Liebs Themenwoche

liebs: oder auch nicht. Modern leben heißt modern lieben.

Poly, offene Beziehung, Freundschaft+ und…und…und. Viele der (Liebes-)beziehungen, die uns heute begegnen, unterscheiden sich stark von denen unserer Eltern und Großeltern. Ihre Stellung hat sich in unserer Gesellschaft  verändert. Warum ist das so? Und was verrät uns diese Entwicklung eigentlich darüber, wie wir sonst so leben?

Zu lieben und eine Beziehung zu führen heißt, zwischen individueller Erfahrung und universell bekanntem Gefühl zu schweben. Es heißt, persönliche Vorstellungen und gesellschaftliche Erwartungen zu navigieren und (manchmal bewusst, manchmal unbewusst) für oder gegen Normen zu stehen. Ein Blick auf die Liebeslandschaft heutzutage und die Vergangenheit, die ihr zugrunde liegt, zeigt dabei, wie sehr das Leben seine Spuren in der Liebe hinterlässt.

Aus dem Geschichtsbuch der Liebe

Vater, Mutter, Kind(er): Das Konzept der Kleinfamilie ist noch gar nicht so alt. Bild: MJ Jin Pixabay

Fest steht: Liebesgeschichten haben sich unsere steinzeitlichen Vorfahren wahrscheinlich eher selten erzählt. Wichtiger war, dass eine Beziehung taktische Vorteile bringt – Fortpflanzung zum Beispiel. Im antiken Griechenland galt als Liebe die durch Wissbegierde geprägte, intensive Zuneigung zwischen zwei Männern, oder auch zwischen einem Mann und einem Jungen, der durch seinen Mentor in die Geheimnisse eines tugendhaften Lebens eingeführt wurde. Die Ehe war hier eher ein notwendiges Übel.

Letzteres hielt sich auch bis ins christliche Mittelalter hartnäckig. Hier wurden Liebe – Gabe Gottes – und Lust – Produkt des Teufels – strikt getrennt. Eine entscheidende Wende im Liebes- und Beziehungsdiskurs brachten schließlich Kapitalismus und Industrialisierung. Sie boten einerseits den Nährboden für die langsame Entwicklung von Frauenrechten (die in den letzten Jahrhunderten konsequent missachtet worden waren) und lösten das altbewährte Konzept der Großfamilie auf.

Liebe wurde so immer autonomer und vor allem Ehen sollten mehr und mehr auf Gefühlen basieren. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Liebesheirat zur Norm. Die Veränderungen, denen die Menschen in dieser Zeit ausgesetzt waren, schienen bei vielen eine Sehnsucht nach Sicherheit auszulösen. Da kam das Ideal der Seelenverwandtschaft, der einmaligen, wahren Liebe gerade recht.

Liebe und Beziehungen im 21. Jahrhundert

Ein Blick auf die Liebeslandschaft des 21. Jahrhunderts zeigt, dass sie heute vor allem vielfältiger wird. Neben der lange als Norm geltenden heterosexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau treten auch zahlreiche queere Liebende aus dem Schatten, in den sie gesellschaftlich lange Zeit verbannt waren, und leben ihre Beziehungen freier und öffentlicher aus.

Zusätzlich dazu wird auch die traditionelle Monogamie durch Alternativen ergänzt. Zumindest im Alltag von Tübinger Studis (und Studierender in vielen anderen Städten), ist es nicht ungewöhnlich, in offeneren Beziehungsmodellen oder polygamen Strukturen zu leben – oder zumindest Menschen zu kennen, die genau das tun. Auch das Dasein als „Mingle“, also als Person, die in einer Art Beziehung ohne Verpflichtungen lebt, die Existenz mindestens einer Freundschaft+ oder mehr oder weniger glückliche „situationships“, also Beziehungen, deren genauer Status nicht geklärt ist (und vielleicht niemals geklärt wird), sind an der Tagesordnung. Liegt das daran, dass die jungen Menschen von heute einfach beziehungsunfähig geworden sind?

