Kultur

Nicht in meiner Familie: Ein Vortrag über das Familiengedächtnis zum Nationalsozialismus

Feuer, Zerstörung, Misshandlung, Mord. 85 Jahre ist es her, dass die Synagogen in ganz Deutschland, in der Nacht vom neunten auf den zehnten November 1938, von den Nazis in Brand gesetzt wurden. Geschäfte und Wohnungen jüdischer Bürger wurden zerstört und deren Besitzer misshandelt, verhaftet oder getötet. Doch wer waren die Täter? Vielleicht jemand aus der eigenen Familie? Waren die eigenen Ur- oder Großeltern an den Verbrechen der Nazis beteiligt?

Was für viele kaum vorstellbar erscheint, wurde für Roger Frie zur Realität. In seinem Buch Nicht in meiner Familie. Deutsches Erinnern und Verantwortung nach dem Holocaust thematisiert er aus einer historischen, philosophischen und psychoanalytischen Perspektive heraus, wie er mit der Mitgliedschaft seines Großvaters in der Nazi-Partei und dessen Befürwortung des damaligen Regimes umgeht. Über dieses Buch und die Erfahrungen, die er während seiner Recherche gesammelt und gemacht hat, sprach der Historiker und Psychoanalytiker am 7. November in einem vom dem Geschichtswerkstatt Tübingen e.V. und dem Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb e.V. organisierten Online-Vortrag mit dem Titel: Das Familiengedächtnis zum Nationalsozialismus. Den Zuschauer*innen stand er im Anschluss für Fragen zur Verfügung.

Wer ist Roger Frie?

Prof. Dr. Dr. Roger Frie ist der Sohn zweier Deutscher, die nach Kanada auswanderten. Unter anderem führt er an der Simon Fraser University einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften. Mit seinem Vortrag will er die Menschen zum Nachdenken animieren und sie dazu motivieren, Fragen über die Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern während des Zweiten Weltkrieges zu stellen. 

„Ich erkannte sein Gesicht, doch dieses Bild von ihm hatte ich noch nie gesehen.“

Prof. Dr. Dr. Roger Frie

Nicht in meiner Familie

Mit diesen Worten beginnt Roger Frie seinen Vortrag und nimmt damit Bezug auf die Situation, als er erstmals ein Bild sah, dass seinen Großvaters in Uniform während des Zweiten Weltkriegs zeigte. In diesem Moment sei er auf einen Teil seiner Familiengeschichte gestoßen, über welche zu diesem Zeitpunkt nie geredet worden war.

Durch diese Nachzeichnung seiner damaligen Erfahrung referiert er darauf, dass viele Deutsche nur wenig darüber wissen, was ihre Familienmitglieder während des Dritten Reiches wirklich getan oder geglaubt haben. Dies sei nach Frie auf folgendes zurückzuführen:

„Tatsache ist, dass unsere Familiengeschichten oft unbekannt und schwer zu erforschen sind. Und zwar nicht, weil die Fakten unzugänglich sind, sondern weil sie mit dunklen und schwierigen Geschichten verbunden sind, die mit der Tätervergangenheit der Nationen, der Gemeinschaft oder der Familie, zu der wir gehören, zusammenhängen.“

Das Thema Nationalsozialismus spielte in Fries Leben schon seit frühester Kindheit eine Rolle. Seine Eltern fanden es sehr wichtig, dass er und seine Schwester verstehen, was damals in Deutschland passiert ist. In der Familie selbst wurden zumeist die Luftangriffe oder andere ausgewählte Erzählungen zu Zeiten des Krieges thematisiert. Sein Großvater geriet in den damaligen Berichten niemals in den Fokus. Nie sei darüber gesprochen worden, was Eltern oder Großeltern in der NS-Zeit getan haben.

Ein Fotoalbum kann zur Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte anregen. Bild: unsplash

Frie stellt Nachforschungen an und findet heraus, dass sein Großvater Angehöriger der Luftwaffe war. Durch weitere Recherchen erfährt er zudem, dass er auch Mitglied des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps, einer paramilitärischen Organisation, gewesen ist. Im Nationalsozialismus galt diese als unpolitisch, doch später ist klar: Das NSKK war integraler Bestandteil des Nazi-Regimes und unter anderem am neunten November an der Vernichtung jüdischer Deutscher sowie an deren Diskriminierung beteiligt. Ihm wird klar: Sein Großvater stand auf der Seite der Täter.

