Politik

Entwicklungspolitische Podiumsdiskussion vor der OB-Wahl

Faire Beschaffung, nachhaltiges Essen und ein Versammlungsort – diese Themen wurden bei der Podiumsdiskussion der OB-Kandidat*innen, die verschiedene Eine-Welt-Gruppen organisiert hatten, besprochen. Heiß diskutiert wurde außerdem über Windräder, die Stadtbahn und Migration.

Obwohl die Wahl zum Oberbürgermeister*zur Oberbürgermeisterin Tübingens noch einen Monat entfernt ist, war das Weltethos-Institut am Abend des 21. September gut gefüllt. Viele Ältere waren anwesend, um die SPD-Kandidatin Sofie Geisel, die Grünen-Kandidatin Ulrike Baumgärtner, den amtierenden Bürgermeister Boris Palmer, den unabhängigen Hicham Hidam und den Die Partei-Kandidaten Markus Vogt diskutieren zu hören. Einen Überblick über die Kandidieren bekommt ihr hier. Organisiert wurde die Veranstaltung, die im Rahmen der „FAIRstrickt“-Aktionswochen stattfand, von verschiedenen Eine-Welt-Gruppen, die auf entwicklungspolitische Themen aufmerksam machen wollten.

Nicht nur ältere Menschen, sondern auch ein paar Studierende hatten sich eingefunden, von denen sich sicher viele fragten: „Worüber sprechen die da überhaupt?“ Wer nicht mit der Tübinger Kommunalpolitik vertraut ist, dürfte schnell mit den Themen überfordert gewesen sein. Zuerst einmal die Frage: Was hat Entwicklungspolitik überhaupt mit Kommunalpolitik zu tun?

Faire Produkte beschaffen

Gar nicht so wenig. Denn die Stadt Tübingen ist Beschafferin von Produkten, und die werden nicht immer alle fair produziert. Wenn die Feuerwehr neue Uniformen braucht, kann die Stadt durch ihre Entscheidungen Einfluss darauf nehmen, ob fair produzierte Kleidungsstücke gekauft werden. Auch Büromaterialien, Schulessen, oder Pflastersteine kauft die Stadt ein. Der Gemeinderat hat bereits einige Beschlüsse gefasst, die beispielsweise vorsehen, dass Produkte aus „gefährdeten Ländern“ ein Fairtrade-Siegel brauchen. Die Organisator*innen hatten sich im Vorhinein Fragen überlegt und diese den Kandidierenden zugesandt. Moderiert wurde die Runde von Nina Alff. Die erste Frage lautete: Was soll getan werden, um den großen Einfluss, den die Stadt Tübingen auf die Rechte der Arbeiternehmer*innen an den Produktionsstandorten im Ausland hat, positiv zu nutzen?

Von links nach rechts: Sofie Geisel (SPD), Dr. Ulrike Baumgärtner (Grüne), Markus Vogt (Die Partei), Moderatorin Nina Alff, Hicham Hidam (unabhängig), Boris Palmer (unabhängig mit ruhender Grünen-Mitgliedschaft).

Als erste antwortete Sofie Geisel (SPD). Sie wies daraufhin, dass die Beschaffung in Tübingen nicht zentral erfolge, was sie für besser so hielt. Die Beschaffenden achteten auf die Wirtschaftlichkeit, was wichtig sei, man müsse aber auch Kriterien der Nachhaltigkeit oder der gerechten Löhne miteinbeziehen. Um das zu erreichen, müsse man bei den Beschaffenden erst einmal ein Bewusstsein schaffen: man müsse sie mitnehmen und zur nachhaltigen Beschaffung qualifizieren. Derzeit erfolge die Beschaffung noch kleinteilig in der Stadt, man könne aber auch mehr mit anderen Städten kooperieren.

Ulrike Baumgärtner (Grüne), die lange im Gemeinderat saß, wies noch einmal auf die Arbeit, die dieser bereits leiste, hin. Es sei wichtig, dass die Beschaffung nachhaltig und sozial gerecht sei, doch gerade im sozialen Bereich mangle es an konkreten Kriterien. Als Oberbürgermeisterin wolle sie daher mit einer Gemeinwohl-Bilanzierung solche schaffen.

Laut Gesetz muss bei einer öffentlichen Vergabe (zum Beispiel bei Bauaufträgen) der wirtschaftlichste Anbieter bevorzugt werden. Baumgärtner erklärte, dass unter „wirtschaftlich“ in der Realität oft „günstig“ verstanden werde, doch Nachhaltigkeit könne bisweilen viel wirtschaftlicher sein.