Die Sache mit der ‚emotionalen Moderne‘

Die Antwort lautet „nein”…oder „vielleicht”: Definitionssache, denn wir können heute so frei lieben, wie noch nie. Unsere Gesellschaft wird immer diversifizierter, Internet und soziale Medien bieten auch alternativen Konzepten eine Bühne und ein immer individualisierteres Leben ändert unsere Bedürfnisse. Für die Meisten ist die freie Partner*innenwahl ein wichtiger Teil ihrer persönlichen Autonomie.

Zusätzlich sorgt die zunehmende Auflösung der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau dafür, dass weniger leicht Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Vor allem für junge weiblich gelesene Personen ist es finanziell meist nicht mehr notwendig, sich in eine Beziehung zu begeben – oder in einer zu bleiben.

Lange etablierte Beziehungskonzepte lösen sich immer mehr auf. Sind wir beziehungsunfähig geworden? Bild: Kirsi Eerikkilä Pixabay 

Auch körperliche Intimität ist heute von alten Strukturen losgelöst. Die gesellschaftliche Erwartung, dass eine Beziehung bindend ist, sobald sie körperlich wird, ist im Zeitalter von Tinder-Dates nur noch in sehr traditionellen Kreisen zu finden. Laut dem Soziologen Anthony Giddens sind wir damit in einer ‚emotionalen Moderne‘ angekommen, die keine explizite Beziehungsform mehr voraussetzt.

Haben wir uns von allen Liebeszwängen befreit?

Smartphones, Dating-Apps und das moderne Leben haben unsere Beziehungen verändert. Bild: Jhoana Marie Sy Pixabay

Lieben in der ‚emotionalen Moderne‘ bedeutet trotzdem nicht völlige Freiheit. Dafür mischt sich – neben der nach wie vor existierenden Norm der heterosexuellen, monogamen Beziehung – vor allem das moderne Leben viel zu sehr in unsere Gefühlswelten ein.

So schwebt die Liebe heute oft zwischen Selbstinszenierung, Perfektionsdrang und dem Wunsch, seinem eigenen Lebensentwurf zu folgen. In einer immer kapitalistischeren Gesellschaft werden Gefühle genauso wie Sex zur Ware und sorgen für instabile, kommodifizierte Beziehungen – das zumindest stellt Eva Illouz fest, eine der bekanntesten Forscherinnen, die sich in der Soziologie mit der modernen Liebe befasst.

Eins ist sicher: Das altbekannte ‚happily-ever-after‘ ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Aber das kann auch heißen, dass Menschen mehr Arbeit in ihre Beziehungen stecken und höhere Ansprüche an deren Qualität haben. Das kann auch heißen, dass wir uns jetzt mehr damit beschäftigen, welche Liebesform eigentlich zu uns passt – und dass wir die Freiheit haben, aus einer Vielfalt an Konzepten zu wählen.

Wir müssen und dürfen unser Liebesleben selbst gestalten

Nur weil sich immer weniger junge Menschen heute für eine traditionelle Ehe entscheiden und stattdessen in alternativen Konstellationen zusammenleben und lieben heißt das also nicht unbedingt, dass wir beziehungsunfähig geworden sind. Das Liebesleben in der ‚emotionalen Moderne‘ ist nicht einfach, aber wann war Liebe jemals leicht?

Sich gegen eine traditionelle Ehe zu entscheiden, ist nichts Schlimmes. Bild: MJ Jin Pixabay

Es ist vielleicht eher ein Beweis dafür, dass sich Lebenskonzepte und damit einhergehende Bedürfnisse ständig ändern – und mit ihnen unsere Beziehungen. Es gibt sie natürlich immer noch, die langfristigen monogamen Beziehungen, den Traum von dem*der Seelenverwandten, und das ist auch gut so. Vielleicht sollte unser Lebens- und Liebesziel einfach sein, das Modell zu finden, das zu uns passt – ungeachtet aller Normen.

Unendliches Glück ist wahrscheinlich in keiner Form garantiert. Die traditionelle Ehe wurde 2022 in etwa 35% aller Fälle geschieden und für Alternativen gibt es bislang nur wenige langfristige Erfahrungswerte. Für uns heißt das wohl oder übel: Wir müssen selbst testen, was für uns funktioniert und alle Beteiligten so lange wie möglich glücklich macht.

 

Titelbild: Paula Baumgartner 

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