In Tübingen ist die Diskussion um Windkraft neu entfacht worden – und unter den Suchstandorten sind Waldstandorte in Rammert und Schönbuch. Doch was sind wir bereit, für Klimaneutralität zu opfern und was nicht? Und aus welchen klimapolitischen, naturschutzfachlichen und technisch-wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist es sinnvoll oder auch nicht, Windräder auf Tübinger Gemarkung und insbesondere im Wald zu errichten? Unsere Redakteurin hat sich umgehört und fasst für euch zusammen.
Update: 21.01.2022, 12:30Uhr
„Wenn alle die Windräder woanders haben wollen, wird es nicht aufgehen.“
Wir stecken mitten im 6. Artensterben. Aber kein Meteorit, keine Eiszeit ist dafür verantwortlich, sondern wir Menschen. Gleichzeitig verändert sich das Klima unseres Planeten mit einer erschreckenden Geschwindigkeit. Der Umstieg von fossilen Energieträgern auf die Erneuerbaren Energien ist zweifelsohne ein wichtiger Baustein, um die Klimaerwärmung nicht weiter voranzutreiben. Nichtsdestotrotz ergeben sich vor allem beim Bau von Windenergieanlagen im Wald Konflikte zwischen Arten- und Klimaschutz – und nicht wenige Naturschützer*innen stehen dem Bau von Windrädern im Wald daher kritisch gegenüber.
Im Klimaschutzprogramm 2020 bis 2030 „Tübingen klimaneutral 2030“ ist unter anderem eine Maßnahme aufgeführt mit dem Ziel, den Ausbau der EE-Nutzung bei den Stadtwerken voranzutreiben. Bisher sind alle Wind-Standorte der Stadtwerke außerhalb Tübingens, doch laut Boris Palmer werde es nicht aufgehen, wenn alle die Windräder woanders haben wollen. Um die angestrebte Klimaneutralität zu erreichen, müssen wir laut dem Grünen-Politiker die Stromerzeugung aus erneuerbarer Energie in Tübingen mindestens verzehnfachen. Dafür seien Windräder wegen ihrer großen Leistung unverzichtbar – es sollen 10 Anlagen mit insgesamt 60 MW ans Netz gehen. Es fehle aber vor allem an Standorten für Windkraft. Wer Standorte auf eigener Markung bereit stelle, ermögliche unmittelbar mehr Stromerzeugung aus Wind. „Ohne Windkraft können wir Klimaneutralität nicht erreichen. Aber die Windkraft selbst macht nur 5% des CO2-Vermeidungspotenzials aller Maßnahmen im Klimaschutzprogramm aus“, so der OB.
Windräder als Tübingens Beitrag zur Klimagerechtigkeit?
Auch die FFF-Ortgruppe Tübingen hält die „Not in my Backyard“-Haltung, die den Ausbau der Erneuerbaren Energien blockiert, für problematisch. Daher befürworten sie das Vorhaben, Windräder auf Tübinger Gemarkung zu errichten. Bereits in ihren kommunalen Forderungen von 2020 ist der schnelle Ausbau der Erneuerbaren Energien in Tübingen als wichtiger Schritt zur Klimaneutralität festgehalten. Denn „mit der Errichtung von Windrädern lässt man andere Ressourcen, wie eben Kohle oder auch Gas und Öl, im Boden“.
Die Klimabewegung verspricht sich viele Vorteile davon, vor Ort Windräder zu errichten – z.B. können „schon wenige Windräder einen großen Teil des Tübinger Energiebedarfs decken“. Zudem würden wir durch die Errichtung von Windkraft saisonal unabhängiger werden. Gerade im Herbst und Winter wehe viel Wind. Diese Windenergie könne den steigenden Energiebedarf in der dunklen Zeit des Jahres decken. „Je mehr wir selbst produzieren, desto unabhängiger sind wir und desto größer wird unser Beitrag zur Klimagerechtigkeit“, betonen die Klimaaktivist*innen. „Natürlich gibt es Standorte, die für Windräder besser geeignet sind. Doch der Ausbau der Erneuerbaren Energien geht viel zu langsam voran. Langfristig gesehen werden wir auf jedes Windrad angewiesen sein“.
