Unileben

Heimweh in der Heimat

Als ich letztes Jahr für meinen Erasmus Aufenthalt ins kalte Island aufbrach, konnte ich noch nicht ahnen, dass nicht die Zeit dort zur Herausforderung werden würde. Vielmehr wurde die Rückkehr in die vermeintlich “alte” Heimat schwierig. Ein Erfahrungsbericht über die Problematik von zwei Heimaten: Die bekannte, “alte” Heimat und die ferne, “neue” Heimat, mitten im eisigen Nordatlantik.  

Mein Wecker klingelt mich unsanft aus dem Schlaf. Ich öffne langsam meine Augen, nehme einen tiefen Luftzug und drehe mich träge um. Noch im Halbschlaf klappe ich das Fenster auf. Anstelle sanftem – je nach morgendlicher Laune auch aggressiv machendem – Möwengeschreis und kalter, salzig duftender Luft, höre und rieche ich nur den dröhnenden, stinkenden Straßenverkehr und das Krähen der lauten Nachbarskinder. Ich sinke zurück ins Kissen und nehme einen weiteren seufzenden Atemzug – diesmal mit einem deutlich melancholischeren Unterton.

Eine kleine, windige Insel im Nordatlantik

Seit meiner Rückkehr aus Island liegen nun schon ganze zwei Monate zurück. Der vulkanische Inselbrocken – genauer gesagt seine Hauptstadt Reykjavík – war das ganze letzte Jahr über mein Zuhause. “Warum Island?” wunderten sich viele, als ich von meiner Flucht aus dem, von der Pandemie, gebeutelten Deutschland auf die kalte, windige Insel mitten im Nordatlantik erzählte. 

Eine ganz zufällige Entscheidung war es nicht. Komplett ahnungslos und hungrig danach, dem trägen, deutschen Alltag zu entkommen, beschloss ich 2019, naiv und ebenso 19-jährig, spontan als Au-Pair für acht Monate nach Island zu ziehen. Warum Island? Naja, es war eben mal was anderes. Nach acht Monaten, voller Kindergeschrei, neuem Selbstvertrauen und einem verlorenen Herzen an die Insel, kehrte ich wieder zurück nach Deutschland und begann mein Studium in Tübingen. Schon damals packte mich die plötzliche Enge in meiner Brust beim Aufwachen. Das unerwartete Erwachen in einer fremden aber doch bekannten Umgebung. Die langsam kriechende Panik, die einen überfällt, wenn man von einer Insel mit gerade einmal 366.425 Einwohnern, nun wieder täglich von tausenden umherhetzenden Menschen umringt ist. Schon damals war die Rückkehr nicht leicht – vor allem, weil niemand wirklich groß darüber berichtet, wie es ist, wieder in seiner eigentlichen Heimat und gleichzeitig doch irgendwie in der Fremde zu sein. Und so stand schon bald der Entschluss fest, erneut in Richtung des eisigen Nordens aufzubrechen – nun aber für ein ganzes Jahr!

Zwei Leben an zwei Orten

Es ist nicht einfach, die neu gewonnene Heimat zurückzulassen. Wie heißt es doch so schön? Aller Anfang ist schwer. Ein Neubeginn, egal wo, ist immer hart und kostet viel Kraft. Die ersten drei Monate bestehen praktisch ausschließlich daraus, sich ein neues Leben aus dem Nichts aufzubauen. Die unbeholfene Suche nach neuen Menschen, die hoffentlich einmal Freunde werden, und das Treten in kulturelle Fettnäpfchen stehen an der Tagesordnung. Nachdem die ersten Hürden dann halbwegs überwunden sind, kommt die entspannte Phase von Monat vier bis neun. In diesem Zeitraum verläuft man sich endlich nicht mehr auf dem Weg zum nächstgelegenen Pool. Und wenn doch, dann wenigstens mit einem selbstbewussteren Gefühl. Ab Monat neun schleicht sich dann wieder ein sehr ungemütliches und beängstigendes Gefühl ein. Panisch werden Bucket-Listen abgearbeitet und krampfhaft wird versucht, jede einzelne Erinnerung im  Langzeitgedächtnis abzuspeichern – all das, während hektisch die Traurigkeit über das baldige Ende verdrängt wird. 

Und ganz plötzlich ist das so lang ersehnte Auslandsjahr auch schon wieder vorbei – viel schneller als erhofft (ja, Oma… du hattest Recht. Zeit vergeht wirklich schneller, je älter man wird). Spoiler-alert: Und dann kommt die wirklich schwierige Phase. Nämlich die, wenn man wieder in der “alten” Heimat ist, an schmerzhaftem Heimweh leidet, und plötzlich alles schrecklich (langweilig) ist. 