Ob sein Großvater selbst oder andere seiner Familienmitglieder an den Taten der Reichspogromnacht vor 85 Jahren in Hannover mit verantwortlich war, weiß Frie nicht.

Durch die ganzen Eindrücke, die Frie während seiner Recherchen sammelt, entsteht in ihm ein Prozess des Nachdenkens. Von seinem Umfeld wurde er ermutigt, darüber zu schreiben, was er gelernt und herausgefunden hat. Seine Mutter unterstützte ihn bei der Arbeit an seinem Buch.

Doch wie hat sich Roger Fries Blick auf seinen Großvater im Laufe seiner Recherchen verändert?

Frie sagt, er würde die Veränderung des Blickwinkels auf seinen Großvater als Prozess beschreiben. Er habe diesen immer idealisiert, da er für ihn als Kind eine wichtige Persönlichkeit war. Er vermutet, dass er die Nachforschung in Bezug auf die Vergangenheit seines Großvaters aus diesem Grund immer abgelehnt hat. Die unruhigen Gefühle, die aufgrund seiner Recherchen in ihm hervorgerufen wurden, werden ihm zufolge nicht mehr verschwinden. Er könne nicht mehr zu dem idealisierten Bild seines Großvaters zurückkehren, wegwischen oder verbessern was dieser getan hat. Das Verhältnis zu seinen Erinnerungen habe sich verändert, es werde nie mehr so sein wie es vorher war und Frie zufolge sollte es auch nicht so sein.

Was sind die Gründe für die Erinnerungsabwehr der Nazi-Verbrechen im Allgemeinen und vor allem in Bezug auf die Beteiligung an NS-Verbrechen?

Nach Frie sei über den Nationalsozialismus als gelernte, nie als gelebte Geschichte gesprochen worden. Es wurden immer nur ausgewählte Erzählungen weitergegen, welche Fragen nach der Verantwortung oder nach dem Holocaust auf Abstand hielten. Dabei sei der Unterschied von gelernter und gelebter Geschichte in Bezug auf die Erinnerung besonders relevant. Als gelernte Geschichte bezeichnet Frie das, was wir in der Schule aus Schulbüchern oder aus Museumsbesuchen lernen. Gelebte Geschichte hingegen sei durch Familiengeschichte und Emotionen, die uns durch unsere Familie vermittelt werden, geprägt. Doch genau über die gelebte Geschichte werde, aufgrund ausgewählter Erzählungen aus der Vergangenheit, nur lückenhaft berichtet. Hierin findet sich die Erinnerungsabwehr. In Bezug auf Letzteres bezieht sich Roger Frie auf Anna Ornstein, welche das Vorwort zu seinem Buch geschrieben hat. Sie ist Psychoanalytikerin und Auschwitz-Überlebende. Die Erinnerungsabwehr bezieht sie vor allem auf die zweite Generation. Also auf diejenigen, deren Eltern das Dritte Reich als erwachsene Person erlebt haben.

„Die meisten Angehörigen der deutschen zweiten Generation hatten offenbar einen psychischen Kompromiss geschlossen: Um ihre Liebe und Loyalität nicht infrage stellen zu müssen, teilten sie das Schweigen ihrer Eltern.“

Anna Ornstein

Diese Auffassung vertreten auch andere Wissenschaftler und Psychologen. Sie sind der Meinung, dass viele Personen der zweiten Generation nichts über die Vergangenheit ihrer Eltern im Nationalsozialismus wissen und ihre Eltern oft nicht über diese Zeit sprechen wollten. Gab es bei den Eltern jedoch Redebedarf, so seien diese von ihren Kindern oft durch Verurteilung zum Schweigen gebracht worden. Aufgrund dessen konnte die NS-Vergangenheit einzelner Personen nie richtig aufgearbeitet und an die Folge-Generationen weitergegeben werden.

Roger Frie ist jedoch der Auffassung, dass dieser generationsübergreifende Prozess, wie er ihn nennt, aufgehalten werden kann, indem man die eigene Familie erforscht und Fragen stellt.