Laut der FFF-Ortgruppe sollte man Natur- und Klimaschutz im Kontext der Energiewende nicht gegeneinander ausspielen. „Natürlich ist es nie gut, wenn Bäume für Windräder gefällt werden müssen, jedoch muss man immer abwägen, was man dadurch gewinnt“. Anstatt gegen Windräder im Wald sollte man ihrer Ansicht nach vor allem gegen das Abholzen von Wäldern und die Zerstörung von Ökosystemen für klimaschädliche Projekte – wie etwa den Ausbau von Straßen – kämpfen.
Für die Windenergieanlagen stehen drei Suchstandorte im Raum – auf der Pfrondorfer Höhe im Schönbuch, beim Kressbach im Rammert und an der B28 Richtung Reutlingen, an der Gemarkungsgrenze zu Kusterdingen.
Der Gemeinderat stehe nach Palmer „voll und ganz hinter diesen Planungen“, die betroffenen Ortschaftsräte hätten sich nicht dagegen ausgesprochen. „Die Umfragen in der Stadt zeigen, dass eine solide Mehrheit von über 60% den Ausbau der Windkraft in Tübingen befürwortet“, führt Palmer aus.
„Wenn wir intakte Wald-Ökosysteme haben, sagt der NABU mehrheitlich ‚Nein‘ zu Palmers Vorhaben.“
Hier ist allerdings die Frage, ob die Umfragen genauso ausfallen würden, wenn explizit genannt würde, was auf dem Spiel steht. Der Vorsitzende des Naturschutzbunds (NABU) Tübingen, Andreas Wöhrmann, hat den Eindruck, dass viele Tübinger*innen „Ja“ zur Klimaneutralität sagen, die Windräder als einen wichtigen Baustein anerkennen und dennoch ihren Bau ablehnen würden, wenn es im Wald ist. „Wenn man differenziert nachfragen würde, würde sich das Bild ändern“, sagt er. Es sei hier keine gute Aufklärung erfolgt, weshalb man die Zustimmung der Bürger*innen ganz schwer einschätzen könne.
Tatsächlich ist es in Deutschland laut einer Umfrage der Agentur für Erneuerbare Energien sehr umstritten, Windenergieanlagen im Wald zu errichten. So hält dies etwa ein Drittel der Befragten für sinnvoll, über die Hälfte hingegen nicht. Auch innerhalb des NABUs werde derzeit diskutiert, ob sie sich mehr für den Artenschutz oder für die Windkraft einsetzen sollen. „Es gibt Stimmen, die sagen, wir bräuchten Windkraft auf jeden Fall. Es gibt aber auch sehr viele Stimmen, die sagen, auf keinen Fall im Wald“, erzählt der NABU-Vorsitzende. Im Großen und Ganzen sei die Mehrheit der NABU-Mitglieder für Windkraft, aber nicht in intakten Wald-Ökosystemen. „In Thüringen gibt es z.B. Gebiete, das sind seit den extremen Trockenjahren keine Wälder mehr, sondern nur noch Flächen mit Baumleichen, riesige Hänge von totem Wald. Hier könnte man ohne größere Bedenken Windräder errichten und drumherum aufforsten“.
