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Klassenkampf und Polizeigewalt: Filmrezension zu “In den besten Händen”

In den besten Händen“ von Catherine Corsini spielt in einer Winternacht 2018, auf dem Höhepunkt der Gelbwesten-Demonstrationen. Der Film ist jedoch auch nach dem Wahlsieg des liberalen Macron über die rechtsextreme Le Pen so aktuell wie nie. Wir erhalten Einblick in die alltäglichen Katastrophen einer Notaufnahme, schauen zu, wie sich Arm und Reich begegnen, und fragen uns am Ende: Können das intellektuelle Bürgertum und die Arbeiterschicht gemeinsam für eine gerechtere Politik kämpfen?

Bevölkerungsstatistiken zu Wahlergebnissen sind häufig kompliziert. Doch eine Statistik zu der französischen Präsidentschaftswahl ist eindeutig: Je mehr die Menschen verdienten, desto mehr von ihnen gaben sie ihre Stimme Emmanuel Macron. Die ärmsten Franzosen und Französinnen wählten mehrheitlich Marine Le Pen; bei den Arbeiter*innen holte sie zwei Drittel der Stimmen.

Dies wird in Corsinis Drama klug aufgegriffen. Nachdem die Künstlerin Raphaelle ihm vorgeworfen hat, er habe sicher „die Blonde“ gewählt, erklärt Yann, LKW-Fahrer: „Leute wie ihr seid schuld daran, dass es Le Pen überhaupt gibt.“ Der Proletarier und die Bourgeoise werfen sich gegenseitig vor, Le-Pen-Wähler und Macron-Wählerin zu sein. Doch sie beide entsprechen nicht dem Bild, das der jeweils andere sich gemacht hat.

Eine Comiczeichnerin und ein Fernfahrer

Yann (Pio Marmai) und Raf (Valeria Bruni Tedeschi) lernen sich in einer Pariser Notaufnahme kennen, wo sie dem Personal und den anderen Patient*innen auf die Nerven gehen; Raf mit ihrem zeternden Selbstmitleid; Yann mit seinen leidenschaftlich-aggressiven politischen Parolen. Auf Französisch heißt der Film “La Fracture” (dt. Der Bruch) und tatsächlich haben beide Figuren ihre Knochen verletzt. Raf ist ausgerutscht, als sie ihrer Freundin, die sich von ihr trennen will, nachgerannt ist, hat sich dabei den Ellenbogen verletzt und fürchtet, ihrem Beruf als Comiczeichnerin nicht mehr nachgehen zu können. Yann wurde bei einer Gelbwesten-Demonstration von der Polizei verprügelt; auch er fürchtet um seinen Job, weil er mit dem Lastwagen unerlaubterweise nach Paris zu der Demonstration gefahren ist und wegen seiner anstehenden Operation nicht rechtzeitig zurückkommt.

Wir sind erst wenige Minuten im Film und schon sehen wir Gewaltbilder, die uns die Tränen in die Augen treiben. Auch die Deutlichkeit des Klassenunterschieds macht betroffen: Während sich Raf als Angehörige der Bourgeoisie keine Sorgen um ihren Lebensunterhalt machen muss, bedeutet die Aussicht auf Verlust seines Jobs für Yann eine wahre Krise. Doch dass man reich ist, bedeutet nicht, dass man keine (psychischen) Probleme haben kann. Raf leidet schrecklich unter der Trennung von ihrer Freundin Julie (Marina Fois), die ihr inzwischen nur noch kühl gegenübersteht, und an die sie sich so sehr klammert, dass es beim Zuschauen fast unangenehm wird.

Situationskomik

Das Unbehagen schlägt in Komik um, sobald der Film es vollkommen überspannt. Raf schreit Julie, die zu ihr in die Notaufnahme geeilt ist, an: „Du hast recht, Jammern ist nicht sexy! Ich befehle dir, mich nicht zu verlassen! Das ist sexy, oder?“, worauf Julie nur einen kühlen, leeren Blick erwidert und den Raum verlässt, und Raf wieder in flehendes Gezeter ausbricht. Trotz der ernsten Themen, der Gewaltszenen und des vielen Schreiens und Weinens auf der Leinwand besitzt „In den besten Händen“ eine unglaubliche Situationskomik, von der man in deutschen Filmen nur träumen kann. Lacher und Tränen folgen im Kinosaal Schlag auf Schlag. Auch der Schlagabtausch zwischen Raf und Yann, der in rasantem Dialog geführt wird, ist grandios.

