe es um imperiale Macht und Größe, weshalb er sich auf Peter den Großen und Katharina die Große berufe. Seit seinem Amtsantritt habe Putin durchgängig Krieg geführt; in Russland herrschten nun Militarismus und Siegeswahn. Seit 2012 sei eine spürbare Radikalisierung der Politik Putins erkennbar; so sei beispielsweise der Euromaidan in der Ukraine als existenzielle Bedrohung diskreditiert worden. Putin mache heute aus seiner Verachtung der westlichen Demokratien und ihrer liberalen Emanzipationspolitik keinen Hehl.

„Die Welt hatte es versäumt, Putins Repressionen und Aggressionen Grenzen aufzuzeigen.“

Klaus Gestwa

Die Ursachen für Putins Angriffskrieg auf die Ukraine sieht Gestwa in auf Machterhalt ausgerichtetem Imperialismus. Es gehe dem 70-Jährigen keineswegs um russische Sicherheitsinteressen, sondern um die Zerstörung des selbstständigen ukrainischen Staates. Der Historiker ist überzeugt, dass es die Welt versäumt habe, Putins Repressionen und Aggressionen Grenzen aufzuzeigen. Dem 24. Februar 2022 seien „Kuschelsanktionen“ und „Kumpanei“ vorangegangen.

Putins Kriege – eine Bilanz des Schreckens. Bild: Maximilian Schmelzer
„Eine sehr schwere Beziehungskrise“

Mit Blick auf Russlands Zukunft äußert sich der Wissenschaftler pessimistisch: Aufgrund der massiven Indoktrination der russischen Bevölkerung werde es eines sehr langwierigen „Entgiftungsprozesses“ bedürfen, bis die „Entputinisierung“ erreicht sei. Über die weitere Entwicklung vor allem entscheiden würden die russischen Eliten. Das mittlerweile geächtete Land werde in den nächsten Jahren ein schwieriger und kaum berechenbarer Partner bleiben; sein Weg zurück in die zivilisierte Welt sei „nicht absehbar“.

Am Ende seines Vortrags kommt Gestwa noch auf seine persönliche Betroffenheit durch die Ereignisse zu sprechen. Seit 35 Jahren halte er sich regelmäßig monatelang in Russland und der Ukraine auf. Der Historiker studierte in Moskau und Leningrad (heute: Sankt Petersburg); seine Ehefrau wuchs in Moskau auf und studierte ebenfalls dort. Seit der Annexion der Krim befinde er sich, so sagt Gestwa, in „einer sehr schweren Beziehungskrise zu Russland“. Auch die Arbeitsgrundlage seiner russischen Wissenschaftskolleg*innen sei durch den repressiven Putinismus zusammengebrochen; es fühle sich an wie eine „akademische Amputation“.

Putin, Prigoschin und der Putschversuch

Bei der sich anschließenden Fragerunde werden vor allem aktuelle Entwicklungen thematisiert – das hohe Interesse daran hatte wohl, so könnte man meinen, maßgeblichen Anteil an der hohen Besucherzahl im Hörsaal. Im Hinblick auf den Aufstand der Gruppe Wagner vor einer Woche äußert Gestwa die Vermutung, dass Putin deren Chef Prigoschin wohl nicht verzeihen könne: „Ich würde mal sagen: Seine Lebenszeit hat sich verkürzt.“ Zugleich habe man sehen können, „dass Putin Schiss hat“. Doch mangels politischer Alternativen sehe es für eine mögliche Entputinisierung momentan schlecht aus: „Der Weg ist leider noch verdammt weit.“

Beitragsbild: Pixabay

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