Die Wälder in Baden-Württemberg, so auch Rammert und Schönbuch, haben ebenfalls mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen. Sie sind als relativ alte Mischwälder, allerdings deutlich stabiler als etwa die Fichtenwälder in Thüringen. Auch sind sie als Lebensraum für verschiedene Tierarten von großer Bedeutung. „Der Schönbuch als wichtiges Biotop für Fledermäuse wird im Hinblick auf die Windkraft wahrscheinlich von den Stadtwerken ausgeklammert“, sagt Wöhrmann. Denn vor der Errichtung einer Windkraftanlage muss immer geprüft werden, ob der Bau und Betrieb die lokalen Vorkommen von geschützten Tierarten erheblich beeinträchtigen kann. Besondere Bedeutung haben hierbei Tierarten, für die wissenschaftliche Studien eine besondere Sensibilität gegenüber Windkraftanlagen gezeigt haben. Darunter fallen etwa Fledermäuse, der Schwarzstorch, sowie verschiedene Greifvögel wie der Rotmilan. Während Fledermäuse durch Druckunterschiede ein Barotrauma erleiden, bei dem kleine Blutgefäße an und in der Lunge platzen, kommen Greifvögel durch Kollisionen mit den Rotorblättern zu Tode.
Wöhrmann berichtet, dass es nach den bisher vorliegenden Karten für den Rammert relativ wenige Konflikte mit dem Naturschutz gebe, das heißt vergleichsweise wenige windkraftsensible Vogelarten. „Das sind aber alte Karten, weshalb wir vom NABU Tübingen ein selbst finanziertes ornithologisches Gutachten für den Rammert in Auftrag gegeben haben“, erzählt er.
Der Rotmilan – im Zentrum des Konflikts zwischen Arten- und Klimaschutz
Die Ergebnisse des ornithologischen Gutachtens sind sehr gut – schlecht sieht es aber aus für die Windkraft. Nicht wenige Vogelarten, die durch Windräder besonders gefährdet sind, leben, jagen und brüten im Rammert. Darunter der Schwarzmilan, Wespenbussard, Schwarzstorch und nicht zuletzt der Rotmilan. „Rotmilane kommen überproportional häufig an Windkraftanlagen zu Tode, und zwar so oft, dass dies einen fortlaufenden Rückgang der Brutbestände bewirken kann“, erklärt Nils Anthes, der als Biologe mit dem Schwerpunkt Ornithologie (Vogelkunde) an der Universität Tübingen tätig ist. Der Rotmilan rücke aber nicht nur aus diesem Grund besonders in den Fokus des Konflikts zwischen Windkraft und Artenschutz. Laut dem Wissenschaftler ist der Greifvogel in Baden-Württemberg weit verbreitet und spielt somit bei der artenschutzrechtlichen Einschätzung von fast jeder Windkraft-Planung eine Rolle. „Etwa 60 % des weltweiten Bestandes dieser Art leben in Deutschland – für keine andere Vogelart hat unser Land eine annähernd vergleichbar hohe Verantwortung, deren Überleben zu sichern.“
So heißt es auch im Bericht zum ornithologischen Gutachten vom Nabu, dass „[beim] Betrieb einer oder mehrerer Windenergieanlagen [im Rammert] von einem signifikant erhöhten Tötungsrisiko für den Rotmilan auszugehen ist“. Die Genehmigung von Windenergieanlagen im Rammert wäre erheblich erschwert, da nach den Ergebnissen des Gutachtens die Kriterien für ein Rotmilan-Dichtezentrum (mindestens 7 Reviere in einem Abstand von 3.300 m) erfüllt sind. „Wenn naturschutzfachliche Untersuchungen zeigen, dass berechtigte Gründe gegen die Errichtung von Windrädern sprechen, wird der NABU dafür kämpfen, dass es nicht dazu kommt“, sagt Wöhrmann dazu.
Tatsächlich trifft man in der Politik oft auf den Konsens, dass es nicht verantwortlich sei, Windräder nur wegen dem einen Rotmilanpaar nicht zu bauen. Doch laut Andreas Wöhrmann gehe es nicht um das eine Paar – „das Schicksal der Menschheit wird nicht am Rotmilan hängen“. Als Indikatorart zeigt er jedoch, dass das Ökosystem dort, wo er lebt, intakt ist. Das gleiche gilt für das Vorkommen des Schwarzstorches im Rammert, da dieser gegenüber Eingriffen in das Ökosystem sehr empfindlich ist.
