Kultur

Über kleine Penisse, den Tod und die Liebe – Ein Blick auf Ferdinand von Schirachs Werk „Regen“ 

Der Beethovensaal der Liederhalle in Stuttgart ist mit seinen rund 2000 Plätzen voll besetzt als am vergangenen Montagabend um 20 Uhr Ferdinand von Schirach erstmalig als Schauspieler sein neuestes Theaterstück Regen“ auf der Bühne inszeniert. In dem im August erschienenen Buch schreibt er über Regen, über einen Rechtsfall und – vermutlich am intensivsten – über die Liebe. Studierendenfreundlich sind Buch und Veranstaltung in einem Aspekt jedoch nicht. Ein Kommentar

Ich betrete die Liederhalle, der Mann am Eingang reißt mein Ticket ein. Tropfen rinnen mir die Schläfe herunter und stehen in meinen Haaren. Es regnet – und das nicht nur ein bisschen. Ironischerweise ist das Wetter Programm und Ferdinand von Schirach (*1964) wird später seine Zuhörerschaft noch fragen: „Mögen Sie Regen? […] Regen, das ist White Noise, weißes Rauschen.“ Ein paar Gedanken möchte ich im Folgenden dazu loswerden, aber beginnen wir dafür am Anfang:

Eine Zigarette für die Liederhalle

Eine Bühne, ein schwarzer Vorhang. Davor ein Stuhl aus Holz und ein kleiner runder Tisch, an den eine lederne Aktentasche gelehnt ist – ein unspektakuläres Bild. Als sich der Saal verdunkelt und dann die Schweinwerfer wieder angehen, hat Schirach die Bühne betreten. Elegant gekleidet im schwarzen Anzug mit Kummerbund und Fliege und dazu zurückgegelten Haaren, so hebt Ferdinand von Schirach zum Monolog an. „Wissen Sie, ob man hier rauchen darf? Ah ja, danke.“ Natürlich reagiert keiner aus dem Publikum auf diese Frage und dennoch zündet sich der Schauspieler in den ersten Minuten seines Vortrags eine Zigarette an. In blassen Schwaden zieht der Rauch nach oben. An diesem Stilmittel wird sich in den nächsten eineinhalb bis zwei Stunden immer wieder bedient werden. Schirach durchbricht bewusst die Wand zwischen Bühne und Publikum, um uns so zum Mit- und Nachdenken anzuregen. Ich sitze heute Abend in dieser Halle, weil ich Schirachs Buch Regen gelesen habe und es mich auf seine ganz eigene Art gefesselt hat. Heute steigt der Autor in die Rolle seiner literarischen Figur, ein Mann – ein gescheiterter Schriftsteller – der durchnässt vom Regen eine Bar betritt und dort ein Selbstgespräch über Schuld und Freispruch, Liebe und Einsamkeit und Sehnen und Verlust beginnt.

Autor und Schauspieler: Ferdinand von Schirach mit Zigarette auf der Bühne. (hier: Premiere Berlin), Bild: André Kowalski

Ein typischer „Schirach“ – aber worum geht‘s konkret?

Die Struktur von Schirachs neuem Text ist spannend, denn sie ist wirr. So scheint es zumindest nach dem ersten Lesen und man hat das Gefühl es wird irgendwie alles, aber nichts Konkretes behandelt. Schaut man sich die einzelnen Themenbereiche jedoch genauer an, ist sehr wohl ein roter Faden erkennbar, nur bricht dieser – ganz im Sinne einer gedanklichen Entwicklung – immer wieder aus. Die Geschichte nimmt in der Lokalität einer Bar ihren Anfang – im Verlauf des Monologs wird klar, wie der Mann an diesen Ort gelangt ist. Retrospektiv berichtet der namenlose Erzähler, dass er gerade von einer Gerichtsverhandlung kommt, zu der er gegen seinen Willen als Schöffe berufen wurde. „Ein junges Ehepaar. Sie streiten sich. Das Thema: Eifersucht. Er sagt zu ihr, sie sei eine Hure. Sie sagt zu ihm, er habe einen zu kleinen Penis. Die Sache eskaliert. Am Ende sticht er ihr ein Messer in den Hals. Sie verblutet auf offener Straße.“ 

Dem ein oder anderen Schirach-Leser wird eine solche Thematik bekannt vorkommen, da der Jurist und Strafverteidiger schon zuvor ähnliche Fälle in Büchern verarbeitet hat. So wirft Schirach auch dieses Mal ein ethisch-moralisches Licht auf die Tragödie des jungen Paares, wenn er in diesem Kontext nach Schuld und Strafe fragt. Sie wird als Aufhänger für die eigentliche Thematik des Textes und des Theaterstückes genutzt. Nicht umsonst besitzt das Buch Regen den Untertitel Eine Liebeserklärung und so erzählt der Mann von seiner Geliebten, die eines Tages plötzlich an einem Aneurysma stirbt. Während sich der Monolog weiter in die Vergangenheit richtet und das erste Treffen und Kennenlernen der Beiden wiedergibt, wird dieser Hauptstrang durch verschiedenste Einschübe gelockert. Ferdinand von Schirach webt damit zwei der großen Hauptthemen der Literatur in seinen Text ein: zum einen die Liebe – besonders dann, wenn sie scheitert – und zum anderen den Tod. Existenzielle Grenzgänge, einhergehend mit existenziellen Fragen.

