Kultur

¡Sí a la vida! – Beim Cine Latino 2023

Wie jedes Jahr war es auch diesen Mai wieder so weit: Sieben Tage lang durfte man in Tübingen, Stuttgart, Freiburg und Reutlingen in die Welt des spanischen Films eintauchen. 31 Filme, davon acht aus Spanien und 23 aus Lateinamerika, verzauberten eine Woche lang das Publikum.

„Das Kino ist ein Spiegel, durch den wir uns selbst betrachten“, sagte der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu einmal, denn Filme geben uns die Möglichkeit, uns vorzustellen, wie das Leben sein könnte. Eben deshalb sind Filmfestivals so wundervoll: Weil sie uns vorbehaltlos in andere Lebenswelten entführen, und zwar nicht nur für zwei Stunden, sondern für eine ganze Woche. Einige der Werke will ich hier vorstellen.

Der erste Film, Fridas Sommer (Estiu 1993) führt das Publikum nach Katalonien, wo die Perspektive einer unbeschwerten Kindheit vor den Augen der sechsjährigen Frida zerbricht, als ihre Mutter an einer Lungenentzündung verstirbt. Sie soll fortan bei ihrer Tante Marga und ihrem Onkel Esteve leben, die mit ihrer kleinen Tochter Anna auf dem Land wohnen. Die beiden empfangen die kleine Frieda voller Liebe und Fürsorge und tun alles dafür, ihr zu ermöglichen, vom Verlust ihrer Mutter zu heilen. Trotzdem fühlt sich Frida von oben herab behandelt. Sie ist ein wenig gebieterisch und will sich von Erwachsenen nichts sagen lassen. „Sterben in Spanien noch Leute an Lungenentzündungen?“, heißt es von einer Nachbarin von Marga und Esteve. Es ist nur eine von vielen unbedachten Bemerkungen von Erwachsenen, die Frida über ihren Kopf hinweg hören wird.

Ihre Trauer lässt sich Frida nicht anmerken. Ihre Gesichtsausdrücke sind eisern und sie erlaubt ihrer Tante selten, ihr emotional nahezukommen. Frida spielt das brave Kind, vergnügt sich im Hof mit ihrer deutlich jüngeren Cousine Anna, ein kleines Mädchen, das gerade alt genug ist, ohne elterliche Aufsicht das Haus zu verlassen. Häufige Arztbesuche und Bluttests machen Frida zu schaffen, außerdem fühlt sie sich zweitrangig in der Familie, in die sie im Grunde gegen ihren Willen gesteckt wurde. Dennoch scheint ein kleines Familienidyll eingekehrt zu sein, denn Anna akzeptiert Frida schnell als große Schwester, und zunächst schafft sie es, ihre Gefühle hinter ihrer neuen Rolle zu verstecken.

Frida und ihre kleine Cousine Anna sitzen auf einem Heuballen nahe dem Haus.
Anna (links) mit ihrer neuen großen Schwester Frida (rechts). Bild: Cine Latino

Doch schon bald trübt sich das Bild des Idylls, das Marga und Esteve so bemüht sind aufrechtzuerhalten. Die kleine Frida, dem Publikum als unschuldiges und viel zu früh mit der Wahrheit des Lebens konfrontiertes Kind bekannt, findet nach und nach Möglichkeiten, ihre Gefühle zu kanalisieren. Sie beginnt, ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit an Anna auszulassen, lässt sie beim Versteckspiel vorsätzlich im Wald zurück und erlaubt so, dass sie sich einen Arm bricht; bringt sie dazu, beim Spielen am Weiher ohne Schwimmflügel ins Wasser zu springen. „Willst du sie umbringen? Weil das ist das, was du gerade machst“, schreit Esteve sie an. Marga und er befinden sich in einer Zwickmühle: Wie gehen sie damit um? Langsam beginnen sie, sich emotional von Frida zu distanzieren, doch diese erträgt tapfer die Belehrungen ihres Onkels. Nur keine Emotionen zeigen, scheint ihr Mantra. Sie fühlt sich nicht geliebt, zu Unrecht, denn diese Chance hatten die beiden ihr von Anfang an bieten wollen. Einem Neuanfang entkommt Frida dennoch nicht. Überfordert von dem Dilemma bricht sie schließlich.

