Kultur

Doris Dörrie alias „Spider-Woman“ bei der Tübinger Mediendozentur 2022

Die ehrwürdigen Hallen der Neuen Aula sind in stimmungsvolles Licht getaucht, gespanntes Raunen liegt in der Luft. Die Ränge des Festsaales füllen sich. Unter großem Applaus eröffnet Bernhard Pörksen die 17. Tübinger Mediendozentur. Nach drei langen Jahren Corona-Zwangspause sind die Erwartungen an die traditionsreiche Veranstaltung groß. Das diesjährige Motto: „Die Macht von Geschichten“. Doch warum kommt die Rednerin des Abends ausgerechnet in einem Superheldinnen-Kostüm auf die Bühne? Was es damit auf sich hat und warum Geschichten für uns so wichtig sind, erfahrt ihr hier.

Nach einer kurzweiligen, hochlobenden Vorstellung Doris Dörries, ihrem Leben und kreativem Schaffen, für das sie unter anderem schon mit einem Bundesverdienstkreuz und der Aufnahme in die renommierte Oscar-Academy gewürdigt wurde, überlässt der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Bernhard Pörksen einer maskierten Person die Bühne. Soll das etwa wirklich Doris Dörrie, die international bekannte Filmemacherin und Autorin sein? Neugierige Blicke sind auf die Bühne gerichtet, mit geballter Aufmerksamkeit lauscht das Publikum den Worten der „Spider-Woman“, die von ihrer Geschichte als „Petra Parker“ erzählt. Sie gibt zu, das klingt alles ein bisschen abgekupfert von der ursprünglichen Marvel-Erzählung. Als sie die Maske abnimmt, bricht das Publikum in einen Applaus der Erleichterung aus: Es ist doch Doris Dörrie!

Süchtig nach Geschichten

Im Laufe Ihres Vortrages wird klar, dass es der gebürtigen Hannoveranerin um mehr geht, als bloß zu provozieren. An der Eingangssituation lassen sich nämlich die zwei wesentlichen Strukturmomente einer Geschichte rekonstruieren, die für Dörrie immer in einem Problem beziehungsweise einer Krise und deren Lösung bestehen. Dass sie sich mit einer Spider Woman-Maske verkleidet, konnte niemand wissen, aber wiederum automatisch haben sich alle Anwesenden gefragt, warum sie das getan hat. Dieses Bedürfnis nach Kohärenz, nach Sinnstiftung sei ebenfalls zentral für Geschichten.

„Wir sind süchtig nach Kausalketten … Wir sind eine Story, weil es unser Gehirn so will“

Doris Dörrie in ihrem Festvortrag “Die Macht von Geschichten”

Für Dörrie, wie für uns alle, ist das Leben eine Geschichte – wenn auch eine improvisierte und wechselvolle. Wir leben unsere eigenen Mythen, spielen unsere eigenen Superheld*innen, haben unsere eigenen Antagonist*innen und bestehen unsere eigenen Plot-Twists. Mit Erkenntnissen aus der Neurobiologie und (Film-)Psychologie, wie dem Kuleschow-Effekt oder der Theory of Mind, erklärt Dörrie in klaren, leicht zugänglichen Worten, wie fest das Bedürfnis zum Geschichtenerzählen in unserem Denken verankert ist.

Doris Dörrie am Rednerpult in der Neuen Aula

Die Macht der Fiktion

Diese Fähigkeit, uns durch Geschichten in andere hineinzuversetzen, Empathie und Toleranz zu entwickeln und miteinander zu kooperieren, kann uns aber auch in einen Zwang versetzen, Fiktionen zu kreieren, die nur etwas vortäuschen oder problematische Vorurteile bedienen. Man denke nur an Alltagslügen oder die Sensationslust beim Nachrichtenlesen. Alles wird zu einer Geschichte – auch das, was wir Realität nennen:

„Wir lieben nicht die Wahrheit, sondern wir lieben Geschichten. Die Wahrheit ist oft so kompliziert und mühsam, so langweilig, aber eine Geschichte hat einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende – eine Antwort, eine Lösung.“

Genau das verleiht Geschichten so eine unglaubliche Macht über uns und unser Zusammenleben. Um sich dessen bewusst zu werden und sich in den vielen Geschichten des Alltags nicht zu verlieren, sucht Dörrie nach den kurzen „Pausen des Glücks“, den kurzen Momenten, in denen keine Erzählung stattfindet, sondern man einfach dem Gras beim Wachsen zuschauen kann – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Für manche passiert dies beim Meditieren, für andere wiederum bei einer gemütlichen Stocherkahnfahrt über den Neckar.

Eine Rede wie ein Gespräch

Diese Botschaft kommt offensichtlich gut beim Publikum an. Immer wieder sieht man nickende Köpfe und aufmerksame Augen. Mit ruhiger, nuancierter Stimme spricht Dörrie das Publikum direkt an, lacht herzlich – auch über ihre eigenen Witze und Anekdoten – und bringt mit ihrem sympathischen Gestus eine ausgelassen lebhafte Stimmung in das formale Umfeld des Festsaals. So fühlen sich alle vertretenen Altersgruppen angesprochen – von der Studentin bis zum Senioren. Ihre Festrede wirkt generell vielmehr wie ein Fest-Gespräch, was bei dem komplett geskripteten Text durchaus eine beeindruckende Leistung ist.

Somit nimmt der Abend ein gelungenes Ende und wieder einmal zeigt die Mediendozentur, wie eng die Universität und der SWR in Tübingen zusammenarbeiten. Wie auf dem Bild rechts zu sehen ist, wurde die Veranstaltung mit großem Andrang begleitet. Dass bereits schon siebzehn Vorträge stattfinden konnten und die nächsten bereits in Planung sind, sei somit vor allem auch dem interessierten und geduldigen Publikum zu verdanken, so Andreas Narr, ehemaliger Leiter des SWR-Studios Tübingen.

Gemeinsam mit Bernhard Pörksen hat er das Buch „Schöne digitale Welt“ herausgegeben, in dem ausgewählte Reden der Mediendozentur zum Thema Digitalisierung zusammengestellt sind – erhältlich überall, wo es Bücher gibt.

Ungewohnter Anblick nach zwei Jahren Pandemie: Die gefüllten Hallen der Neuen Aula

Die Rede von Doris Dörrie wurde live auf YouTube übertragen. Der Mitschnitt kann auf dem Kanal der Universität angeschaut werden.

Fotos: Alexander Schwab und Hagen Wagner

Ähnliche Beiträge

1 Kommentar

  1. […] ausführlichen Bericht zur Mediendozentur von Hagen Wagner findet ihr bereits hier. Dieser Artikel hat ein persönliches Hühnchen zu […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert