Kultur

Weststädter Wortkunst in winterlicher Kälte

Bunte Wände und eine durchmischte Menge. Warmes Licht und belebtes Stimmengewirr. Ich sitze am Rande des gemütlichen Saals, oben auf einer kleinen Empore und blicke in gespannte Gesichter. Epische Musik beschallt den Raum, während der Countdown langsam runterzählt. Als auch die letzte Ziffer auf null gewandert ist, betritt Anton Betz, der Moderator des heutigen Abends, die beschauliche Bühne und leitet ihn ein – den ersten Tübinger „Weststadt Slam“, der Poetry, wie es der Flyer bereits verspricht, wahrhaftig auf den Punkt bringt.

16. Januar 2024. Es ist Dienstagnachmittag, fast schon Abend. Die Dunkelheit rückt mich von den gräulichen Tagesstunden in eine andere Zeit. Draußen ist es kalt, eiskalt. Ich schlittere langsam mit meinen dünnen Rennradreifen die vereiste Straße entlang bis zur Ecke, ab der ich nicht mehr weiterweiß. Hier, zwei Straßen hinter dem Fahrradtunnel, war ich noch nie. Ich suche die passenden Straßenschilder ab und erreiche nach ein paar falschen Abbiegungen das beleuchtete Rechberghaus, das Studierendenwohnheim in der Tübinger Weststadt.

Im Foyer stehen vereinzelte Gruppen beisammen und ich geselle mich dazu. Kaum bin ich angekommen, lerne ich Finn Preuß kennen, der heute zum ersten Mal auf offener Bühne performen wird. Auch mit Emilia Padula, einer jungen Medizinstudentin und Dichterin, komme ich ins Gespräch. Schon hier erfahre ich die familiäre und nahbare Atmosphäre der Veranstaltung, bekomme die Möglichkeit ganz nah dabei zu sein, mich mit den Künstler*innen zu unterhalten und sie auch ein Stück weit außerhalb der Bühne kennenzulernen.

„Du findest mich auch ohne Sommer gut“

Bevor die erste Vorrunde beginnt, kommt es zu einem musikalischen Einstieg. Der Musiker REPLEKA beginnt zu singen, wippt in seinem orangenen Windbreaker auf der Bühne eifrig mit und animiert die Menge zur Bewegung. Am Klavier beglückt er das Publikum mit seinem Song „Titanic / Leuchtraketen“. Während er sanft die Tasten drückt und sich vollkommen seinen Zeilen hingibt, hebt die Menge ihre Taschenlampen in die Höhe. Im Takt der Melodie bewegen sich die Lichter wie Glühwürmchen wippend von links nach rechts bis auch der letzte Ton verhallt. Er singt von zu kleinen Städten, inhaltslosen Reden und der Einsamkeit; von Liebe, Zeit und der Sehnsucht nach Glück. Der Musiker mit Bart und Brille und einer menschengroßen Menge Sympathie im Gepäck schafft eine warme Stimmung, die sich bis zum Ende hält.

Nachdem REPLEKA vorerst die Bühne verlässt wird Anna Filipak angekündigt, die seit dem Wintersemester in Tübingen studiert. Die junge Poetin begeistert das Publikum mit ihrer weihnachtlichen Beschwerde-Hymne, die sich von Witz und Wortgewandtheit kaum lösen lässt. In dichterischem Anklang feuert sie gegen Lametta und frühzeitliche Lebkuchen-Liebhaber, weihnachtliche Eigenheiten und überteuerte Adventskalender. Applaus und schmunzelnde Gesichter breiten sich aus, während Anna Filipak von der Bühne steigt.

Groß werden mit der Kunst

Die zweite Künstlerin, Asli Kücük, ist Organisatorin des LTT. Kindlich versüßt, harmonisch und schön, mit weicher, teils sehr energischer Stimme trägt sie ihr Kunstwerk vor, in dem sie ihre „stetige Begleiterin“ adressiert. Sie lobt und kritisiert, dankt und definiert sie – die Kunst, die seit Kindertagen einen großen und wertvollen Platz in ihrem Leben einnimmt.  So verrät sie: „Alles musste gemalt und erzählt werden“ – schon von klein auf. „Egal welche Kunst, sie sprach oder spricht mit mir“.