Das Leben geht weiter

Trotz der Erniedrigungen, vor allem durch sich selbst, die Frida im Weg stehen, ist es ein heiterer Film, der einen Wärme spüren lässt und zeigt, dass das Leben immer weiter geht.
Dass man nicht so einfach aufgibt, lernt auch Ramona in dem Film Matria. Die Mutter einer 18-jährigen Tochter stammt aus einem Fischerdorf im Nordwesten des Landes, ganz am anderen Ende von Spanien, wo es, im Gegensatz zu Katalonien, praktisch dauernd regnet. Blau-, Grau- und Grüntöne dominieren die Bilder, zwischen denen sich Ramona durch das Schlamassel ihres Lebens kämpft. Als eine Frau, die sich von Job zu Job kämpft und immer alles für ihre Tochter gegeben hat, hat sie eine enorme Widerstandsfähigkeit entwickelt, und ihre kratzige Raucherstimme und die zackigen Konsonanten der galizischen Sprache, in der der Film gedreht ist, machen sie zu einer selbstbewussten und dynamischen Heldin, die der rauen Gegend, aus der sie stammt, geradezu gleicht. Als der Leiter der Fabrik, in der sie als Reinigungskraft arbeitet, versucht, ihr und ihren Mitarbeiterinnen beizubringen, dass ihr Lohn nun auf fünf Euro pro Stunde gesenkt wird, zieht die impulsive und oft schnell entschlossene Ramona die Reißleine und kündigt.

Ramona in einem gelben Regenmantel vor dem Atlantischen Ozean
Den Mut, weiterzumachen, verliert Ramona nie, trotz aller Rückschläge. Bild: Cine Latino

Am Rande ihrer eigenen Existenz, und dennoch voller Energie und Willenskraft, schlägt sie sich durch, als Pflegerin bei einem alten Mann, dessen Frau kurz zuvor verstorben ist. Hin und wieder sieht sie ihre Tochter, die gerade 18 geworden ist und bereits beschlossen hat, dem Haus ihrer Mutter und deren trotteligen, lethargischen Liebhaber den Rücken zu kehren. Sie lehnt die Zuwendungen ihrer Mutter ab, denn sie weiß, dass diese selbst kaum Geld hat. Ramona beginnt sich zu fragen, was sie eigentlich noch in diesem Dorf zu suchen hat, in dem sie nichts mehr hält.

Aufbruchstimmung

Ramonas finale Entscheidung lehrt das Publikum, dass es Mut braucht, um das Leben in die Richtung zu lenken, in die man gehen will. Dass  das nicht immer alles so ist, wie man es will, zeigt auch der Film  20 000 Especias de Abejas (20 000 Arten von Bienen). Er zeigt die Reise zum Ich eines Kindes aus dem französischen Baskenland, das unter vielen Namen bekannt ist: Aitor nennt es die Mutter, Cocó die Freunde, und Lucía will es selbst genannt werden. Dass Lucía es schwer hat und ihre Gedankenwelt viel zu groß und turbulent für ihr junges Alter ist, zeigt sich durch die Verschwiegenheit und die Zurückhaltung, die sie an den Tag legt, als sie mit den Eltern und Geschwistern die Familie im spanischen Teil des Baskenlandes besucht.

Lucía und ihre Mutter im Schlafzimmer
Lucías Mutter versucht, zu ihr zu stehen, und tut sich doch schwer damit. Bild: Cine Latino

Ihre Tante ist Imkerin und lehrt Lucía viel über die Bienen. Nur dort fühlt sie sich wirklich wohl, die Bienen beruhigen sie: Ein Schwarm, in dem alle gleich sind. Dass der Konflikt mit der Identität nicht nur im Inneren stattfindet, zeigt sich auch darin, dass Lucía andauernd von Menschen abwechselnd mit él und ella angesprochen wird, selbst von denen, die nichts von dem Konflikt mit ihrer Geschlechteridentität wissen. „Denkst du, als ich in Mamas Bauch war, ist etwas schiefgelaufen?“, fragt sie abends beim Zubettgehen ihren Cousin Eneko, als die Stille der Nacht sie wieder einmal in ihre Gedankenwelt schickt. Wird sie den Mut aufbringen, ihrer Mutter klarzumachen, wie sie gesehen werden will?