Kartenhaus Ökosystem
Eine Studie aus dem Westghats-Gebirge in Indien hat gezeigt, welche Kaskadeneffekte durch das Errichten von Windrädern in Gang kommen und Ökosysteme nachhaltig verändern. So kamen dort drei Viertel aller Greifvögel durch Kollisionen mit Windrädern zu Tode, was wiederum Auswirkungen auf die Population der Beutetiere, eine Eidechsenart, hatte. Das Einbringen einer trophischen Stufe an der Spitze der Nahrungskette – Windräder, die Greifvögel dezimieren – hat Effekte, die sich durch die ganze Nahrungskette ziehen. Die Studie zeigt somit, wie komplex und unvorhersagbar die Auswirkungen von Eingriffen in Ökosysteme sein können und dass selbst auf den ersten Blick nicht beeinflusste Arten davon betroffen sind.
Doch warum sollten wir Arten überhaupt schützen? Denn wen kümmert es, wenn es nun eine Greifvogelart mehr oder weniger auf der Erde gibt?
Man kann sich die Arten wie Bausteine für ein Bauwerk, das Ökosystem, vorstellen. Je mehr Arten das Gebäude tragen, desto stabiler steht es. Entfernt man nun Arten aus dem System, so kann es sein, dass unter Umständen das ganze System in sich einstürzt. Je komplexer das System ist, desto besser – und vor allem stabiler ist es im Kontext des Klimawandels. Artenvielfalt stabilisiert also Ökosysteme. Und nicht zuletzt ist „ein funktionierender Naturhaushalt mit einer großen Artenvielfalt eine wesentliche Grundlage für die Produktivität in Land- und Forstwirtschaft“, wie es der Wissenschaftler Nils Anthes formuliert.
„Wir brauchen Klimaschutz, aber wir dürfen dadurch nicht die Ökosysteme schwächen!“
Auch Andreas Wöhrmann findet den Artenschutz für das Fortbestehen der Menschheit genauso wichtig wie den Klimaschutz. „Gerade im Hinblick auf die Klimaerwärmung brauchen wir stabile Ökosysteme, welche diese Änderungen mitgehen – wie zum Beispiel ein toller Mischwald mit vielen verschiedenen Pflanzen und Tieren“, bekräftigt Wöhrmann. Es werden Baumarten aussterben, andere werden sich verstärkt ausbreiten, aber in der Verschiebung bleibt dieses Ökosystem auf Grundlage einer großen Artenvielfalt stabil. „Wir brauchen Klimaschutz, aber wir dürfen dadurch nicht die Ökosysteme schwächen!“, betont der NABU-Vorsitzende. Der Ornithologe Anthes sieht das ähnlich: „Man sollte nicht den Fehler machen, für den endlich – und viel zu spät – in Gang kommenden Klimaschutz quasi per politischem Handstreich den Artenschutz auszuhebeln“. Seiner Ansicht nach sollten Artenschutzbelange bei der Auswahl von Standorten für regenerative Energiequellen wie Windkraftanlagen oder Freiflächen-Photovoltaik-Anlagen einen ebenso hohen Stellenwert erhalten wie bei sonstigen Eingriffen in Natur und Landschaft.
Windräder verändern das Mikroklima und können Waldgebiete als Lebensraum entwerten.
Nach Boris Palmer benötigen Windräder lokal eine Lichtung, was für den Wald als Ökosystem jedoch unproblematisch sei. Wöhrmann und Anthes sehen die Eingriffe in den Wald durch das Bauen von Windrädern jedoch als tiefgreifender an. Der NABU-Vorsitzende verweist auf eine Studie aus den USA, die eine Veränderung des Mikroklimas durch Windparks aufgezeigt hat. So bewirken die Windräder eine Luftvermischung, wodurch die Oberflächentemperaturen am Boden nachts um 0,5 – 1°C erhöht werden, während die Luftschichten über der Turbine abkühlen. Wöhrmann befürchtet, dass dadurch das typische Wald-Mikroklima, das sich z.B. in der kühlenden Wirkung der Wälder im Sommer zeigt, beeinträchtigt wird. Dies könnte die Wälder insbesondere im Hinblick auf den Klimawandel zusätzlich stressen.