Ein Archiv gewährt möglicherweise Zugang zur eigenen Familiengeschichte. Bild: unsplash

Welche Schritte sind notwendig, um die eigene Familiengeschichte zu erforschen?

In einem ersten Schritt sollte man damit beginnen, Fragen in der eigenen Familie zu stellen und alle Unterlagen zu sammeln, die man finden kann. Frie erwähnt aber auch, dass man nicht bei jeder Familie viel über deren Vergangenheit herausfinden kann. Bei manchen könne man auf viel Material stoßen, bei anderen auf nichts. Doch auch, wenn man zu Hause wenig Dokumente über die eigenen Vorfahren findet, gibt es noch weitere Möglichkeiten an Informationen zu gelangen.

Beispielsweise könne man einen Antrag im Bundesarchiv stellen. Gegen eine Gebühr kann man erfahren, ob Großmütter oder Großväter Mitglieder einer NS-Organisation waren und in welchem Maße sie darin aktiv waren. Zu den Informationen über die Antragstellung geht’s hier.

Des Weiteren kann man die Entnazifizierungsakten seiner Angehörigen erforschen. Der Zugriff auf diese ist jedoch vom Wohnort abhängig. Lebte der Vorfahre in einer amerikanischen Besatzungszone, sei es nach Frie einfacher auf die entsprechenden Fragebögen zuzugreifen. In Norddeutschland gestaltet sich dieser Prozess schwieriger. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich dieser Teil Deutschlands in der britischen Besatzungszone befand. Dort wurden die Fragebögen nicht organisiert und werden oftmals in Großbritannien aufbewahrt.

Martin Ulmer, der Vorsitzende der Geschichtswerkstatt Tübingen e.V., erklärt, dass die Spruchkammerakten für Süd-West-Deutschland in Baden-Württemberg nach Orts-Prinzip aufbewahrt werden. Das Ort-Prinzip bezieht sich immer auf den Ort, wo die Person 1945 gelebt hat. Hat der Angehörige in Tübingen gelebt, werden die Akten beispielsweise im Staatsarchiv Sigmaringen aufbewahrt. Lebte der Vorfahre in Stuttgart, wird man im Staatsarchiv Ludwigsburg fündig. Es gilt immer das Regionalprinzip. Wo die Akten der Vorfahren genau aufbewahrt werden, kann man über das Landesarchiv Baden-Württemberg erfahren. Manchmal gestaltet es sich allerdings als schwierig Infos zu finden. In einem solchen Fall kann man sich an die Geschichtswerkstatt wenden.

Ende des Vortrags

„Meine Geschichte bleibt ebenso wie die Geschichte vieler anderer Deutscher ohne Abschluss. Jede Antwort, die ich finde, wirft neue Fragen auf. Wann immer ich einen Stein umdrehe, finde ich einen Weiteren und damit weitere unaufgedeckte und womöglich nie aufzudeckende Geschichten. Die Bedenken, die bleiben, lassen sich nicht aus der Welt schaffen. Geschichte ist unvollständig, doch es wäre ein Fehler zu glauben, dass diese Eigenschaft der Unvollständigkeit etwas an der Wichtigkeit der Vergangenheitserforschung ändert.“

Mit diesen Worten beendet Roger Frie seinen Vortrag. Er macht deutlich, dass die Verbrechen der Nazis uns oft viel näherstehen als man glaubt. Denn einige unserer Vorfahren sind Teil der gelebten Geschichte geworden. Auch wenn wir Geschehenes nicht rückgängig oder wiedergutmachen können, so ist es dennoch unsere Aufgabe, daran zu erinnern. Wir müssen damit beginnen, nachzuforschen und die Fragen zu stellen, die niemand stellt. Denn ist einem erst einmal bewusst, dass die eigenen Vorfahren in das damalige Geschehen involviert waren, erleben wir die Vergangenheit anders. Uns wird bewusst, dass wir die gelebte Geschichte nicht einfach wie ein Geschichtsbuch zuklappen, ins Regal stellen und hinter uns lassen können. Stattdessen gilt es die Vergangenheit aufzuarbeiten und daran zu erinnern, dass so etwas nie wieder passieren darf.

Beitragsbild: HAZ-Hausschild-Archiv, Historisches Museum Hannover / Wilhelm Hausschild

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert