Erasmus: Die meisten Studenten stolpern zumindest einmal im Laufe ihrer Universitätslaufbahn über diesen Begriff. Und einige von uns ergreifen sogar die Chance, die Hörsäle eines anderen Landes zu erkunden. Doch was ist, wenn man sich in seinem Auslandsjahr einen Ticken zu wohlfühlt und der Moment des Kofferpackens zum absoluten Albtraum wird?
Au revoir Paris
Noch vor ein paar Wochen wohnte ich in einem typischen französischen Altbau-Appartment mit hohen Decken und Wandfresken. Situiert im 14. Arrondissement lebte man direkt im Zentrum des Studentenlebens. Hier befinden sich internationale Wohnheime und die sogenannte Cité Universitaire de Paris. Was für einige vielleicht wie die Vorlage für die Beauxbatons Akademie für junge Hexen und Hexer dienen könnte, ist in Wirklichkeit Wohnheim, Mensa und soziales Gathering zugleich. Mit seinen 34 Hektar Fläche bietet es neben dem eigenem Theater, ein Café, mehrere größere Gärten und 45 weiteren kleineren Wohnheime, die jeweils in der traditionellen Bauweise des dargestellten Landes inspiriert sind.

Ein perfekter Ort für eine Erasmus-Studentin, die mit ihrem wackeligen Französisch und zwei großen Koffern angekommen ist. Elf Monate später, nachdem ich den französischen Unialltag und Klausurenphase durchgestanden, die Olympischen Spiele und die Fashion-Week miterlebt, Museen besucht und Freundeskreise gegründet habe, heißt es plötzlich: Aus! Meine zwei Koffer stehen wieder offen und ich bin umringt von doppelt so vielen Sachen.
Meine letzte Woche ist eine Art Trance und strukturiert durch viele Abschiede. Vor allem Umarmungen, die vielleicht die letzten sein werden für einige Jahre. Geschenke und Glückwünsche für das weitere Studium, meine Französischkenntnisse oder allgemein das Leben höre ich jeden Tag. Man bekommt den Eindruck in ein neues Land auszuwandern und nicht zurückzukehren. Die letzte Nacht vor der Abreise schlafe ich nicht, die Koffer, Tüten, Rucksäcke und provisorischen Befestigungen, die zusätzliche Sachen tragen sollen, stehen bereit. Als mein Freund und ich bepackt von Kopf bis zu den Zehen, sodass man mehr Gepäck als Menschen sieht, in der Metro stehen, höre ich, wie ein Mann im Anzug zu seinem Freund flüstert: diese armen Obdachlosen, und uns dabei direkt anguckt. Ich korrigiere ihn nicht, einerseits weil mir das Gewicht meiner um den Hals gehängten Bauchtasche die Luft abschnürt. Andererseits, weil ich mich tatsächlich ein wenig so fühle.

Le Redémarrage
Die Ankunft in Tübingen ist ein Sprung ins kalte Wasser – wortwörtlich. Denn als wir nach sechs Stunden, verschuldet durch die üblichen Unpässlichkeiten der DB, ankommen, habe ich gerade noch Zeit unter die Dusche zu springen und zu meinem Seminar zu hetzen. Und plötzlich stehe ich nicht mehr zwischen hohen, freskenverzierten Häusern, sondern in schmalen Gassen mit Studenten, die Fahrräder schieben und Joggingschuhe anstelle von Absatzschuhen tragen. Das Gefühl, eine Brille mit grauen Gläsern zu tragen, durch die alles im Vergleich zu Frankreich blass erscheint, wird mich in dieser Woche noch lange begleiten.

Die Bibliothek in Tübingen ist gepflegt aber ohne jegliche Verzierungen, kein Vergleich zu der hellgrün gestrichenen Bis-Bibliothek mit ihren massiven Holztischen, grünen Lampen und Bilder behangenen Wänden. Das Mensa-Essen erscheint im Vergleich zu den Drei-Euro-Menüs in Frankreich, in denen unbegrenztes Wasser, Vorspeise, Hauptmenü und Dessert die Norm sind, überteuert. Und selbst wenn ich in den Uni-Gruppenchat schaue, vermisse ich die Ankündigungen der Pariser Studenten, die versuchen die großen Events der Metropole für uns erschwinglich zu machen. Positiv denken! Aber es ist ein schwieriger Grundsatz, vielleicht weil Frankreich die Künste und dementsprechend die Geisteswissenschaften mehr fördert. Vielleicht aber auch weil mein Kopf sich noch nicht auf Deutsch umgestellt hat und ich meinen Kaffee auf Französisch bestelle.

