Einmal im Monat findet im Tübinger Kino Museum die Reihe „Film & Psychoanalyse“ statt. Organisiert wird das Event in Kollaboration mit dem Institut für Psychoanalyse Stuttgart–Tübingen e.V. Ausgebildete Psycholog*innen leiten im Anschluss an die Vorstellung eine Diskussion zum jeweiligen Film. Die Kupferblau war letzten Mittwoch dabei. Im Programm: Call Me by Your Name (2017) von Luca Guadagnino, mit Timothée Chalamet und Armie Hammer in den Hauptrollen.
Die Welt der Kultur hat unter der Pandemie gelitten wie kaum eine andere Branche. Vor allem Kinos hatten mit niedrigen Besucher*innenzahlen zu kämpfen, und auch nach dem Fall der Maskenpflicht setzen sich viele nur ungern zwei Stunden lang in einen geschlossenen Saal. Doch es gibt einen Lichtblick: Die Kinos dürfen wieder voll ausgelastet werden, und auch ein diverseres Rahmenprogramm ist wieder möglich. Und so geht die Reihe „Psychologie und Film“ in die nächste Runde, diesmal unter der Moderation von Dr. Anke Zeller und Dr. Hannsjörg von Freytag-Loringhoven.
Um 20 Uhr soll es losgehen, doch schon eine halbe Stunde früher formt sich eine Schlange vor dem Kassen- und Popcorn-Tresen. Das Kinopersonal ist zufrieden: Etwas über die Hälfte der Plätze sind gefüllt (nach zwei Jahren der Einschränkung eine wahre Augenweide). Auch überraschend viele junge Menschen seien da, vor allem junge Frauen. Kein Wunder: Call Me By Your Name hat inzwischen einen Kultstatus erreicht, der über die LGBT- oder Arthaus-Szene weit hinausgeht.
Sommer, Sonne, erste Liebe
Der Film von Regisseur Luca Guadagnino basiert auf der gleichnamigen Buchvorlage des Autors Andre Aciman. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Romans erzählt er eine leicht abgewandelte Geschichte des 17-jährigen Elio, der mit seinen Eltern in einem großen, alten Haus irgendwo in Norditalien seinen Sommer verbringt. Als Akademikerkind ist er daran gewöhnt, sein Zimmer sechs Wochen lang an Studierende abzugeben, die seinem Vater bei seinen Ausgrabungen unterstützen. Doch dieses Jahr ist alles anders, als der gutaussehende Doktorand Oliver bei der Familie einzieht…
Vier Oscar-Nominierungen hatte der Film, unter anderem für Timothée Chalamet als besten Hauptdarsteller. Call Me by Your Name gilt als Durchbruch für den jungen Schauspieler, der inzwischen in Filmen wie Dune (2021), The French Dispatch (2021) und Little Women (2019) zu sehen ist. Die Coming-Of-Age-Story gibt mit ihren Tabubrüchen, ihrer organischen Sexualität und der unvoreingenommenen Selbsterforschung allen Anlass für eine psychoanalytische Diskussion.
„Unsere Gefühle gehören uns erst ganz, wenn wir Worte dafür finden“
Hannsjörg von Freytag-Loringhoven
Das Gespräch beginnt allerdings relativ stockend: Das Publikum muss nach dem Abspann erst einmal zu sich kommen. Auf die Frage, was genau die Beziehung zwischen Elio und Oliver ausmache, weiß erst einmal niemand zu antworten. Einige der Besucher*innen haben es auch extra eilig, und verlassen schon einmal den Kinosaal. Peinliche Stillen passieren, dann lockert sich die Stimmung wieder. Tatsächlich haben Viele etwas zu der Beziehung der beiden jungen Männer zu sagen. Es wird über die Machtverhältnisse diskutiert und über die vielen Grauzonen, in die sich der Film hineinwagt. Auch die Rolle der Eltern wird genannt, besonders Elios Vater scheint wichtig zu sein. Als Oliver im Film letztendlich Abreist, gibt der Vater seinem Sohn einen Rat: Er solle seine Trauer nicht ersticken, weil er damit auch die Liebe zerstören würde, die er einst gefühlt hat. Man ist sich einig, dass diese liebevolle Atmosphäre zwischen Eltern und Kind ausschlaggebend für Elios emotionale Reife ist, die der viel ältere Oliver nicht immer an den Tag legen kann.
Die generelle Ambiguität der Dialoge erlaubt aber eine Unzahl an Interpretationen, und mehr als ein Mal sind Zuschauer*innen anderer Meinung als die Expert*innen, zum Beispiel bei der Rolle der Frauen im Film. Einige finden, sie seien eher unwichtig, wogegen andere entschieden protestieren. Aber gerade das sei doch „schön, dass wir verschiedene Meinungen haben können“, meint Freytag-Loringhoven. Konsens ist: Der Film ist und bleibt ein sehr humanes Abbild menschlicher Emotion, egal ob er 1983 spielt, 2017 entstand oder 2022 angeschaut wird.
Bis zum nächsten Mal?
Nach dem Publikumsgespräch steht man noch kurz in der Eingangshalle beisammen. Das Feedback ist durchwachsen: Die Filmauswahl sei wirklich passend, doch die Moderation etwas unbeholfen, meint eine Rhetorikstudentin. Andere pflichten ihr bei und bedauern, nur kurzfristig oder zufällig von der Veranstaltung gehört zu haben, da man im Internet kaum Informationen dazu findet. Eigentlich schade, denn das Programm sei durchaus unterstützenswert und habe eine Menge Potenzial! Für kommenden Monat ist der chinesische Spielfilm „Asche ist reines Weiß“ angesetzt – ob der ebenso gut läuft, wird sich zeigen.
Für Interessierte: Hier geht’s zur Homepage der Veranstaltung: https://www.ifp-st.de/das-institut/veranstaltungen/film-psychoanalyse/