Zudem bedeutet die Errichtung von Windrädern immer einen Eingriff in den Lebensraum – Vögel, Fledermäuse, aber auch Insekten sind direkt betroffen. Laut Nils Anthes ist die Gefahr von Windrädern für Insekten in ihrer Größenordnung bislang unzureichend bekannt. Die Errichtung von Windenergieanlagen könne zudem große Waldgebiete als Lebensraum entwerten. „Es wurde bereits gezeigt, dass einige Tierarten – etwa die Waldschnepfe – eine großräumige Meidung von Windkraftanlagen zeigen“, erklärt der Vogelkundler.
Vereinbarkeit von Klima- und Artenschutz?
Einen zielführenden Ansatz, um Zielkonflikte zwischen Windenergienutzung und Artenschutz zu lösen, sieht Anthes in automatischen Abschalteinrichtungen. Sie seien eine absolut notwendige Ergänzung bestehender Windkraftsysteme. Allerdings herrsche ein großer Mangel an fundierten Daten, unter welchen Bedingungen eine Abschaltung zielführend sei. „Bisherige Studien zeigen, wie schwierig es ist, zuverlässig anhand der Witterungsverhältnisse vorherzusagen, wann genau das Kollisionsrisikio für Fledermäuse oder Vögel besonders hoch ist und die Anlagen vorübergehend abzuschalten“. Wöhrmann sieht solche Abschalteinrichtungen ebenfalls als wichtige Maßnahme an, um Klima- und Artenschutz miteinander in Einklang zu bringen. In Starkwindgebieten mache es auf jeden Fall Sinn. Aus Gesichtspunkten der Effizienz in Tübingen sei es aber keine praktikable Lösung, da hier sowieso vergleichsweise wenig Wind weht. Wenn die Windräder aus Artenschutzgründen von Zeit zu Zeit stehen, lohnt es sich gar nicht mehr und man hat unnötigerweise im Deckmantel der Klimaneutralität ein intaktes Waldökosystem gestört. „Was man definitiv nicht machen sollte, ist, Windräder in einen intakten Wald zu bauen. Das ist so hirnrissig, da fällt einem nichts mehr ein…“, ärgert sich der NABU-Vorsitzende. Letzten Endes würden für die 10 angedachten Windräder inklusive der Zufahrtswege 4-5 Hektar Wald gerodet. „Der Höhenzug des Rammerts wäre als Wald nicht mehr wiederzuerkennen.“
Und das alles für das Tübinger Klimaschutzprogramm…
Dr. Martin Schmieg, der als Experte für die Stabilität von Stromnetzen international tätig ist und im Hinblick auf die Netzintegration von Erneuerbaren Energien die Bundesregierung und die Bundesnetzagentur berät, sieht die Installation von Windenergieanlagen auf Tübinger Gemarkung ebenfalls kritisch. Schmieg, Gründer und Beiratsvorsitzender der DIgSILENT GmbH in Gomaringen, kennt sich besonders gut mit den technischen und wirtschaftlichen Aspekten von Stromnetzen aus. Auch er gibt zu bedenken, dass viel Wald verloren gehen könne, sobald man in den Staatswald gehe. Denn gerade dort können die Erschließungswege relativ aufwendig sein. Es sei zwar schwierig, eine allgemeine Angabe zum Flächenverbrauch von Windrädern zu machen, aber pro Windrad könne man mit einem Flächenverbrauch von einem Hektar ohne Zufahrts- und Rangierwege rechnen.