Sie kam auf das Essen an Schulen zu sprechen, welches ebenfalls nach Nachhaltigkeitskriterien beschafft wird, die aber manche Anbieter von vorne herein ausschließen. Sie schlug stattdessen ein Punktesystem vor, das die Caterer auf einer Liste einordne, sodass man mehr Auswahl habe, weil niemand vollkommen ausgeschlossen würde.

Viele Interessierte hatten sich im Weltethos-Institut eingefunden, um den Kandidat*innen bei der Diskussion zuzuhören.

Markus Vogt (Die Partei) schlug vor, die benötigten Produkte über eBay-Kleinanzeigen zu beschaffen.

Hicham Hidam erklärte, dass man nach Kriterien der Ökologie, Ökonomie und sozialen Verträglichkeit beschaffen müsse. Außerdem müsse man handeln, anstatt immer nur zu reden. Als Oberbürgermeister würde er regelmäßig Berichte veröffentlichen und Kritik annehmen.

Boris Palmer sagte, dass Tübingen bereits auf einem guten Weg sei und diesen fortsetzen müsse. Er – denn letztendlich habe er diesen Beschluss erlassen und nicht der Gemeinderat – habe durchgesetzt, dass faire Produkte gekauft werden müssen, doch Tübingen habe nicht die Freiheiten, die es sich wünsche. Die Grenzen des europäischen Wettbewerbsrechts machten sich bemerkbar, daher müsse man die Spielräume im Recht nutzen. Es gebe auch bereits eine Einkaufsgemeinschaft mit Reutlingen, Metzingen und Rottenburg.

Essen an Schulen: Nachhaltig, regional und lecker?

Die zweite Frage bezog sich darauf, wie der*die nächste Oberbürgermeister*in die Ernährungspolitik kommunal mitgestalten will. Da das Ernährungssystem für 30 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist, ist dieser Bereich für den Klimaschutz entscheidend. Die Stadt hat mit der Entscheidungskraft über die Außer-Haus-Verpflegung einen wichtigen Hebel in der Hand. Es wurde bereits ein Bewertungssystem eingeführt, das den CO2-Ausstoß als Bemessungskriterium verwendet, allerdings wird das Kriterium der Regionalität nicht beachtet. Außerdem stoße dieses neue nachhaltige Angebot auf eine geringe Akzeptanz bei den Schüler*innen.

Amtierender OB Palmer erzählte noch mehr von den bisher getroffenen Maßnahmen. Nachdem die Stadt den Fleischanteil heruntergeschraubt hatte, seien weniger Schüler*innen in die Mensen gekommen, und hätten sich stattdessen bei Imbissen ein Mittagessen geholt. Man habe den Fleischanteil also wieder erhöhen müssen. Derzeit werde außerdem nach dem „Cook and Chill“-Verfahren gekocht. Das bedeutet, dass das Essen zuerst gekocht, dann eingefroren und schließlich für die Schüler*innen wieder aufgewärmt wird. Am Anfang habe Palmer sich gegen dieses Verfahren gesträubt, doch ein Gutachten habe ihm gezeigt, dass es wirtschaftlicher und nachhaltiger sei.

Ein Problem sei, dass es im Moment wenige nachhaltige Anbieter gebe, man könne die Kriterien also nicht noch strenger machen (beispielsweise nur regionales Essen zulassen). Zuerst müsse der Markt sich weiterentwickeln.

Der Koch Hicham Hidam wies auf die Bedeutsamkeit von einem gutem Körper für einen guten Geist hin. Unsere Kinder seien unsere Zukunft, und sie hätten gutes Essen verdient.

Markus Vogt schlug vor, zuerst das Fleisch an allen Schulen zu verbieten, dann gemeinsam den Shitstorm auszuhalten, und schließlich einen „Meat-Day“ einzuführen. „Dann haben wir etwas erlaubt, anstatt verboten.“

Dr. Baumgärtner will mit einer Gemeinwohl-Bilanzierung klarere Kritierien für faire Beschaffung schaffen.

Baumgärtner war der Meinung, dass das Schulessen lecker sein müsse, und in diesem Punkt sei Tübingen kein Vorreiter. Da sie aus dem Allgäu komme, liege es ihr außerdem besonders am Herzen, dass regionale Höfe erhalten würden. In Tübingen gebe es viel Wissen in diesem Bereich, das man nicht verlieren und vergessen dürfe. Die Politikwissenschaftlerin spricht sich gegen eine Bebauung des Saiben, eine der letzten größeren freien Flächen in Tübingen, aus. Diesen will sie lieber für die Landwirtschaft erhalten. Beim Thema Ernährung will sie außerdem die Beteiligung von unten nach oben berücksichtigen, die Kinder in die Frage einbeziehen. Das könnte beispielsweise in Form von „Kocheltern“ oder einem Ehrenamt erfolgen.

