Kultur

Rambo-Komödie aus Dänemark – “Helden der Wahrscheinlichkeit” im Sommernachtskino

Am Sonntag hieß es wieder einmal: Filmabend im Sommernachtskino! Unter klarem Himmel und bei sommerlichen Temperaturen erwartete die Zuschauer “Helden der Wahrscheinlichkeit” – eine “Schwarze Komödie mit schrägem Humor” aus Dänemark. So stand es zumindest im Programm. Doch von Helden war in diesem Film kaum eine Spur.

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages tauchen den Tübinger Ammerpark hinter dem Technischen Rathaus in ein warmes Licht. Nach und nach füllen sich die Reihen vor der großen weißen Leinwand. Der Duft von frischem Popcorn erfüllt die Luft. Nach einem kurzen Werbeintro und der Begrüßung durch den Vorsitzenden vom Sommernachtskino, Carsten Schuffert, geht es auch schon los. Der virtuelle Vorhang der großen Projektionsleinwand öffnet sich und zeigt diffuse Szenen aus dem dänischen Alltag, die nicht so richtig zusammenpassen wollen. Hier ein Fahrraddiebstahl, dort eine Familienunterhaltung. Wie hängt das zusammen?

Wenig später lernt das Publikum Otto (Nikolaj Lie Kaas) kennen. Er ist schwer verliebt – nicht in eine Person, sondern in Zahlen und Rechenwege. Statistiken aufzustellen ist seine heimliche Leidenschaft. In seinem Job als Mathematiker entwickelt er Algorithmen, die Verbrechen vorhersagen sollen, bevor diese überhaupt erst geschehen. Doch auch nach langer Arbeit produziert sein Programm kaum statistisch belastbare Ergebnisse. Seine Auftraggeber, die im Film ohne Namen auftreten, werden misstrauisch, ob sich die Investition überhaupt lohnen würde. Kurz darauf ist Otto seinen Job los. Auf dem Weg nach Hause steigt er in eine S-Bahn. Ziemlich unspektakulär bisher, aber, wie sich herausstellen würde, findet hier das auslösende Ereignis statt, das die bisher eher diffuse Handlung zusammenführt und (buchstäblich) in Fahrt bringt.

Die dänische S-Bahn (S-tog), wie sie auch im Film vorkommt.

Katastrophe in der S-Bahn

Der Zug ist sehr voll. Mathilde (Andrea Heick Gadeberg) – eine Teenagerin, deren Fahrrad gestohlen wurde – steigt mit ihrer Mutter in die S-Bahn ein. Als Otto die beiden sieht, bietet er seinen Platz an. Die Mutter setzt sich, ein freundlicher Blickwechsel findet statt. Eine Sekunde darauf – Katastrophe! Die S-Bahn kollidiert auf brutale Weise mit einem anderen Zugteil. Als Otto nach der Havarie langsam zu sich kommt, kann er es nicht fassen: die Seitenwände sind komplett herausgerissen. Dort, wo eben noch die Sitzreihe war, erblickt man nur noch Glassplitter und defekte Kabel. Er wollte doch nur freundlich sein, dabei hat er eine Frau in den sicheren Tod befördert. Schlechtes Gewissen quält ihn, als er im Krankenhaus mit ansehen muss, wie die Tochter vom Tod ihrer Mutter erfährt. 

Markus (Mads Mikkelsen) tröstet seine Tochter (Andrea Heick Gadeberg) nach dem Unfalltod seiner Frau.

In seiner Wohnung angekommen, erfährt er daraufhin in den Nachrichten, dass bei dem Unglück auch der Kronzeuge und dessen Anwalt im Prozess gegen eine kriminelle Bikergang umgekommen sind. Otto wird stutzig. Das kann kein Zufall sein. Viel zu gering ist die Wahrscheinlichkeit, dass solch ein Ereignis einfach so passiert. Otto ist der festen Überzeugung, dass hinter der Kollision eine kalkulierte Straftat steckt. 

