Vergangenen Monat erschien die Serie Adolescence auf Netflix und wirft hitzige Diskussionen auf. Im Fokus stehen toxische Männlichkeitsbilder, Gewalt gegen Frauen und die Gefahr von frauenfeindliche Ideologien in sozialen Medien. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Warum richten sich Aufmerksamkeit und Mitgefühl fast immer auf die Täter, nicht auf die Opfer? Eine Analyse über Hass, Ungleichgewicht und eine verzerrte Medienrealität.
Dieser Artikel enthält Spoiler für die Serie Adolescence.
Womit die Diskussion begann
Die Miniserie besteht aus vier Folgen, die jeweils etwa eine Stunde lang sind. Alle Folgen wurden als One-Shot gedreht. Das heißt, es gibt keine Schnitte zwischen den Szenen und die Zuschauer*innen sehen alles in Echtzeit ablaufen. Seit die Serie erschien wird sie so ziemlich überall diskutiert: In Freundeskreisen, in Familien, und in England setzt sich sogar Premierminister Keir Starmer dafür ein, dass die Serie in Klassenzimmern gezeigt wird. Doch worum handelt es eigentlich in der Netflix Hit Show?

Zu Beginn ist es noch einfach Mitleid mit dem 13-jährigen Jamie Miller zu haben, der soeben in Handschellen von seinem Zuhause zur Polizeistation gebracht wird. Seine Eltern und seine Schwester werden ebenso schlagartig aus ihrem Alltag gerissen. Es ist undenkbar, dass dieser Junge, der kaum redet und sich den Umständen entsprechend ruhig verhält, schuldig sein soll wofür er verhaftet wurde. Denn Jamie soll seine Mitschülerin Katie Leonard umgebracht haben, am Abend bevor die Serie beginnt. Allerdings wird schnell klar, dass Jamie kein bemitleidenswerter Mensch ist. Ganz im Gegenteil: Er ist kalt, wütend und manipulativ. Spätestens in der dritten Folge, bei dem Gespräch mit seiner Psychologin, erkennt man seine wahren Seiten. Er hat explosive Wutausbrüche, die ihn dazu bringen sein Getränk und einen Stuhl durch den Raum zu werfen, und scheint keinen Respekt ihr gegenüber zu haben.
Die Handlung der Serie ist fiktiv, doch der Regisseur Philip Barantini erklärte in einem Interview mit dem Magazin The Wrap, dass er von wahren Begebenheiten inspiriert wurde.
„I’d read an article in the paper about a young boy stabbing a young girl (…) It made me feel a bit cold. Then about three of four months later, there was a piece on the news about a young boy who’d stabbed a young girl. They are young boys, they’re not men. And it was completely the opposite end of the country.”
Philip Barantini in the Wrap über die Inspiration zur Serie Adolescence.
Die Serie zeigt wie gefährlich toxische Männlichkeit sein kann und wie immer mehr Jungen und Männer der Manosphäre verfallen. Diese radikalisieren sich auf antifeministische Art und Weise und sehen Frauen als ihre Feinde an.
Wie kann es so weit kommen?
Obwohl Jamie der Täter in der Serie ist, ist er ebenfalls Opfer einer radikalisierten Internetkultur. Und zwar der sogenannten Manosphäre und dem toxischen Incel Gedankengut, das auf sozialen Medien existiert. Die Incel Kultur und Manosphäre auf Social Media existieren seit geraumer Zeit und sind nicht nur gefährlich für junge Männer, sondern vor allem auch für Frauen.

Der Begriff Incel leitet sich von den beiden englischen Wörtern „involuntary“ und „celibate“ ab. Es steht als für involuntary celibate, was auf deutsch so viel bedeutet wie „unfreiwillig enthaltsam“ bedeutet. Mit diesem Worten identifizieren sich immer mehr Jungen. Männer, die sich als Incel bezeichnen, denken, dass Frauen ihnen Liebe, Aufmerksamkeit und Intimität schuldig sind, sie dies aber nicht abbekommen, weil sie laut eigener Aussage zu hässlich seien. Diese Denkart ist extrem gefährlich. Nicht nur weil es Frauen schlicht und einfach objektifiziert, sondern dadurch auch tiefe Frauenfeindlichkeit entwickelt wird.
Incel Influencer wie beispielsweise Andrew Tate, der auch in der Serie erwähnt wird, helfen dabei, junge Männer zu radikalisieren. Sie sprechen sich aktiv gegen den Feminismus aus, und sprechen von Alpha Männern. Ein Alpha Mann ist ein idealer Prototyp eines Mannes. Er ist muskulös, groß, gutaussehend, und wird von seiner Partnerin vergöttert. Jeder Mann der diesem Prototyp nicht entspricht, ist automatisch weniger wert und wird dadurch nicht begehrt. In Adolescence wird zudem die 80/20 Theorie angesprochen. Diese besagt, dass 80% der Frauen nur 20% aller Männer begehren würden. Dies führt dazu, dass alle Männer, die nicht dem Prototyp Alpha Mann entsprechen, sich unbegehrt fühlen, was den ohnehin schon vorhandenen Frauenhass weiter antreibt.
Anstieg von geschlechterspezifischer Gewalt gegen Frauen
Ein Lagebild des Bundeskriminalamts bestätigt diese Radikalisierung. Zwischen den Jahren 2022 und 2023 stieg in Deutschland die Menge an registrierten Straftaten, die geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtet sind, um 56,3%. Ob häusliche Gewalt, Sexualstraftaten, digitale Gewalt oder Femizide, es werden jährlich immer mehr Frauen zu den tragischen Opfern geschlechterspezifischer Gewalt. Das BKA definiert „Geschlechterspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ folgendermaßen: „Straftaten der Hasskriminalität, welche aufgrund einer von Vorurteilen gegen Frauen oder das weibliche Geschlecht geleiteten Tatmotivation heraus begangen werden. Die Taten können sich auch gegen ein beliebiges Ziel richten, sofern ein frauenfeindliches Vorurteil als Tatmotivation zugrunde liegt.“

