Warum die Deutschen Judenfiguren für ihr Gedächtnistheater missbrauchen und wir nicht mehr von Leitkultur sprechen dürfen, erklärt der Lyriker, Berliner und Jude Max Czollek bei der Lesung aus seinem Buch „Desintegiert euch“ im LTT. In seiner Streitschrift prangert er an, wie wir über den Nationalsozialismus reden und fordert radikale Vielfalt anstatt Anpassung. Bei der Fragerunde äußert er sich unter anderem zur Umbenennung der Universität Tübingen.
In der Werkstatt des Landestheaters Tübingen ist am Montag, dem 25. Juli jeder Platz besetzt. Die Lesung findet im Rahmen der Reihe „Aber was ist nicht politisch?“, einem Begleitprogramm rund um Sophie Scholl statt. In mehreren Veranstaltungen beleuchtet das LTT die Widerstandskämpferin von verschiedenen Seiten. Das Ziel ist es, Sophie Scholl besser kennenzulernen, aber auch andere Kämpfende an ihre Seite zu stellen. Hierzu lud das LTT den Berliner Autor Max Czollek dazu ein, aus seiner 2018 erschienen Streitschrift „Desintegriert euch!“ zu lesen.
Integrationstheater
Czollek erzählt, die Ideen zu dem Buch sammelte er seit 2015, doch der Auslöser für die Veröffentlichung sei die Bundestagswahl 2017 gewesen, bei der die AfD mit 12,6% drittstärkste Kraft war. „Es hat sich angefühlt, als stünden wir vor einem Scherbenhaufen“, beschreibt Czollek. „Und das schlimmste war, dass wir die AfD so hingenommen haben, als wäre nichts. Am deutschen Selbstbild hat nichts geändert.“ Damit kritisiert Czollek nicht nur die neuen Rechten, sondern vor allem die bürgerliche Mitte. Die AfD ist für ihn ein „Nebenschauplatz“, der den Rechtsruck im gesamten Parteienspektrum verdeutlicht.
“Die Integration impliziert, es gäbe einen essenziellen Unterschied zwischen denen, die schon hier sind, und denen, die neu dazu kommen.”
Max Czollek, Autor von “Desintegriert euch!”
In seinem Buch kritisiert Czollek die deutsche Selbstgefälligkeit, die den Integrationsdiskurs beherrscht. Deutsche halten sich selbst nicht für rassistisch und behaupten, sie hätten ihre Lektion durch den Nationalsozialismus gelernt. Gleichzeitig maßen sie sich an, zu bestimmen, wer zu Deutschland gehören darf, und verlangen, jeder solle sich an ihrer Leitkultur orientieren. „Die Integration impliziert, es gäbe einen essenziellen Unterschied zwischen denen, die schon hier sind, und denen, die neu dazu kommen. Sie erschafft ein ‘Wir und Ihr’“, erklärt Czollek am Abend der Lesung. „Die Forderungen, die bei der Integration gestellt werden, folgen keinen empirischen Kriterien. Sie dienen dazu, sich von Dritten abzugrenzen – denen mit der falschen Religion.“
Gedächtnistheater
Als Theater interessiert sich das LTT besonders dafür, was Czollek unter dem Begriff Gedächtnistheater versteht. Diesen verwendet er, wenn er über den deutschen Umgang mit dem Nationalsozialismus schreibt. „Die Deutschen wollen sich auf eine Weise an die NS-Zeit erinnern, in der sie keine Schuld haben“, erklärt er. „Dazu benötigen sie Judenfiguren, die bestätigen, dass jetzt wieder alles gut ist.“
Den Begriff Gedächtnistheater erfand der Soziologe Y. Michal Bodemann im Jahre 1996. Er meinte, es spiele sich ein Schauspiel in der Öffentlichkeit ab, in dem die Juden bestätigen, dass die Deutschen ihre mörderische Geschichte aufgearbeitet hätten – ein Schauspiel deshalb, weil die Realität ganz anders aussieht. „Die Erinnerungskultur muss reale Auswirkungen haben“, fordert Czollek. „Weder die Naziverbrecher wurden ordentlich bestraft, noch wurden Jüdinnen und Juden materiell entschädigt. Es wirkt albern, wenn die Deutschen sagen: ‚Alles wieder gut‘, aber daraus nichts folgt.“
Der Zwang zum Verzeihen