„Eine reine Schönrechnerei!“
Martin Schmieg bezweifelt vor allem die Wirtschaftlichkeit der Klimaschutzmaßnahme, Windräder auf der Tübinger Gemarkung zu errichten. „Die Windräder in Tübingen würden oft stehen und grundsätzlich zu wenig Energie erzeugen. Das heißt, wenn wir in Tübingen Windkraft installieren, müssen wir trotzdem zusätzliche Energieerzeugung an anderer Stelle installieren. Der Leistungskredit von Windrädern in Tübingen ist null“, erklärt der Kybernetiker. Auf ganz Deutschland gerechnet beträgt der Leistungskredit der Windkraft deutlich weniger als 10 %. Ein Leistungskredit von null heißt, dass Tübinger Windräder die Deckung der Grundlast, also der andauernd benötigten Energie, nicht gewährleisten und daher nicht zum Ersatz konventioneller Kraftwerke beitragen können. Schließlich ist Tübingen ein Schwachwindgebiet. “In Flautezeiten muss man den Tübinger*innen nach wie vor Strom aus konventioneller Energieerzeugung liefern, selbst wenn ein Teil der Bürger*innen rein bilanziell vom Windrad versorgt wird”, erläutert Schmieg.
„Das Vorhaben der Tübinger, 2030 klimaneutral zu werden, geht davon aus, dass alle technischen Lösungen umgesetzt sind und man keine konventionelle Stromerzeugung mehr braucht. Das ist eine reine Schönrechnerei“. Laut dem Unternehmer brauchen wir im Moment noch eine Dopplung der Energieerzeugungsanlagen. Parallel zu Windkraft oder Solaranlagen seien wir immer noch auf konventionelle Energie angewiesen, wenn die Sonne nicht scheine oder der Wind nicht wehe. „Erst dann, wenn wir Energie aus Wind- und PV-Anlagen speichern und wiederverstromen können, beträgt der Leistungskredit 100% und erst dann haben wir Klimaneutralität im Stromsektor erreicht“. Der einzige zukünftige Langzeitspeicher für Strom ist im Moment Wasserstoff. Doch der Wirkungsgrad ist sehr schlecht – das bedeutet, dass wir das Zwei- bis Dreifache der Energie erzeugen müssen, um bei der Rückverstromung den benötigten Ertrag rauszubekommen.
Stromnetzausbau als wichtiger Beitrag zur Klimaneutralität
Einen wesentlichen Beitrag zur angestrebten Klimaneutralität leistet laut Schmieg der Ausbau der Energienetze. Das Europäisches Verbundnetz reicht von Portugal über Spanien bis zur Türkei, auch einige nordafrikanische Länder sind angeschlossen. Der große Vorteil hiervon ist, dass die Ertrag- und Lastsituationen nicht immer zeitgleich sind. Die Netze sind also essenziell, um Leistungsüberschuss oder Unterdeckung aus Wind- und PV-Erzeugung besser zu verteilen. Die Verteilung von Strom im Europäischen Verbundnetz leistet einen wichtigen Beitrag dazu, weniger speichern zu müssen. Dies sei günstiger als mehr zu erzeugen und mithilfe von Wasserstoff zwischenzuspeichern. Die Verluste durch den Transport seien mit 5-10% relativ gering. „Wenn wir Windstrom aus Norddeutschland importieren, ist das eine deutlich günstigere Lösung, als wenn wir auf schlechten Standorten wie in Tübingen Windstrom erzeugen – das ist nur etwas, was die Stromkosten erhöht“, so Schmieg. „Ich halte es überhaupt gar nicht für wirtschaftlich sinnvoll, rund um Tübingen WEA zu errichten“, fährt er fort. „Man kann eine effiziente Energieversorgung nur auf nationaler und internationaler Skala denken, eine Tübinger Betrachtung macht keinen Sinn“. Schließlich ist Tübingen nicht Energie-autark, sondern eingebunden in das deutsche und Europäische Verbundsystem, in dem sich die Energiewende abspielt.
