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Auf der Suche nach den blinden Flecken unserer Gegenwart: Ingo Schulze bei der Tübinger Poetik-Dozentur 2022

Am Montagabend, den 14.11.22 fand in der Alten Aula der Auftakt der 35. Tübinger Poetik-Dozentur statt. Eingeladen war der deutsche Schriftsteller und Publizist Ingo Schulze, um über die Entstehung zweier seiner Romane zu erzählen. Gemeinsam mit Dževad Karahasan Alida Bremer und Naser Šečerović wird er im Verlauf  dieser Woche seine Erfahrungen vom Schreiben und Lesen mit dem Publikum im Festsaal der Alten Aula teilen.

Es ist ein einladendes Bild, das sich den Altstadt-Fußgänger*innen an jenem Montagmorgen bietet: Die Fenster des Festsaals der Alten Aula sind hell erstrahlt, ihr Licht dringt durch die abendliche Dunkelheit. Innen hört man Menschen murmeln und sieht ausgelassene, erwartungsvolle Gesichter. Der Saal ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt, als Prof. Dorothee Kimmich das Publikum begrüßt. Der Tübinger Germanistin (und Initiatorin der Poetik-Dozentur) ist die Freude förmlich anzusehen, mit der sie den Gast des Abends laudatiert. Sichtlich gerührt betritt Ingo Schulze die Bühne.

Mit angenehmer Stimme referiert der Berliner Schriftsteller, was ihn am Schreiben fasziniert, und kommt dabei auf zwei seiner Romane zu sprechen. Da wäre zum einen Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst (2017, erschienen im Fischer Verlag) – ein Porträt eines politischen Opportunisten, der vom Kommunismus zur CDU gelangt und dafür, durch nicht allzu wenig ironische Umstände, von der Marktwirtschaft mit Reichtum belohnt wird. Geld, das er eigentlich nicht braucht und nicht will. Doch was bedeutet dies nun? War sein Handeln richtig oder falsch? Wie kann er mit dem plötzlichen Geld vernünftig umgehen? Oder ist allein schon der Besitz von Geld das Unvernünftige an sich?

Autor der Gegensätze: Ingo Schulze. © Hagen Wagner.

All diese Gegensätze verschwimmen im Buch. Schulze zeigt auf, wie paradox und doppeldeutig unsere Gegenwart sein kann, wenn man klar genug hinschaut. Diese Widersprüchlichkeit spiegelt sich auch im Romantitel des zweiten Buches wider, das er an diesem Abend vorstellt: Die rechtschaffenen Mörder (2020 erschienen bei Fischer). Hier ist es der Dresdner Antiquar Norbert Paulini, der sich vom angesehenem Antiquariats-Händler zu einem vermeintlichen Reaktionären entwickelt. Auch hier wird deutlich, wie schnell Grenzen verschwimmen und Gegensätze sich vereinen können – im Politischen wie im Persönlichen.

Biographie zwischen den Zeilen

Wer Schulze bis dato noch nicht gekannt hat, der erfährt an diesem Abend auch zwischen den Zeilen, was die Originalität dieses Schriftstellers ausmacht. Im Dresden der DDR aufgewachsen, hat Ingo Schulze die deutsche Wiedervereinigung und deren Folgen für Ost und West selbst mit erfahren. Und auch, wenn er sagt, dass seine Romanfiguren für sich stünden und er lediglich ein Sprachrohr für sie sei, so wird man doch den Eindruck nicht los, dass sich Schulzes eigene Biografie, wie vielen anderen seiner Generation, zwischen den Zeilen niederschlägt.  

Mittlerweile lebt Schulze in Berlin. Für seine Romane hat er schon zahlreiche Preise erhalten, wird von Kritikern gelobt und gefeiert. Sogar der Bundespräsident hat ihm 2020 einen Verdienstorden verliehen. Als ein politischer Autor, der zuhört, sich in die aktuellen Debatten einbringt und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagiert, habe er sich nicht nur als politischer Künstler, sondern auch als engagierter Demokrat verdient gemacht, hieß es in der offiziellen Begründung. Und davon sieht und hört man an diesem Abend so Einiges.

„Gute Literatur müsste die Doppelbödigkeit unseres Alltags sichtbar machen, also das, wo wir in unserer Welt die ganze Welt finden“

– Ingo Schulze

Dennoch bleibt Schulze bescheiden, berichtet von seinen Schreibblockaden und dem oft unvorhersehbar langem Prozess des Geschichtenentstehens. Dabei frage er sich oft, welche Erzählweise am besten zu den Figuren passe, wodurch sich diese je nach Buch und Thema sehr eigensinnig entwickeln kann und ein Schreiben nach Schema damit nahezu unmöglich macht.

Ein gelungener Abend

Nach rund 50 Minuten tritt Schulze vom Rednerpult hervor und öffnet die Diskussion für das Publikum. Die Wortmeldungen sind anfangs noch zögerlich, doch werden von Mal zu mal lebhafter, neugieriger. Schulze widmet sich allen Fragen mit Geduld. Unter tosendem Applaus bedankt er sich für das Interesse. Im Anschluss an die Veranstaltung konnten die Besucher*innen bei Wein und Häppchen ins Gespräch kommen. Auch die Buchhandlung Quichotte war vertreten und bot signierte Exemplare der vorgestellten Bücher an.

Wer Interesse bekommen hat, die Poetik-Dozentur einmal persönlich zu besuchen, hat noch bis Donnerstag Gelegenheit, Ingo Schulze und Dževad Karahasan in der Alten Aula, jeweils um 19 c.t. zu sehen. Ebenso zu Gast im Podium werden die Autorin und Übersetzerin Alida Bremer und der Literaturwissenschafter Naser Šečerović sein. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist kostenfrei.

Die Vorlesung von Ingo Schulze am Montag wurde auch per Livestream auf Youtube aufgezeichnet und kann hier erneut abgerufen werden.

Fotos: Hagen Wagner.

Buchcover: Copyright Fischer Verlage.

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