Der Mut, zu sich selbst zu stehen

Irgendwann schafft es Lucía, den Großen in Worte zu fassen, warum sie sich anders fühlt. Der Film charakterisiert den Kampf mit sozialen Normen auf eine angenehme und empathische Weise durch die Augen eines Kindes, das eigentlich zu jung ist, um sich Gedanken um Fragen wie „Wer bin ich?“ machen zu müssen.
Auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans, in einer scheinbar ganz anderen Welt, beweist ein Mann, dass er ebenso Durchhaltevermögen aufbringen kann: Seit Jahrzehnten lebt Virginio, der störrische Rancher aus Utama – Ein Leben in Würde, mit seiner Frau Sisa und einer Horde Lamas auf einer Hochebene in Bolivien. Geregnet hat es vor über einem Jahr zum letzten Mal. Die Hoffnung gibt er allerdings nicht auf, und auch, wenn alle anderen aus der Umgebung bereits in die Dörfer oder sogar die Stadt gezogen sind, auch wenn der Weg, den seine Frau tagtäglich zum Bach laufen muss, jeden Tag länger scheint, ist er fest von seinem Leben in der Steppe des Hochlandes überzeugt.

Da hilft es auch nicht, dass plötzlich sein altkluger Enkel Clever aus der Stadt zu Besuch kommt, und ihn anfleht, doch auch dorthin zu kommen. „Dich hat doch bestimmt dein Vater geschickt!“, meint Virginio, niemals würde er in die Stadt gehen. Die Kluft zwischen ihm und Clever ist spürbar, der junge Mann scheint in einem gänzlich anderen Jahrhundert zu leben. Er trägt Kleidung aus einem Geschäft, hat ein Handy und spricht Spanisch, während seine Großeltern traditionelle Gewänder tragen und Quechua sprechen, die wohl am weitesten verbreiteten indigene Sprache Südamerikas (Utama ist Quechua für „Unser Zuhause“).

Virginio sitzt auf einem Felsen nahe seines Hauses
„Landschaft“ wäre noch ein Kompliment für das karge Geröllfeld, das bis zum Horizont reicht und Virginios und Sisas Heimat ist. Bild: Cine Latino

Der Film entführt uns in eine Realität, die für uns kaum greifbar erscheint. Gerade deshalb ist Utama so innovativ und erfrischend, denn es zeigt einen Konflikt, den wir zwar auf einer menschlichen Ebene nachvollziehen können, dessen Hintergründe wir jedoch kaum verstehen. Das zeigt sich auch darin, dass der Film trotz hohen Potenzials, auf den Klimawandel einzugehen, kein bisschen politisiert, denn es geht viel eher um den Generationenkonflikt und Virginios Glaube an Regen als um das Klima. Der Film, der beim Sundance Film Festival den World Cinema Grand Jury Prize gewonnen hat, ist ein visuelles Spektakel, das das Publikum mit mächtigen Bildern der Steppe lockt, die von Tag zu Tag lebensfeindlicher zu werden scheint.

Eine andere Lebenswirklichkeit

Der Regen hat bereits nachgelassen, als ich das Kino verlasse. Es tröpfelt noch ein bisschen, und feuchte Luft erfüllt meine Lungen, während ich am Bota entlang gehe. Was für ein Privileg, denke ich plötzlich. Zugang zu Wasser ist bei uns natürlich selbstverständlich, ganz anders als in Bolivien und anderen Regionen Südamerikas. Ein weiteres Beispiel ist Chile, wo Wasser laut Verfassung in das Aufgabengebiet der Privatwirtschaft fällt. Das liegt daran, dass in dem Land immer noch die Verfassung gilt, die 1981 von dem neoliberalen Diktator Augusto Pinochet erlassen wurde. Um den Kampf der Chileninnen und Chilenen mit dem Kurs ihres Landes ging es in der Dokumentation El Efecto Ladrillo – Der Backstein-Effekt, die dem Publikum Einblick in die Lebenswelt von zwei Menschen gibt, die die Diktatur ganz unterschiedlich erlebt haben: Ramiro Urenda, der es geschafft hat, aus Pinochets wirtschaftsfreundlicher Politik Profit zu schlagen, und Mariana San Martín, eine Lehrerin, die aus der Armut stammt und sich auch im Chile der 2020er-Jahre nicht wohlhabender fühlt, trotz 32 Jahren Demokratie. Mehr über den Film und die spannende Geschichte der Protestbewegung könnt ihr hier in unserem Artikel darüber lesen.