„Klimaneutralität auf dieser Basis hinzurechnen, das ist dreist!“
„Ich bin sehr dafür, Windparks in Baden-Württemberg zu bauen, an Standorten, die einen entsprechenden Ertrag erwarten lassen. Die Sache ist die, dass alles, was keinen guten Ertrag bringt, den Strom unnötig teuer macht“, betont Martin Schmieg. Zudem müsse es immer ein Grundniveau an konventionellen Kraftwerken geben. Wenn Gasturbinen oder Blockheizkraftwerke zukünftig auch mit Wasserstoff befeuert werden können, sind das grundlastfähige, klimaneutrale Einheiten. Bis 2030 erreichen wir in dieser Hinsicht aber viel zu wenig – das sei eine kindische Zielvorstellung. „Mir fehlt im Tübinger Ansatz generell die Ernsthaftigkeit“, ärgert er sich. Es sei eine reine Kompensationsrechnung. „Man nimmt die Überproduktion der Windräder und PV-Anlagen, schiebt sie ins Netz raus und saldiert sich diese aber wieder in die Bilanz rein, wenn zu wenig Wind- oder PV-Strom erzeugt wird. Wo dann der EE-Überschussstrom aus Tübinger Anlagen verbraucht wird, wird er nochmal gezählt. Dann hat man das mindestens zweimal gerechnet!“.
Windräder im Wald und SUVs in Tübingen
Nach Schmiegs Auffassung besagt der Tübinger Ansatz prinzipiell, dass wir durch die Tübinger Wind- und PV-Anlagen, die in ganz Deutschland stehen, so und so viel CO2 vermieden haben, und damit zum Beispiel das, was wir durch unseren Lebensstil an CO2 erzeugen, kompensieren. „Zugespitzt gesagt habe ich durch meine PV-Anlage zum Beispiel 100 kg CO2 vermieden, deshalb kann ich ja jetzt 200 km mit meinem SUV fahren“. Die reine Kompensation von CO2 bringt uns langfristig nicht weiter – stattdessen frönen wir weiter unserer klimaschädlichen Lebens- und Wirtschaftsweise. Laut Schmieg ist Tübingen nach dieser Kompensationsrechnung 2030 klimaneutral – wenn man dann aber durch Tübingen spaziert, fahren dort immer noch SUVs auf den Straßen. „Klimaneutralität auf dieser Basis hinzurechnen, das ist dreist!“, sagt der Kybernetiker. Es gehe darum zu verstehen, dass Wind- und PV-Anlagen (nahezu) CO2 emissionsfrei sind, mehr ließe sich aber rechnerisch damit nicht anstellen. Das Klimapaket wurde zwar von allen Parteien verabschiedet, die meisten im Stadtrat haben beim Entschluss nach Schmiegs Einschätzung jedoch nicht begriffen, was genau sie da beschließen. „Ich werde mir sicherlich die Tübinger Aktionen noch ein paar Jahre anschauen. Aber wenn sich nichts ändert, werde ich gerade vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29.4.2021, dass die Energiewende mit konkreten Maßnahmen ab 2031 zu gestalten ist, Tübingen wegen fehlender Nachhaltigkeit seiner Maßnahmen zur Klimaneutralität verklagen, denn die Stadt Tübingen tue so, als ob sie mit der Klimaneutralität 2030 durch ist.” Klimaneutralität darf jedoch, wie es auch die FFF-Aktivist*innen formulieren, weder errechnet noch erkauft werden, sondern muss in erster Linie durch tatsächliches Einsparen von Emissionen erreicht werden.