Als er mit seiner Theorie zur Polizei geht, wird er nicht ernst genommen. Also sucht er seine beiden Freunde und Nerd-Kollegen Lennart (Lars Brygmann) und Emmenthaler (Nicolas Bro) auf. Gemeinsam durchstöbern sie die Chatverläufe und Mitgliedsbiographien der Bikergang “Riders of Justice” nach Indizien für die Planung eines möglichen Anschlages. Sie suchen Markus (Mads Mikkelsen), den verwitweten Mann der verunglückten Frau, auf und zeigen ihm, welche Indizien sie gefunden haben. Sie müssen ihn nicht überzeugen, die Jagd nach den vermuteten Tätern aufzunehmen. Als Berufssoldat jagt er schließlich Schurken auf alltäglicher Basis. Und diese Angelegenheit ist persönlich.

Zusammenspiel der Kontraste

Drei Computernerds und ein dänischer Rambo, der seine Frau rächen will – zugegebenermaßen könnten die portraitierten Charaktere im Film kaum unterschiedlicher sein. Doch so komisch (und un-wahrscheinlich) diese Mischung auch anmuten mag, alle verbindet eines – der Glaube an Kausalität, der Glaube an einen Grund für diesen tragischen Vorfall. Sie ertragen es nicht, dass eine Unschuldige einfach nur durch brutalen Zufall gestorben ist. Doch es dauert nicht lange, bis das Streben nach ausgleichender Gerechtigkeit in Wahnsinn umschlägt – und noch mehr Menschen müssen sterben. Es ist wohl kaum eine Übertreibung, wenn man das Massaker dieses Films mit dem Ausmaß von Shakespeares Hamlet vergleicht – da ist mächtig was faul im Staate Dänemark.

Die “Helden der Wahrscheinlichkeit” planen ihren Rachefeldzug.

Doch es sind nicht die inszenierten Actionszenen und Schusswechsel, die diesen Film so interessant machen. “Helden der Wahrscheinlichkeit” sticht vielmehr dadurch hervor, dass in ihm größte Kontraste vereint werden. In seinem Drehbuch schreckt der dänische Regiesseur Anders Thomas Jensen nicht vor den tiefsten Abgründen menschlicher Existenz zurück. Er zeigt auf, was toxische Männlichkeit und Rachsucht aus Menschen machen machen kann – und wie hilf- und machtlos die Stimmen der Vernunft dabei sind. 

Kontroverse Inszenierung

Nichtsdestotrotz kann man sich über den Stil des Films streiten. Das Zusammenbringen solch unterschiedlicher Charaktere und Klischees im Angesicht dieser Tragödie äußert sich hier nicht nur in Konfliktpotenzial, sondern vor allem in sehr, sehr schwarzem Humor. So kommt “Helden der Wahrscheinlichkeit” als eine Art Thriller-Komödie daher und macht es dem Publikum nicht gerade leicht, die Handlungen und Motive der Hauptcharaktere ernst zu nehmen. An einigen Stellen weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Immerhin aber bleibt der Film der schlichten Ästhetik des dänischen Landlebens treu, das im Angesicht der rasanten Handlung angenehm entschleunigend wirkt. Ein weiterer Kontrast, den Jensen hier durchaus geschickt visuell einsetzt.  

Nach der Vorstellung aber merkt man, wie sehr das Publikum von der kontroversen Inszenierung aufgeladen ist – und das trotz später Stunde. Von der ruhigen Atmosphäre vor dem Film ist im Tübinger Ammerpark kaum mehr etwas zu spüren. Stattdessen finden lebhafte Diskussionen statt, Gläser klirren und die Tribüne ächzt unter den schnellen Schritten der Leute. Alles nur Zufall? Ich glaube nicht!

“Helden der Wahrscheinlichkeit” ist 2020 in dänischer Produktion erschienen. Den Trailer zum Film gibt´s hier zum Nachschauen.

Das Sommernachtskino läuft noch bis zum 13.08.2022 und zeigt neben zahlreichen Filmen auch Konzerte, Comedy und Impro-Theater. Ein Blick ins Programm lohnt sich. Tickets sind nur online im Vorverkauf erhältlich.

Fotos: Bild 1:  Foto: Kurt Rasmussen / Wikimedia Commons; Bild 2 und 3: Splendid Film; Beitragsbild: Hagen Wagner

Aus rechtlichen Gründen musste auf Abbildungen aus dem Film verzichtet werden.

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