Einsame Mittsommernacht am Skógafoss (ca. 23:30 Uhr)

Kulturschock in der Heimat

Das angedeutete Phänomen wird unter Heimkehrexpert*innen auch fachkundig “Reverse Culture Shock” genannt. Es ist relativ verbreitet und schleicht sich gerne bei rückkehrenden Studierenden aus dem Ausland ein, nachdem sie einige Zeit in einer anderen Kultur verbracht haben.

“Reverse culture shock is the process of readjusting, reacculturating, and reassimilating into one’s own home culture after living in a different culture for a significant period of time.” 

Kevin F. Gaw

Einige Symptome des “Reverse Culture Shocks” machten sich zügig nach meiner Rückkehr im September auch bei mir bemerkbar. Während meines Umzuges nach Tübingen ärgerte ich mich über die langwierige, deutsche Bürokratie und den nervigen Papierkram, der täglich in meinen Briefkasten  landete. Ich fühlte mich etwas verloren und hatte das Gefühl, festzusitzen. In meinem isländischen Alltag gab es jeden Tag neue Herausforderungen und Entdeckungen, während ich in meiner eigentlichen Heimat in Deutschland meinte, alles schon zu kennen. Wohl die schwierigste Erkenntnis am ganzen Rückkehrprozess: Das Leben in der alten Heimat steht nicht still, während man weg ist. Meine Omas wurden älter und gebrechlicher, meine Freunde verstreuten sich an neue Orte und mein grummeliges, altes Kaninchen Bobby starb. 

Der Zauber des Augenblicks

Einige Erinnerungen werden wohl immer ihre Spuren hinterlassen. Im vergangenen März brach der Vulkan “Fagradalsfjall” aus und Minuten später machten sich alle Isländer (von Kleinkind bis Greis), trotz behördlicher Warnungen, mit Sack und Pack auf, um das Schauspiel mit eigenen Augen zu erleben. Ich werde gewiss nie den Moment vergessen, als ich zwei Tage später selbst neben dem Krater stand und fasziniert den satten, tiefen Geräuschen der brodelnden Lava lauschte. Ich werde wohl auch nie vergessen, wie sich auf winterlichen, nächtlichen Spaziergängen der Himmel öffnete und urplötzlich von tanzenden, smaragdgrünen Schlangen übersät war. Und ich werde nie die hellen Mittsommernächte vergessen, in denen das Leben stillzustehen  schien und die pink leuchtenden Meereswellen sanft im Wind wogen.

Den Blick nach vorne richten

Es ist okay, melancholisch gestimmt über seine Rückkehr und Erlebnisse zu grübeln und in der “alten” Heimat erst einmal alles als semi-aufregend wahrzunehmen. Es ist auch in Ordnung, sich erst einmal ein paar Wochen Zeit zu nehmen, um zu begreifen, dass nun wieder ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat. Wichtig ist, seine Gefühle zuzulassen und sich Zeit zur Eingewöhnung zu geben. Es ist auch normal, das Gefühl zu haben, irgendwie zu verformt zu sein, um wieder in die Gestalt seines alten Lebens zu passen. In der Regel passt diese ohnehin nicht mehr, weil so ein Auslandsaufenthalt prägt und verändert.

Trotzdem sollte man sich nach einiger Zeit wieder dazu ermutigen, auch an den kleinen Dingen in der “alten” Heimat seine Freude zu haben. Für mich waren das Brezeln und Apfelschorle – nun gut – und natürlich meine wiedergewonnenen Freunde und die Familie. Wenn man sich dann die Zeit nimmt und sein Bewusstsein schärft, gibt es auch in der vermeintlich alten Heimat viel Unbekanntes, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden.

Der Ruf der (fernen) Heimat

Warum Island? Ich weiß es nicht. Was ich dagegen sicher weiß, ist die Tatsache, dass ein Stück meines Herzens wohl für immer dort bleiben wird – auf dieser kleinen windigen Insel, mitten im Nordatlantik. Und das ist auch okay so. Und wenn das Heimweh in der Heimat mal wieder überwiegt und mein Herz ganz schwer wird, dann ist es auch in Ordnung, sein hart erspartes Geld schon wieder für ein Flugticket in den kalten Norden auszugeben.

Die ferne Heimat ruft…

 

Fotos: Alina Maurer

Quelle Zitat: https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.1066.2665&rep=rep1&type=pdf

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1 Kommentar

  1. Wanda Siewert sagt:

    Liebe Alina,
    du sprichst mir aus der Seele.
    Nach dem Abitur war ich auch für 6 Monate in Island. Seither gehört ein Teil von mir dorthin, auch wenn ich nie dauerhaft dort leben will. Ich werde wohl auch alle paar Jahre wieder mal für kurze Zeit dahin zurückkehren.
    Ich wurde auch immer gefragt, warum denn Island, aber ich war vorher dchonmal für 3 Wochen dort und irgendwie zieht es mich immer wieder magisch an.
    Ich wünsche dir viel Erfolg wieder in deiner “alten” Heimat.
    Liebe Grüße
    Wanda

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