Fest steht zumindest eines – die Frage, wie wir Klimaneutralität erreichen und gleichzeitig dem Artenschutz gerecht werden, ist hochaktuell und es gibt keine eindeutigen Antworten darauf. Das Thema ist sehr komplex und facettenreich. Deshalb erhebt dieser Artikel auch keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern kann lediglich einen kleinen Ausschnitt der verschiedenen Positionen aufzeigen. Die Personen aus dem Naturschutz, der Wissenschaft, der Klimapolitik und der Technik, die zu Wort gekommen sind, bilden längst nicht das gesamte Spektrum an Meinungen ab, die es zur Debatte um die Windenergie gibt. Wichtig ist, dass man bei alledem respektvoll miteinander im Gespräch bleibt und versucht, im Dialog gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten – Klima- und Artenschutz geht uns ja schließlich alle etwas an!
Erwähnte Studien zu Windkraft:
Rotmilan & Windkraft: https://www.nabu.de/imperia/md/content/nabude/vogelschutz/1910154-nabu-der-falke-zu-rotmilan-und-windenergie.pdf
Auswirkungen auf Ökosysteme: https://www.nature.com/articles/s41559-018-0707-z#Abs1
Auswirkung auf Mikroklima: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S254243511830446X
Titelbild: Marie Geisbusch
Foto Rotmilan: Marie Geisbusch
Fotos Wald: Marie Geisbusch
Leider stimmen da sehr viele Aussagen nicht mit dem Klimaschutzprogramm von Tübingen überein. Das Öl (dafür will Tübingen sogar eine Austauschpflicht einführen, wenn die Stadt dazu die Kompetenz bekommt) und Erdgas ersetzt werden sollen, findet sich z. B. als eigene Punkte im Programm: oder das es viel mehr Windkraft braucht, um perspektivisch Synthesegase (wie grünen Wasserstoff oder snthese-Methan) erstellen zu können. Das Programm findet sich hier zum nachlesen https://www.tuebingen.de/Dateien/broschuere_klimaschutzprogramm.pdf
OMG. Was für ein durch und durch von der NIMBY-Ideolgie durchzogener Artikel. Da werden Studien aus den USA bemüht, aber die Studien aus der Nachbar-Hochschule Rottenburg zur Zukunft oder besser gesagt Nicht-Zukunft angesichts des Klimawandels des heimischen Waldes wird kein Wort verloren. Und dann diese Sätze aus dem klassischen Portfolie der Windkraftverhinderer wie “sind wir immer noch auf konventionelle Energie angewiesen, wenn die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht.” Glaubt den wirklich noch jemand, das es für dieses Problem nicht schon längst Lösungen gibt, nennt sich Lastmanagement, Lademanagement, Power-to-Grid, Power-to-Gas, Batteriespeicher. Und zudem braucht es eben genau deshalb auch die Windkraft hier, denn Photovoltaik und Windkraft gleichen sich sehr gut aus, so dass bei Kombination der Ausgleich weniger aufwändig und damit für den Stromkunden weniger treuer ist. Und dann auch wieder so Aussagen wie ” Schlechte Wind-Standorte führen zu höheren Strompreisen”, die nicht stimmen, den Strompreis macht das EEG und wer Strom zu teuer produziert, fällt bei der EEG-Vergabe raus. So simpel ist das. Oder auch Aussagen wie “Das Europäisches Verbundnetz reicht von Portugal über Spanien bis zur Türkei, auch einige nordafrikanische Länder sind angeschlossen.” sollen uns wohl sagen, dass doch die Windräder besser in der Türkei gebaut werden sollen, wo es keine Umwelt- und Naturschutzauflagen gibt, aber Hauptsache nicht bei uns, wo man 100.000ende Euros für Umwelt- und Naturschutzgutachten ausgeben muss, um dann eventuell eine Baugenehmigung zu bekommen. Und solange wir den Deal mit Erdogan und der Türkei nicht hinbekommen, lassen wir einfach weiter den Menschen in NRW den Hambacher Forst und die Dörfer wegbaggern für den so natur- und umweltfreundlichen Kohlestrom.