Der Musiker REPLEKA ist in seinem Element. Bild: Silja Gajowski

Finn Preuß, der dritte Künstler des Abends, nimmt uns in seinem Werk „Motion Sickness“ mit auf eine kleine Reise mit der Deutschen Bahn. Den Text, den er selbst im Zug verfasste, ist voller Wut und Witz, reißt mit und hält uns fest. Ich stecke mit ihm im Abteil, höre den Mann röchelnd husten, und die Durchsagen knacken, sehe die Landschaften langsam vorbeiziehen und rege mich auf über den Fakt meine Kopfhörer vergessen zu haben. Humorvolle Zeilen durchqueren das Land, während das Publikum diese fast unangenehm real erscheinende Reise beendet und Finn Preuß mit uns den Zug verlässt. Eine große Menge Applaus begleitet den jungen Dichter zurück zu seinem Platz.

Richard König, ein Lockenkopf, der amüsiert in die Menge grinst, als er auf der Bühne steht, beginnt mit einer wahnsinnigen Witzeinlage. Ich frage mich kurz, ob ich nun beim „Stand-Up Comedy“ gelandet bin. In seiner anschließenden Performance liefert er nicht nur akustisch ab, sondern unterstreicht auch mit seiner gesamten Körpersprache die Aussagen seiner Zeilen. „Wenn ich mal groß bin …“, beginnt er und erzählt die Geschichte eines Jungen, der kindliche Träume verfolgt. Und heute, heute ist er groß, erwachsen und fühlt sich doch so oft verloren, geht der Frage aus dem Weg, was er denn nun macht, wo er doch groß ist. Richard König beginnt nach dem Erzählen über das Heranwachsen mit einer Charakterisierung des Jetzt. In der Gegenwart befindet sich der erwachsene Mann in der krampfhaften Suche nach einem Plan, nach dem Selbst, die uns allen doch so vertraut erscheint.

Ich spreche drei Sprachen und das nur, wenn Schwäbisch zählt.

Richard König

„Kunst baut Brücken, wo wir keine Brücken mehr sehen.“

Die erste Poetin der zweiten Runde ist Emilia Padula. Mit den Worten „Du bist damit nicht allein“ öffnet sie ihr gelbes Notizbuch und beginnt zu lesen. Ihr Text trägt den Titel „Im Auge des Sturms“. Ihre sanfte, weiche und doch kraftvolle Stimme erfüllt den Raum. Ihre kunstvollen Worte sprechen von gewebten Netzen im Kopf, vom Schmerz und dem Untergehen, der Kraftlosigkeit und Leere, die eine Depression in einem hinterlässt. Ich spüre den Schmerz und die Wut, die Angst und die Einsamkeit und dennoch erklimmt ein Funken Hoffnung, denn sie steht hier. Sie ist mutig genug, sich vor aller Augen zu öffnen, sich mitzuteilen und das Unbegreifliche in Worte zu fassen. Am Ende des Abends kommen wir erneut ins Gespräch und sie verrät mir, dass es für sie ein Erfolg war, wenn sie auch nur einer Person damit etwas geben konnte, und das hat sie. 

Goethe und Schiller im Rap-Duell 

Marina Sigl, die am heutigen Abend aus Stuttgart gekommen ist, beweist mit ihrem Dichterduell zwischen Schiller und Goethe eine unschlagbare Komik. Während sie mit vollem Elan ihren Rap-Battle zum Leben erweckt, spüre ich den Beat in den Versen, die Faust, die Goethe dem Schiller entgegenschleudert, die Wortungetüme und Fakten, die sich die beiden an den Kopf zu schmeißen scheinen. Dank ihr traten die berühmten deutschen Dichter in einen modernen Wettstreit, bei dem jeder Satz einen Treffer erlangte und der den gesamten Saal mit Lachen füllte. Nach Abstimmung des Publikums gewann ihr Schiller das Duell und Goethe kroch kleinlaut auf seinen Knien davon.