Geisel betonte, dass das Essen in der Schule bezahlbar sein müsse, gerade für diejenigen, die weniger verdienten. Es könne passieren, dass man den Bereich Wohnen und den Bereich Essen gegeneinander abwägen müsse, wobei sie Wohnen für das aktuell wichtigere Thema halte. Es sie entscheidend, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig Ernährung fürs Klima sei, und Überzeugungsarbeit zu leisten.Abgesehen davon halte sie es für wichtig, dass die Jugendlichen selbst das Kochen lernten. Weiterhin kritisierte sie Boris Palmer: „Es gefällt mir nicht, dass Herr Palmer sagt: ‘Wir haben schon, und mehr geht nicht.’“

Haus des Engagements

Die letzte Frage bezog sich auf ein Projekt, das verschiedene Organisationen gerne mit Hilfe der Stadt umsetzen würden: Das Haus des Engagements. In der darauffolgenden Diskussion herrschte zeitweise Unklarheit darüber, was man sich unter diesem Haus genau vorstelle. In dem Ankündigungstext zu der Veranstaltung wird es als „gemeinsames Haus, das für Büroräume und Veranstaltungen verschiedener Umwelt-, Eine-Welt- oder migrantischer Vereine genutzt werden kann“ bezeichnet. Die Fragestellerin betonte, wie wichtig ein solcher Ort sein könne, um die unsichtbare Arbeit, die Migrant*innen zum Beispiel im Bereich Pflege, Bildung oder Gastronomie leisteten, sichtbar zu machen.

Hidam erzählte von seinen persönlichen Erfahrungen damit, sich als Migrant alles neu aufzubauen, und sagte, er sei der Fragestellerin dankbar und begrüße die Idee. Später bot er sogar sein eigenes Haus zu diesem Zweck an. Außerdem erlaubte er sich eine Anspielung auf Boris Palmer: „Wir sind alle gleich, und niemand sollte im Internet hetzen. Die polemischen Aussagen sind deutschlandweit bekannt. Tübingen ist eine multikulturelle Stadt und hat einen besseren Ruf verdient.“

Vogt würde „das Ding einfach bauen“. Man könne ja auch einen CDU-Bauern dafür enteignen.

Geisel sprach eines ihrer Haupt-Wahlkampfthemen an: den demografischen Wandel. Um das Problem, dass die älteren Menschen in Rente gingen und zu wenig junge Fachkräfte nachkämen, zu lösen, brauche man Migration. Damit Deutschland ein Zuwanderungsland werde, würde sie eine Willkommensagentur bauen, und unterschiedlichste Willkommensstrukturen schaffen, beispielsweise Sprachkurse.

„Eine Willkommensagentur hat nichts mit der Frage zu tun“, kritisierte Palmer. Es sei leicht, im Wahlkampf Dinge zu versprechen, doch er sage Nein zu dem Haus. Bevor man sich über so etwas Gedanken machen könne, müsse man erst einmal durch den Winter kommen, und den Massenverlust von Arbeitsplätzen verhindern. Während der Corona-Pandemie habe man Nothilfen ausgezahlt, so etwas sei auch jetzt nötig. Dass auch bei ihm Unklarheit darüber herrschte, was es mit dem Haus des Engagements auf sich hatte, zeigte sich daran, dass er äußerte, es sei außerdem nicht seine Vorstellung von Integration, alle Migranten in ein Haus zu stecken.

Boris Palmer blickt mit großem Pessimismus auf den kommenden Winter.

Weltoffenheit und eine Willkommenskultur drückten sich nicht nur in Form eines solchen Hauses aus, sondern auch in Form von Serviceleistungen beim Ankommen, sagte Baumgärtner. Auch Wertschätzung für beispielsweise Mehrsprachigkeit sei essenziell. Sie kritisierte ebenfalls Palmers Äußerungen, die viele als rassistisch wahrnähmen: „Als Kandidatin stehe ich für einen anderen Stil!“ Wegen des Hauses könne man sich Gedanken machen, eventuell fände sich auf dem neuen Europaplatz Platz dafür. Oder man könne sich überlegen, ob die Idee nur in Form eines Hauses, oder auch beispielsweise in Form eines Bauwagens umsetzbar wäre.