La normalité de Tübingen
Vielleicht kennen dieses Gefühl auch andere Erasmus-Studenten*innen. Ich zumindest suche mental nach den negativen Aspekten des Austausches, um in einer verdrehten Weise meinem Mantra treu zu bleiben positiv zu denken. Zumindest kann ich die bürokratischen Hürden hier alleine meistern und alle meine Gedanken formulieren, ohne auf offener Straße eine Runde Pantomime spielen zu müssen.
Doch mein erster richtiger Lichtblick kommt in Form einer WhatsApp-Nachricht: „Hello, wie sieht´s denn morgen bei euch aus? Wollen wir uns sehen?“

Bis zu diesem Zeitpunkt lebe ich noch in Kisten und jeder Tag fühlt sich an, als wäre ich eine Kandidatin im Jungle Camp. Herausforderung eins ist morgens rechtzeitig alle Sachen zu finden, vor allem Socken, die sich in die tiefsten Ecken der Kartons verschlagen. Zweitens: Nicht zu spät zur Vorlesung kommen und meinem Gehirn eintrichtern, dass Deutsch eigentlich meine zweite Muttersprache ist und alle Worte normal klingen! Drittens: Sprich Deutsch! Versetze die Leute nicht in ihren Oberstufen-Französisch-Kurs-Trauma, das man in den unterschiedlichsten Formen des Entsetzens in ihren Augen sehen kann. Und zuletzt Kurse aufarbeiten und zumindest versuchen auf die acht Stunden Schlaf zu kommen. Aber Kaffee trinken mit Freunden hört sich gut an – mehr als gut – es fühlt nach ein wenig Heimeligkeit an.
L‘arrivée
Ist leider erlogen. Ihr verpasst die neu angefangene Sportart eurer Freude, den neuen Haarschnitt, den Streit und Versöhnung von Freunden und vielleicht sogar den neuen festen Freund. All diese Kleinigkeiten, die am Ende unser Leben ausmachen. All das werdet ihr verpassen, und wenn ihr wiederkommt, könnte es passieren, dass ihr euch in einer minimal anderen Realität wiederfindet. Vielleicht wirkt auch ihr auf eure Mitmenschen wie eine andere Version eurer selbst. In meinem Fall war es eine Version mit mehr Ruhe und mehr Klamotten von Rouje. Und die erste Woche wirkt vielleicht wie ein weit gestrickter Schal, der sich manchmal warm und manchmal zu eng um den Hals legt.

Fazit
Ich wünschte, ich könnte euch eines geben, aber es ist wirklich schwer. Der beste Vergleich, den ich finden konnte, hört sich ein wenig absurd an, aber: please stay with me here. Vielleicht kennen einige von euch den Mythos der Kugelmenschen. Diese zwei Wesen, die vier Arme und vier Beine hatten und Seelenverwandte waren, bevor Zeus sie auseinanderriss und voneinander trennte? Stellt euch vor, dieser Kugelmensch seid ihr vor dem Erasmus-bizarres Bild, aber das Beste, dass ich finden konnte. Danach gibt es zwei Versionen von euch. Die eine Version bleibt im Ausland und die andere kommt zurück, als ein Zwischenprodukt von euch selbst und der anderen Version. Gelegentlich werdet ihr die andere Version vermissen, die nur an diesem Ort existieren kann. Vielleicht weil ihr dort Leute gefunden habt, mit denen ihr euch so gut verstehen konntet, wie mit keinem zuvor. Vielleicht weil ihr dort über eure eigenen Komfortzonen hinaus steppen musstet, um weiterzukommen und daran gewachsen seid. Jedenfalls ist es ein kompliziert-süßes Gefühl. Und für jeden, der manchmal auch in die Ferne denkt, seid nett zu euch selbst. Neuanfänge sind schwer.
Beitragsbild: Jana Svetlolobov