Das Coronahandbuch für Studierende Unileben

Das Coronahandbuch für Studierende – Ist das Kunst oder kann das weg?

Atemberaubende Stille in Konzertsälen. Verlassene Bühnen. Staubige Museen. Horrorszenarien der Kunst, die langsam fürchtet, in Vergessenheit zu geraten. Warum wir die Kunst nicht aufgeben dürfen – und was wir stattdessen tun können.

Systemrelevant

Dieses Wort wird ganz bestimmt zum Unwort des Jahres 2020 gewählt.

Systemrelevant. Was heißt das eigentlich? Als systemrelevant werden all jene Einrichtungen bezeichnet, ohne die unser System – der Staat Deutschland – nicht mehr funktionieren würde. Systemrelevant ist alles, was Engpässe vorbeugt und unsere Strukturen aufrechterhält. Strukturen wie das Bankensystem, die Wirtschaft oder das Bildungssystem. Alles, was nicht systemrelevant ist, spielt in Coronazeiten eine untergeordnete Rolle.

Kunst ist nicht systemrelevant.

Ein klassisches Konzert stellt ebenso wenige Lebensmittel zur Verfügung, wie ein Museumsbesuch mit einem Arztbesuch gleichzusetzen ist. Der Gang ins Theater ersetzt nicht die wichtige Stunde Mathematik oder Physik. Gut für die Wirtschaft ist Kunst auch nicht – schließlich werden viele große Opernhäuser, Theater und Museen vom Staat subventioniert. In Kultur muss sogar zusätzlich Geld gepumpt werden. Kunst wirft nicht viel ab.

Kunst ist nicht systemrelevant.

Ob wir Kunst trotzdem brauchen? Ja, absolut!

Der Homo Sapiens

Man muss nur einen einzigen Blick in unser Selbstverständnis werfen, um das zu verstehen. In unsere frühesten Ursprünge. Wir bezeichnen uns selbst als „Homo sapiens“. Sapiens, das kommt von Wissen und Bildung. Unsere Bildung und Kultur ist das, was uns letztendlich von Tieren unterscheidet. Das, worauf wir so stolz sind. Man kann schwerlich behaupten, dass Bildung sich nur auf Sprache und Naturwissenschaften beschränkt. Nicht umsonst wird schon in der Grundschule Musik unterrichtet. Wozu sollte man im Deutschunterricht Werke längst verstorbener Dichter analysieren, wenn nicht der Bildung und Kultur wegen? Jeder Schüler muss die Tonleiter lernen und die Geburtsdaten von Mozart und Beethoven. Wie man sieht, ist Kunst und Kultur schon immer ein integraler Bestandteil unseres Schulsystems gewesen. Es gibt keinen Grund, diesen als weniger wichtig einzuschätzen als andere in der Schule vermittelte Inhalte. Die Kultur, die Bildung und unser Zusammenleben ist das, was uns als Menschen ausmacht.

Die Konzertsäle sind leer geblieben. Aber hat Kunst nicht doch das Potential, uns in diesen Zeiten des Abstands wieder näher zusammen zu bringen?

Zusammenleben?

Auch so ein Begriff, der in den letzten Monaten neu definiert wurde. Zusammenleben – oder auch zusammen leben – ist schwierig geworden. Weil man Abstände einhalten muss oder sich nicht mehr besuchen darf. Manche Wege wollen wir auch nicht zusammen gehen: Die einen wollen hier entlang, mit Maske und Maßnahmen, die anderen wollen dort entlang, ohne zwanghafte Regelungen der Regierung. Unsere Gesellschaft läuft Gefahr, bis ins Mark erschüttert und gespalten zu werden. In so turbulenten Zeiten brauchen wir etwas, was uns wieder näher zusammenbringt. Wir brauchen einen gemeinsamen Grund, auf dem wir uns treffen und verstehen können.

Muss man erläutern, warum Kultur eine solche gemeinsame Ebene sein kann? Oder reicht es, auf volle Konzertsäle hinzuweisen und auf noch vollere Festivalgelände? Sprechen die zahllosen Menschen, die sich regelmäßig zu Theater- und Chorproben treffen, nicht für sich? Und was ist mit all den abgetretenen Schwellen vor wunderschönen Gemälden in Museen? Zeichen, die von Menschen erzählen, die alle die gleiche Liebe teilen: Die zur Kunst.

Corona hält uns alle auf Abstand. Auch emotional. Kunst kann ein Weg sein – nein, sie ist ein Weg, um diese zwischenmenschlichen Abstände zu überbrücken. Das macht sie umso relevanter für unsere Gesellschaft.

Das ist ja alles schön und gut. Aber unser Staat kann auch ohne Kunst überleben: Ein Konzert in einem kleinen Saal in einem kleinen Ort hat keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Ebenso wenig kann ein Theaterstück einen kranken Menschen heilen, wie das ein Arzt kann.

Kunst ist nicht systemrelevant

Das war sie aber auch noch nie. Und das muss sie auch gar nicht sein. Kunst hat ihren ganz eigenen Zweck: Sie ist systemkritisch! Gibt es nicht ganze Literaturepochen, die sich durch kritisches Hinterfragen der Gesellschaft auszeichnen? Gibt es nicht unzählbar viele berühmte Dramen, die die Probleme der damaligen Zeit thematisierten? Schillers „Kabale und Liebe“ kritisiert die damalige Klassengesellschaft aufs Heftigste. Der Dichter Kurt Tucholsky gilt als einer der bekanntesten Gesellschaftskritiker seiner Zeit. Und auch in der Musik sehen wir dieses Phänomen. Heute wissen wir, dass viele Komponisten in ihre Werke Kritik einbauten. Wir wissen, dass einige Komponisten ihre eigenen kleinen Revolutionen einfach vertonten. Musik kann gesellschaftliche und soziale Situationen hervorragend vertonen. Der Begriff „Politische Musik“ bezeichnet all die Musikstücke, die auf irgendeine Weise eine politische Aussage kommunizieren.

Kunst beugt sich keinem Diktat. Sie zeigt die Grenzen der Gesellschaft auf. Sie thematisiert Missstände, sie reflektiert Entwicklungen, sie regt zum Weiterdenken an. Das macht Kunst gerade in Krisenzeiten unentbehrlich.

Man kann also nicht sagen, dass alles, was nicht systemrelevant ist, keine wichtige und entscheidende Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Kunst macht einen großen Teil unserer Kultur und Bildung, unseres Selbstverständnisses aus. Sie schafft Verbindungen und Brücken zwischen Menschen. Und schlussendlich wirft sie immer auch einen fragenden Blick auf aktuelle Entwicklungen.

Systemrelevant oder nicht – weg darf die Kunst also auf keinen Fall!!

„Kultur ist die Öffnung des Verstands und des Geistes.“ – Jawaharlal Nehru

Was wir tun können

Willst auch du nicht, dass die Kunst verschwindet? Dann unterstütze die Theater – im LTT sind zwar nur kleine Zuschauerzahlen erlaubt, aber Theatersport und Poetry-Slams kann man sich trotzdem wieder anschauen. Museen haben wieder geöffnet. In Reutlingen darf sogar ein Jugendorchester ein Konzert geben!

Informiert euch und gönnt euch mal einen Abend Kultur! Für euch und für die Gesellschaft.

Außerdem suchen auch Schulorchester in Baden-Württemberg Unterstützung: Diese Petition richtet sich gegen das Verbot von Musik AGs an Schulen.

Fotos: Clara Eiche

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