Eine Demonstration in Santiago de Chile, 2019
2019 eskalierten in Chile die Proteste gegen die Ungleichheit. Bild: Cine Latino

Viele Länder Lateinamerikas stecken seit Jahren in der Krise. Wie man damit umgeht, ist jedem selbst überlassen. Julio, der mittelmäßig erfolgreiche Bandoneon-Spieler in Adiós Buenos Aires beschließt jedenfalls, dass ihm die Krisen und die Korruption, die in Argentinien allgegenwärtig sind, zu viel geworden sind, und macht den Plan, nach Deutschland auszuwandern. Den vier Kumpanen in seiner Tango-Band sagt er davon vorerst nichts, denn diese haben es alle schwer, sie haben es satt, für ihre Auftritte in Empanadas bezahlt zu werden. Um ihre Erfolgschancen zu erhöhen, holen sie den alternden Tango-Sänger Ricardo an Bord, der froh ist, aus dem Seniorenheim zu entkommen.

Nichts als Chaos!

Julio ist fast bereit, das Land zu verlassen, er will nur noch sein Auto verkaufen. Natürlich gerät er dann allerdings in einen Unfall mit der Taxifahrerin Mariela, die ihn nach Verlust seines Autos auf unbestimmte Zeit herumfahren muss: Das Schicksal hat anderes für ihn vor. Nach dem Unfall erfolgt wenige Tage später ein Beschluss des Finanzministers, dass jeder zur Sicherung der Geldmenge nur noch 250 Pesos pro Tag abheben darf. Damit ist Julios Plan im Grunde besiegelt, und er verbringt die Zeit, die seine letzten Tage in Argentinien hätten sein sollen, damit, sich mit seiner Musikgruppe durch Buenos Aires zu schlagen, denn mit Ricardo an der Seite entsteht plötzlich mehr Interesse an der Musik der Männer. Es ist ein argentinischer Feel-Good-Film, der etwas kitschig ist, und trotzdem, gefüllt mit lateinamerikanischem Humor und Temperament, garantiert für eine gute Zeit sorgt.

Julio und seine Tango-Band bei einer Probe
Julio (sitzend, vorne) mit seinen Freunden und Bandmitgliedern. Bild: Cine Latino

Adiós Buenos Aires war der Abschlussfilm des Cine Latino, der am Mittwochabend in einem fast vollbesetzten Kinosaal gezeigt wurde. Anwesend war auch German Kral, der Regisseur des Films, der mit hervorragender Laune vom Entstehungsprozess des Werkes erzählte. Dennoch hatte er auch eine Mahnung: „Solche kleinen Filme haben es heute wirklich schwer“, erzählte der Argentinier, der in Deutschland studiert hat und seit den Neunzigerjahren hier lebt. „Empfehlt den Film daher unbedingt euren Freunden und Feinden weiter!“, sagte er lachend. Adiós Buenos Aires läuft ab sofort regulär im Kino Museum, kann also in den kommenden Wochen noch gesehen werden.

Der Abend bildete einen würdigen Abschluss für das diesjährige Cine Latino, das mit fröhlichen und dramatischen, temperamentvollen und szenischen Filmen das ganze Spektrum der komplexen spanischen und lateinamerikanischen Kultur abbildete. ¡Sí a la vida!, ja zum Leben, hätte das Motto des Festivals sein können, dessen witzige, urige, aber auch ernsthafte und gewillte Charaktere zeigten, dass das Leben etwas Wunderbares ist, und dass Kino eine der besten Möglichkeiten ist, die Vielfalt der menschlichen Existenz darzustellen.

Kinokarten
Eine Woche voller Eindrücke geht zu Ende. Bild: Jan-Lukas Weiss

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