Regen, am 23.08.2023 im Luchterhand Literaturverlag erschienen. Bild: Rahel Sartorius

Von Fischen, Denkern und der Dekonstruktion der Liebe

Was den Abend in der Liederhalle besonders macht? Es ist eine Sache, ein Buch zu lesen, etwas ganz anderes jedoch, es (von dem Autor) vorgetragen zu bekommen. Das Aushalten der Pausen, die Betonung einzelner Worte und Silben, die Sprachmelodie – ich wage die Behauptung aufzustellen, dass Schirach all das mit großer Sorgfalt und Bedacht für seine Theaterinszenierung einstudiert hat. Er kann sein Publikum steuern, indem er Schwerpunkte setzt und bestimmte humorvolle, schmerzhafte oder zynische Passagen während seines Auftritts besonders hervorhebt. Denn bei all der Schwere, die das Stück trägt und den Problemen, die es anspricht, kommt der Humor nicht zu kurz und immer wieder müssen die Zuhörenden laut lachen. Daher möchte ich eine Frage aus dem Theaterstück an euch weitergeben: Wenn ihr in den Urlaub ans Meer fahrt, habt ihr euch einmal Gedanken darüber gemacht, welche Rolle die Fische dabei spielen? Nun Schirach schon, und seine Haltung ist klar: „Diese Fische tun aber alles im Meer, wo denn sonst, es sind Fische. Sie gehen im Meer aufs Klo, sie haben im Meer Sex, sie bekommen im Meer ihre Kinder, sie werden krank und sterben und verfaulen und verwesen im Meer. Und dann schwimmen die Leute darin herum […] und finden es auch noch amüsant.“ Ich gebe zu, wenn ihr euch jetzt fragt, was verwesende Fische mit einer Liebesgeschichte zu tun haben sollen, dann ist diese Frage absolut berechtigt, aber ich versichere Euch, in dem eingebetteten Kontext haben sie ihre Daseinsberechtigung.

In den mal kürzeren und mal längeren Diskursen sucht Schirach das Gespräch über Philosophie, Literatur, Wissenschaft und die Utopien unserer Zeit auf. Dabei bedient er sich an Denkergrößen wie Hemingway, Goethe oder Monod – um nur ein paar von ihnen zu nennen. Gemeinsam mit der persönlichen Geschichte des Erzählers entsteht so ein Kompositum aus Erfahrung und Fakten und Emotionalität und sachlicher Nüchternheit. Eine Zerrissenheit, die meiner Meinung nach den Geist der Gegenwart sehr gut einfängt und die Tendenz zur emotionalen Verarmung unserer Gesellschaft herausstellt. Oder, um es frei nach Schirachs Worten zu sagen: Heute werden keine Marienbader Elegien mehr geschrieben, aber dafür ist Liebe nun hormonell bedingte Biochemie.

Schirach in der Rolle: Rezitierend aus seinem kleinen Notizbuch. (hier: Premiere Berlin) Bild: André Kowalski

Mein Problem mit dem Buch

Nachdem Schirachs Stück in seinen Grundzügen dargelegt wurde, möchte ich abschließend noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mich schlichtweg gestört hat: Es geht um den Umfang des Buches. Buch – wenn man es denn so nennen möchte. Denn obwohl die Seitenzählung bei Nummer 107 endet, umfasst der eigentliche Textkorpus von Regen lediglich 57 Seiten. Die zweite Hälfte wurde durch ein Interview des Autors mit dem Süddeutschen Zeitung Magazin aufgefüllt. Selbstverständlich ist das Interview sehr interessant und lässt spannende Schlüsse in Bezug auf den vorausgegangenen Monolog zu, aber dennoch empfinde ich 20€ Kaufpreis für gut 50 großzügig bedruckte Seiten Autorenendprodukt unverhältnismäßig. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass Schriftsteller immer unter dem Druck stehen Neuerscheinungen herauszubringen, allerdings schwingt für mich hierbei der Unterton einer subtilen Kommerzialisierung mit. Denn, hätte man den Text nicht auch in einer Sammlung mehrerer kürzerer Geschichten publizieren, oder den Kaufpreis senken können? Eingelegt in meinem Buch war eine kleine Karte, welche die Daten der *EXKLUSIVEN PREMIERENTOURNEE 2023/24* enthielt. Nun war ich im Zuge dieser Tournee in Stuttgart und habe mir das Theaterstück angesehen – und was soll ich sagen, ich fand die Vorstellung ganz wundervoll. Aber dennoch hätte ich mir die 50€ teure Theaterkarte vermutlich nicht gekauft, wäre sie nicht das Geburtstagsgeschenk meines Vaters gewesen. Platt gesagt, überlegt man sich da zweimal – gerade als Studierende –, ob einem die Karte das Geld wert ist, gleiches gilt für das Buch. Ergo, liegt das Problem wohl viel mehr darin, wie mit der Kürze des Textes umgegangen wird. Denn, dass dieser von Qualität ist, wurde hoffentlich mit vorliegendem Artikel deutlich. Trotz der hier angebrachten Kritik empfehle ich unbedingt in das Buch hineinzulesen. 

Bücher sind ja oft klüger als ihre Autoren. Das ist beruhigend.

Ferdinand von Schirach

Beitragsbild: André Kowalski

 

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