Bürger*innenbeteiligung

Im Anschluss wurden Fragen aus dem Publikum zugelassen. Eine Studentin fragte, wie man mehr Beteiligung von Nicht-Deutschen oder Nicht-Akademiker*innen erreichen könne. In den Antworten bezogen sich die Kandidat*innen eher auf generelle Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung. Palmer meinte, Tübingen sei in diesem Bereich bereits Vorbildstadt. Er wisse, es gefalle nicht allen, wenn er das sage, aber eine externe Evaluation habe dies bestätigt.

Baumgärtner erwiderte, es gebe viele Formate, aber die Frage sei, welchen Einfluss sie hätten. Entweder man müsse die Ergebnisse ernst nehmen oder gleich sagen, man beteilige nicht. Sie bezog sich darauf, dass die Bürgerapp ergeben hatte, dass eine Sperrung der Neckarbrücke für Autos nicht gewünscht sei, und Palmer diese trotzdem durchgesetzt hatte.

Geisel stimmte ihr im Grunde zu, indem sie dazu aufrief, nur das zu fragen, was man wirklich wissen wolle, und keine Fragen zu stellen, nur um die eigenen Ansichten bestätigt zu bekommen. Die Volkswirtin betonte aber auch, dass wir in einer parlamentarischen Demokratie lebten, und der Rat am Ende die Entscheidungen treffe.

Sofie Geisel wies wiederholt auf die Bedeutung der Migration im Kampf gegen die Folgen des demografischen Wandels hin.

Palmer verteidigte sich: Das Ergebnis zu der Sperrung der Neckarbrücke sei sehr knapp gewesen (49 zu 51), und in einem solchen Fall gehe die Entscheidung zurück an den Gemeinderat. Da ihm oft vorgeworfen wird, das Ergebnis des Bürgerentscheids zur Stadtbahn nicht ernst zu nehmen, äußerte er sich auch zu diesem Thema noch einmal: Man könne die Stadtbahn nun eben nicht durch die Mühlstraße bauen, man müsse eine andere Strecke finden. An Sofie Geisel gerichtet, die Alternativen zur Stadtbahn prüfen, aber Tübingen trotzdem bis 2030 klimaneutral haben will, sagte er, dass die Stadtbahn im Grunde die einzige Möglichkeit sei, dieses Ziel zu erreichen.

Außerdem gab es noch einen Disput zwischen Palmer und Baumgärtner. Er kritisierte ihre Aussage, dass erneuerbare Energien die Netze destabilisieren könnten. „So etwas von einer Grünen zu hören!“ Sie erwiderte, er solle sich mit verschiedenen Expert*innen austauschen, nicht nur mit denjenigen, die seine Meinung teilten. Sie sei für Windräder, allerdings nur dort, wo Wind wehe und es naturschutzrechtlich keine Bedenken gebe. Außerdem müsse man gemeinsam vorgehen und die Menschen mitnehmen, anstatt Alleingänge bei Markus Lanz hinzulegen.

Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden

Zum Abschluss fragte Nina Alff, wie Tübingen besser mit dem Globalen Süden zusammenarbeiten könne.

Palmer antwortete, dass es bereits eine gute Zusammenarbeit gebe, die er schon vor Jahren initiiert habe. In Tansania bauten die Stadtwerke eine Anlage für erneuerbare Energien. Die Kosten für den Bau seien in wenigen Jahren durch den Strom wieder rein geholt.

Laut Baumgärtner könne man von anderen Ländern den Umgang mit den Konsequenzen des Klimawandels lernen. Tübingen sei von den dramatischen Folgen der Klimakrise nicht ausgenommen, und sie setze sich für einen besseren Umgang mit diesen ein. Im Klimaschutzprogramm der Stadt Tübingen werde dieses Problem praktisch gar nicht angesprochen.

Vogt lobte den Pessimismus Palmers in Bezug auf den Winter. Allerdings hätte man ja auch schon früher etwas gegen die schlimme Situation tun können, wie beispielsweise die Mieten zu senken.

Auch Geisel sagte, es sei zwar eine ernste Lage, doch man müsse nach vorne schauen. „Dass ein Sturm aufzieht, heißt nicht, dass man den Steuermann nicht wechseln kann.“ Der Klimawandel sei die große Aufgabe der letzten zwanzig Jahre gewesen, nun folge der demografische Wandel. Daher wolle sie Deutschland zum Zuwanderungsland machen. Eine entscheidende Hilfe für Menschen im Globalen Süden seien die Gelder, die ihnen ihre Verwandten, die nach Deutschland migriert seien, schickten. So trügen gute Löhne in Deutschland maßgeblich zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen im Globalen Süden bei.

Fotos: Hannah Burckhardt

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1 Kommentar

  1. Joshi Flugtier sagt:

    sehr toller Artikel, der alles verständlich zusammenfasst!

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