Das Lagebild stellte BKA-Vizepräsident Michael Kretschmer am 19. November 2024 gemeinsam mit der Bundesinnenministerin Nancy Faeser sowie der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus, in Berlin vor. Dabei betonte Michael Kretschmer, dass Hass und Gewalt gegen Frauen zunehmende gesellschaftliche Probleme sind, wie sich anhand der steigenden Zahlen zeigt. Es gelte daher auf Seiten der Sicherheitsbehörden, die Entwicklung der Zahlen genau zu beobachten, Tathintergründe zu erkennen und aufzuklären sowie vor allem konsequent gegen Täter vorzugehen.
Eine Stimme für die Opfer von Gewalt
Während es definitiv wichtig ist, auf die Gefahren in den sozialen Medien aufmerksam zu machen, ist es noch viel wichtiger, über die Opfer männlicher Gewalt zu sprechen. Adolescence stößt zwar eine hitzige gesellschaftliche Debatte an, doch kaum jemand redet über Katie: das Mädchen, das in der Serie getötet wurde. Zwar wird in der Serie viel über sie geredet, auch die Reaktion ihrer Mutter auf den Mord wird gezeigt, allerdings geht Katie in Rezeption in der realen Welt fast unter. In Artikeln und Kommentaren bleibt sie oft namenlos, fast vergessen – wird nur als „die Mitschülerin“ betitelt.
In der zweiten Folge der Serie sind die Polizisten DI Luke Bascombe und DS Misha Frank, diejenigen die für Jamies Fall verantwortlich sind, an der Schule der beiden Kinder. Schnell wird klar: Die Mitschüler:innen sind mehr an Jamie als an Katie interessiert. Der Polizistin Misha Frank fällt dies ebenfalls auf. „Im Scheinwerferlicht steht immer der Täter,“ sagt sie, als ihr Partner sie darauf anspricht, ob alles okay bei ihr sei. „Katie spielt keine Rolle, Jamie schon. Jamie wird in Erinnerung bleiben, Katie wird man vergessen. Das macht mich wütend.“ Das ist oftmals leider die traurige Wahrheit der Opfer geschlechterspezifischer Gewalt.
Denn in der Realität wird bei Femiziden mehr über den Täter berichtet, als über das Opfer. Christine Meltzer stellte in der Studie der Otto Brenner Stiftung fest, dass Medien Gewalt gegen Frauen meist nur als isolierte Einzelfall darstellen anstatt als strukturelle Taten mit gesellschaftlichen Hintergründen. Die Studie fand des Weiteren heraus, dass die Perspektive des Täters und seine Motive deutlich mehr im Zentrum standen als die der Opfer.

Es ist wichtig den Opfern eine Stimme zu geben. Nicht nur in fiktionalen Erzählungen, sondern vor allem in der realen Welt. Sie haben das Recht darauf, nicht auf ihre Rolle im Verbrechen reduziert zu werden, sondern als Menschen mit einer eigenen Geschichte sichtbar zu bleiben. Ihre Namen, Träume und Lebensrealitäten dürfen nicht im Schatten der Täter verschwinden. Gerade Medien tragen hier eine enorme Verantwortung: Sie sollten Missstände nicht nur dokumentieren, sondern auch einordnen, aufklären und den Fokus bewusst auf die Opfer richten. Nur so kann öffentliche Aufmerksamkeit geschaffen werden, die nicht Täter glorifiziert, sondern Solidarität mit Betroffenen zeigt und gesellschaftlichen Wandel unterstützt.
Was bleibt von der Serie? Ein Fazit
Adolescence bietet nun einen gewaltigen Denkanstoß für unsere Gesellschaft. Die Serie dient als Aufruf für Sicherheit junger Menschen auf sozialen Medien und regt gleichzeitig zu Diskussionen um die Opfer der Incel Kultur an. Es dürfte noch ein langer Weg werden, bis die Incel Kultur ausstirbt, doch gerade deswegen ist es umso wichtiger über deren Gefahren zu reden und darüber aufzuklären. Nur somit kann man die Radikalisierung junger Männer am Ursprung bekämpfen und eine wichtige Grundlage für eine sicherere Gesellschaft schaffen.
Beitragsbild: Netflix