Vierzig tote Studierende. Getötet im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihre Fotos und Geschichten, die stellvertretend für eine weitaus höhere Zahl ukrainischer Kriegsopfer stehen, sind in der Ausstellung „Unissued Diplomas“ im Foyer der Universitätsbibliothek zu sehen.
„Wir sind am Leben, wir sind sicher, wir sind hier in Deutschland an einer schönen Uni mit vielen Möglichkeiten.“ Was die ukrainische Studentin Anna Bordunova sagt, mag in den Ohren deutscher Studierender recht banal und selbstverständlich klingen. Doch spätestens beim Besuch der Tübinger Ausstellung „Unissued Diplomas. Studentische Kriegsopfer in der Ukraine“ wird klar, dass von Banalität keine Rede sein kann: Aktuell sind im Foyer des Hauptgebäudes der Universitätsbibliothek die Geschichten von vierzig ukrainischen Studierenden zu sehen, die nicht das Glück eines Studiums in Sicherheit hatten: „Diese Studenten werden die Diplome nicht bekommen, nie bekommen, weil die tot sind“, so Anna. Alle vierzig gezeigten Personen seien infolge von Putins Angriffskrieg in der Ukraine getötet worden, entweder an der Front oder durch russische Angriffe auf Wohnhäuser, Brücken und Autos.
Postume Abschlusszeugnisse für den Mut der Studierenden
Bei der Eröffnung am Dienstag im Historischen Lesesaal erzählten ukrainische Studentinnen ihre persönlichen Geschichten. Als Moderatorin fungierte Alexa von Winning, die stellvertretende Direktorin des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde; dieses organisierte die Ausstellung unter anderem gemeinsam mit dem „Ukrainischen Verein Tübingen“ und der Freiwilligenorganisation „SonnenBlau“. Die Historikerin von Winning betonte, dass die vierzig Getöteten, deren Biografien im Foyer präsentiert werden, stellvertretend für viele ukrainische Studierende stünden. „Keine zwei Flugstunden von hier entfernt“ herrsche ein Krieg, der „einen dunklen Schatten“ auf junge Menschen werfe. Deren ausgelöschte Zukunft vergegenwärtige die Ausstellung „Unissued Diplomas“, die nach Angaben des Projekts bereits über einhundertmal weltweit gezeigt wurde – so zum Beispiel in Heidelberg, Köln, Amsterdam, Warschau, Madrid, New York und sogar in Abu Dhabi. Den Getöteten werde auf diese Weise ein postumes Abschlusszeugnis für ihren Mut verliehen, sagte von Winning.
Die erste Rednerin an diesem Abend war Olga Garaschuk, die Vorsitzende des Ukrainischen Vereins Tübingens. In ihrem Grußwort warf sie vor allem zwei Fragen auf: Was würden die getöteten Studierenden heute machen? Und: Hätten wir etwas gegen ihre Tötung tun können?
„Er hätte neben dir sitzen können in einer Vorlesung über Landeskunde oder in einem Amerikanistik-Tutorium. Aber Russland hat ihn getötet.“
Marichka Nadverniuk (Initiatorin der Ausstellung)
Die Initiative für die Ausstellung ging von Marichka Nadverniuk aus, die aus der Ukraine stammt und nun in Tübingen Computerlinguistik studiert. Eines der vierzig Fotos sei von ihr selbst aufgenommen worden, betonte die Studentin. Es zeige ihren Freund Dmytro Yevdokymov, der Nadverniuk zufolge mit nur 23 Jahren bei Kämpfen in der Region Charkiw getötet wurde. Marichka beschrieb den Studenten als einen jungen Mann, der sich für das Schreiben und Lesen begeisterte und eine Vorliebe für leidenschaftliche Diskussionen zeigte. „Er hätte neben dir sitzen können in einer Vorlesung über Landeskunde oder in einem Amerikanistik-Tutorium. Aber Russland hat ihn getötet.“ Ebenfalls einer ihrer Freunde sei Semen Oblomei gewesen; zwölf Tage nach der Hochzeit mit seiner Freundin Vira sei der 22-Jährige gestorben.