Yann (Pio Marmai) wurde bei einer Gelbwesten-Demonstration von einer Granate erwischt und fürchtet um seinen Job als LKW-Fahrer. ©ALAMODE Filmverleih

Unsere Retter*innen

Der Begriff „Pflegenotstand“ wird in dem Werk der Regisseurin Catherine Corsini zur bitteren Realität. Warum tun sich Menschen diesen Job an?, fragt man sich als Zuschauer*in. Krankenschwester Kim (Aissatou Diallo Sagna; auch im echten Leben Krankenschwester), die vierte Hauptfigur, tritt ihre sechste Nachtschicht in einer Woche an, während ihre kleine Tochter Fieber hat und ihr Mann Zuhause verzweifelt. Sie kümmert sich um psychisch Kranke, die offiziell nicht einmal in die Notaufnahme gehören, verliert nie die Geduld und hat für jede*n Verständnis. Gewalt führt zu mehr Gewalt, weiß Kim, und sie versucht, diesem Teufelskreis Einhalt zu gebieten, indem sie sich beharrlich weigert, gewalttätige Menschen dem Staats- und Polizeiapparat auszuliefern. Doch zu welchem Preis? „In den besten Händen“ wirft Fragen auf, anstatt endgültige Antworten zu liefern. Fragen wie: Wie viel sollten wir persönlich opfern, um Menschen aufzufangen, die durch das Raster des staatlichen Gesundheits- und Sozialsystems fallen? Wie kann es sein, dass eine unterbezahlte Berufsgruppe sich psychisch und körperlich kaputt arbeiten muss, nur um das Versagen unserer Politik auszugleichen?

Gespaltene Gesellschaft

Die Verknüpfung von Politischem und Privatem gelingt dem Film ausgezeichnet. Politische Differenzen hindern die Figuren daran, sich einander anzunähern. Künstlerisch wird dieses Phänomen selten dargestellt, dabei ist es elementarer Bestandteil unseres Alltags.

Macron, der seine politische Ausrichtung als „progressiv“ verstanden wissen will, hält die „Spaltung der Gesellschaft“ in die Lager rechts und links für überkommen. In Deutschland hört man beispielsweise von Mitgliedern der FDP immer wieder den Vorwurf, dass die Linken die Gesellschaft in verschiedene Klassen spalten würden. Dass diese Spaltung keine linke Fiktion, keine bösartige Manipulation ist, sondern faktische Realität, macht die Tragikkomödie deutlich. Kann man ihr anhand der vorsichtigen Annäherung von Raf und Yann, welche als Überwindung der Klassengegensätze interpretiert werden kann, dennoch entpolitisierte Rührseligkeit vorwerfen? Behauptet sie, um Klassenunterschiede zu überwinden, müssten wir uns nur mal begegnen; letztendlich sind wir doch alle einfach nur Menschen?

Bei den Gelbwesten-Demonstrationen 2018 und 2019 kam es zu heftiger Gewalt und vielen Verletzten. ©Flickr

Menschlichkeit als politische Vision

Die Figuren werden in ihrer Menschlichkeit gezeigt, das ist wahr. Die Extremsituationen auf der Demo oder in der Notaufnahme, die Anwesenheit von Gewalt und Tod bringen ihre Verletzlichkeit sowie ihre schlimmsten Seiten zum Vorschein. Menschlichkeit darzustellen und gesellschaftliche Realitäten dennoch nicht auszublenden, ist eine große Leistung, und die vollbringt „In den besten Händen“. Gegen Ende gelingt es sogar, einen Polizisten in seiner Menschlichkeit darzustellen – ohne ihn vollkommen zu entschuldigen und ohne seinem Handeln den politischen Hintergrund und die politische Bedeutung zu nehmen.

Gerade bei den Themen Staats- und Polizeigewalt sollte die Menschlichkeit eines jeden Menschen uns als leitendes Prinzip dienen. Gegen welche Gesetze ein Mensch auch verstoßen hat, er bleibt ein Mensch. Menschlichkeit ist eine politische Vision.

Mauern einreißen

Außerdem werden trotz der zögerlichen Annäherung der Künstlerin und des Fernfahrers nicht jegliche Klassendifferenzen überwunden. Raf hat Yann zwar gern, doch als sie verkündet, sein naiver Idealismus sei rührend, wird deutlich, dass sie, so sympathisch sie ihn auch findet, auf ihn herabschaut.

Dass Ansätze zur Überwindung von Klassengegensätzen gezeigt werden, halte ich allerdings für nichts Negatives. Es ist eine kontroverse These, doch eine, die es lohnt zu diskutieren: Wenn wir gemeinsam Veränderungen erreichen wollen, müssen wir soziale Grenzen überwinden, wir müssen respektvoll und behutsam Mauern einreißen, die die Realitäten von Geschlecht, Sexualität, Klasse oder „Rasse“ in unsere persönlichen Beziehungen hineingebaut haben. So schwierig es auch sein mag. Und dass es schwierig ist, wissen wir spätesten nach diesem großartigen Werk.

Der Film läuft am 26. April um 20.15 Uhr, am 27. April um 18 Uhr, am 28. April um 18 Uhr, am 29. April um 19 Uhr, am 30. April um 16.30 Uhr und am 2. Mai um 20.15 Uhr im Kino Atelier.

Fotos: ©Flickr, ©ALAMODE Filmverleih

Macrons Aussagen: Frankreich: Die radikal neue Sichtweise des Emmanuel Macron – WELT

Vorwürfe der FDP: FDP_Programm_Bundestagswahl2021_1.pdf S. 4 Abs. 3

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