Des Weiteren kritisiert Czollek, dass die Deutschen somit ihre Dominanzposition behalten, indem sie Jüdinnen und Juden ihre Funktion in der Gesellschaft zuweisen: zu bestätigen, dass die Deutschen keine Schuld mehr hätten. „Die Erinnerungskultur setzt Erinnerung mit Versöhnung gleich“, meint Czollek. „Das ist vielleicht im Christentum so, jedoch nicht im Judentum. Wir erinnern uns an alles Schreckliche, das passiert ist, und warten auf Gerechtigkeit. Wenn die Staatsgewalten keine Gerechtigkeit bringen, dann spätestens am Ende aller Tage.“ In seinem Buch schreibt Czollek, viele Jüdinnen und Juden empfänden Untröstlichkeit anstatt Versöhnung. „Die Geschichte ist nicht dazu da, wieder gut gemacht zu werden“, erklärt er bei der Fragerunde nach der Lesung. „Sie ist der Ort, an dem wir verstehen können, wie schlimm Dinge werden.“
“Wenn sie den Namen beibehalten wollen, müssen sie sich wenigstens ein besseres Argument ausdenken.“
Max Czollek über die Umbenennung der Universität Tübingen
Eine Zuschauerin spricht die Umbenennung der Universität an. Sie fragt Czollek, was er von dem Argument halte, durch die Beibehaltung des Namens würden sich die Menschen erinnern, was Eberhard und Karl schlimmes getan haben. Der Autor kann über dieses Argument nur staunen. „Das ist, als würde ich dir ins Gesicht schlagen und sagen: ‘Jetzt weißt du, was Gewalt ist’“ antwortet er. „Dann hätten wir auch die Hakenkreuz-Fahnen hängen lassen können, um uns an die Naziverbrechen zu erinnern. Wenn sie den Namen beibehalten wollen, müssen sie sich wenigstens ein besseres Argument ausdenken.“
Befreiung der Deutschen?!
Wenn Czollek darüber spricht, wie Deutsche ihr Selbstbild in Bezug auf den Nationalsozialismus verdrehen, bekommen selbst Linke mit guten Absichten ein schlechtes Gewissen. Durch Bücher und Filme identifizieren sich Deutsche mit den Gefangenen in Auschwitz und drängen sich somit in die Opferrollen, obwohl ihre Vorfahren Täter*innen waren. „Wenn man den Menschen zuhört, könnte man glauben, in Deutschland hätten nur Widerstandskämpfer*innen gelebt“, meint Czollek.
Das wird schon deutlich daraus, dass der 8. Mai 1945 als „Befreiung“ bezeichnet wird, obwohl die allergrößte Mehrheit der Deutschen doch besiegt worden ist. In „Desintegiert euch!“ bringt der Berliner das verdrehte Selbstbild der Erinnerungskultur auf den Punkt: „Befreiung durch die Alliierten und Erlösung durch die jüdischen Opfer. Das ist doch besser als: Die eine Hand am Gashahn und Nazis bis zum Schluss.“
Als Ausweg aus der Fremdbestimmung durch die Dominanzposition der Deutschen fordert Czollek die Desintegration – auch radikale Vielfalt genannt. „Die Gesellschaft in Deutschland ist bereits das Ergebnis von Vielfalt und nicht von Integration“, meint er. „Sonst gäbe es hier weder Pizza noch Auberginen, wir würden nicht mal im Park sitzen.“
Raus aus dem System?
Die Dramaturgin interessiert sich dafür, wie Czollek die Bühne nutzt, um die Desintegration voran zu treiben. Am Maxim Gorki Theater Berlin erschafft er als Initiator eine Gegenerzählung zum deutschen Narrativ. „Ich mag am Theater, dass die Zuschauenden mir völlig ausgeliefert sind“, erzählt er. „Meine Gedichtbände können sie zuklappen und ich merke es nicht mal, doch den Theatersaal zu verlassen, ist immer mit Aufwand und Scham verbunden.“
Czollek ist es wichtig, verschiedene Formen zur Desintegration zu nutzen. „Wir müssen durch Theater, Bücher oder HipHop unterschiedliche Gruppen ansprechen – Arbeitsteilung sozusagen.“ Czollek ist der gemeinschaftliche Kampf wichtig. Er hält es für eine Illusion, zu glauben, es wäre möglich als das Individuum das System zu verlassen. „Es ist hochgradig gefährlich zu glauben, man wäre kein Teil des Systems“, meint er. „Mir wird oft vorgeworfen, dass in ‚Desintegration‘ immer noch ‚Integration‘ steckt, und wir müssten uns doch von diesem Konzept lösen. Doch das halte ich nicht für realistisch“, findet er. „Es gibt kein Raus, das versprechen nur Scharlatane.“