Mit Blick auf die Thematisierung von Tod, Waffen und Krieg stellte Marichka klar: Sie wünschte, es hätte diese Ausstellung nie geben müssen. Nun hoffe die Studentin, dass das Andenken an die getöteten ukrainischen Studierenden für immer in Ehren gehalten werde. Marichka schloss mit einem emotionalen Appell ans Publikum, selbst die Stimme der Kriegsopfer zu sein und zu handeln.
Was es heißt, im Krieg zu studieren
Als Dritte trat Anna Bordunova, Physikstudentin aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, ans Mikrofon. Der Fokus ihrer Rede lag auf den tiefgreifenden kriegsbedingten Veränderungen der universitären Lebensrealität. Mit Beginn des Krieges sei aus den Vorlesungsräumen das Leben verschwunden. Zahlreiche Studierende seien – wie Anna selbst – überstürzt ins Ausland geflohen, andere hätten sich freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet. Die Studienbedingungen seien durch die russische Invasion dramatisch erschwert: Tausende Bildungseinrichtungen seien beschädigt, viele Universitätsangehörige verletzt oder getötet, Studien lange Zeit unterbrochen worden; persönlicher Kontakt mit den Lehrenden sei – abgesehen von Onlineformaten – meist unmöglich.
Warnung vor einer „Trümmerwüste“
Anna bedankte sich bei „allen Menschen, die humanitäre Hilfe organisieren, Spenden sammeln und diese an die Ukraine ausliefern“, sowie bei allen Staaten, die die Ukraine mit Waffen beliefern und ukrainischen Geflüchteten Zuflucht gewähren. Einen großen Dank sprach sie außerdem der Universität Tübingen aus, die sich bei der Unterstützung ukrainischer Studierender und Forschender „besonders hervorgetan“ habe. Weitere Hilfe sei nötig, betonte Anna. Anderenfalls drohe etwa die Stadt Charkiw, in der sie studierte, „in eine Trümmerwüste mit Zehntausenden von Toten verwandelt zu werden“.
Nach einer kurzen Fragerunde begaben sich die Gäste der Vernissage ins Foyer der UB, um die Ausstellung nun mit eigenen Augen zu sehen. Die Fotos und emotionalen Geschichten der getöteten Studierenden verfehlten, so schien es, ihre Wirkung nicht. Manche im Publikum waren angesichts der ungewohnt persönlichen Perspektiven beinahe zu Tränen gerührt, andere tauschten sich intensiv aus.
„Das ist toll, dass diese Geschichten nicht auf Papier bleiben, dass diese Geschichten gelesen werden.“
Anna Bordunova
Im Gespräch mit der Kupferblau zeigte sich Anna Bordunova sehr zufrieden mit der Resonanz, die die Veranstaltung fand: Man habe mit gut zwanzig Gästen gerechnet, gekommen seien jedoch mehr als dreimal so viele. „Das ist toll, dass diese Geschichten nicht auf Papier bleiben, dass diese Geschichten gelesen werden, dass darüber gesprochen wird, was der Preis [der Freiheit und des Friedens, Anm. d. Red.] ist.“ Denn dieser Preis, hob Anna hervor, bestehe nicht in Geld oder Waffen, sondern in ukrainischen Leben. Daher solle – auch durch die Tübinger Ausstellung – „ständig daran erinnert werden, was passiert“.
Von Charkiw über München nach Tübingen – ohne Rückfahrschein
Sie selbst sei nach ihrer Flucht aus der Ukraine, wie Anna der Kupferblau mitteilte, zunächst in München angekommen. Eher zufällig sei sie schließlich in Tübingen gelandet, einer Stadt, die ihr bis dahin völlig unbekannt gewesen sei. „Ich hab immer davon geträumt, in Deutschland zu studieren, zu arbeiten. Das tue ich jetzt. Ich hab einfach nicht erwartet, dass es unter solchen Umständen passiert und dass ich dann quasi keinen Weg zurück habe.“
Die Ausstellung ist noch bis zum 29.05.2024 im Foyer des Hauptgebäudes der Universitätsbibliothek zu sehen. Weiterführende Informationen zu “Unissued Diplomas” findet ihr hier.
Beitragsbild: Maximilian Schmelzer