Die sieben Poet*innen mit dem Moderator Anton Betz auf der Bühne. Bild: Silja Gajowski

Oliver Horn tritt mit seinem Werk „Liebe auf Knopfdruck, wenn der Druck mal wieder zu groß ist“ als nächster und letzter Poet auf die Bühne. Sein Text spricht von Suchtkrankheit, die sich in allen Formen äußern kann, auch in der nach Masturbation. Aus anfänglichem Spaß und abenteuerlicher Neugier wird eine ernstzunehmende Krankheit, die keinerlei Erlösung mehr gibt, den eigentlichen Druck nicht ablässt und der eigenen Antriebslosigkeit kein Stück entgegenwirkt. Seine eindringliche Performance schließt er mit dem Appell, dass gerade diese Tabus aufgedeckt werden müssen, da sie „von all der Scheiße Anfang sind“, da sie „unser aller Dasein misshandeln“. Mit seiner enormen Ehrlichkeit bleibt mir Oliver Horn noch eine ganze Weile im Kopf. Ja, es braucht Mut auf eine Bühne zu treten und eigens verfasste Texte vorzutragen, aber es kostet noch viel mehr Mut derartige Themen anzusprechen, ihren Tabustatus aufzubrechen und im großen Rahmen zu teilen.

Ein Finale voller nachhallender Begegnungen

In der Endrunde treten nun nacheinander Finn Preuß, Richard König und Marina Sigl auf, die auch mit ihren zweiten Werken ausnahmslos begeistern. In Finn Preuß eher ernsterem Text „1 Bushaltestelle, 2 Fremde, 3 Sätze“ erzählt er von seiner Begegnung mit einer älteren Dame, die sich nach einer Tübinger Buslinie erkundigt. Als die Worte „Ich hoffe, ich komme rechtzeitig“ fallen, denkt er sich noch nichts Großes dabei, bis die Fremde ihren Satz beendet mit „meine Schwester liegt im Sterben.“ Nach dieser Äußerung lässt ihn das Treffen nicht mehr los. In seinem Text verarbeitet er die Erfahrung, lässt Zeit und Liebe zu Wort kommen und rührt einige seiner Zuhörer*innen zu Tränen.

Während sich bei Richard König in „ist lange her“ zwei Menschen auf der Neckarbrücke begegnen, die sich lange nicht gesehen haben und nun nicht mehr dasselbe Interesse füreinander teilen, lässt Marina Sigls zweiter Text mich vor Lachen nicht mehr stillsitzen. Aus der Ich-Perspektive erzählt sie von einer Frau, die sich aufgrund der Inflation den geliebten und wohl lebensnotwendigen Döner nicht mehr leisten kann und sich daher als Domina probiert. Einziges Problem: „Ich bin nett“, äußert sie und so kommt es bei den Versuchen der Domina dies zu überspielen zu Aussagen wie: „Jetzt hör mir mal zu, du Wurm.“ Sigls fast szenische Darstellung ist gefüllt von unendlichen Fauxpas, in dem sich die Frau beispielsweise selbst mit der Peitsche schlägt, statt ihren knieenden Kunden. Irgendwo zwischen peinlich berührt, hippelig vor Lachen und ungläubig über diese derartig abstruse, und doch gewitzte, kreative Darstellung, versuche ich mich wieder zu fangen, während Marina Sigl ihren Zettel zusammenfaltet und sich schmunzelnd wieder setzt.

Der „Deckmantel der Satire“

Im engen Kopf-an-Kopf-Rennen kommt es nach den letzten drei Auftritten zur endgültigen Abstimmung. Als Gewinn steht der „Deckmantel der Satire“ aus, ein Regencape, das Finn Preuß mit strahlendem Gesicht entgegennimmt. Der „Newcomer“, der Familie und Freund*innen im Publikum sitzen hat, gewinnt somit wohlverdient seinen allerersten Poetry Slam.

Der glückliche Gewinner des ersten “Weststadt Slams” mit stolzem Papa im Hintergrund. Bild: Silja Gajowski

In meinen Augen war der erste Tübinger „Weststadt Slam“ ein voller Erfolg und ich freue mich jetzt schon auf den Zweiten am 18. Juni. Jegliche Emotion wurde in mir geweckt, die Texte haben mich bewegt und die Auftritte der jungen Künstler*innen rissen mit. Poetische Wort-Geflechte hallen noch nach, ich spüre, wie sich „Zitronentee“ und „Meer“, „situativ“ und „Kunst“ in meinen Kopf gepflanzt haben und wie ich all die schönen Worte nicht mehr loslassen will, bis der Frühling kommt und ich die Wärme, die ich an diesem Abend vernahm, wieder draußen spüren kann.

Beitragsbild: Silja Gajowski 

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