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Wie gendern andere Sprachen? (Teil 2 von 3)

Im ersten Teil dieses Artikels wurde erklärt, wie die romanischen Sprachen, also Italienisch, Spanisch und Französisch mit inklusiver Sprache umgehen. In diesem Teil tauchen wir noch tiefer in das Phänomen Sprache ein, und der Horizont wird erweitert: Heute geht es linguistisch gesehen von Russland, über Schweden, bis nach Israel.

Viele Sprachen ähneln sich gegenseitig. Wer den ersten Teil dieses Artikels gelesen hat, weiß, dass die grammatischen Systeme der italienischen, spanischen, und französischen Sprache sich oft so stark ähneln, dass sie manchmal kaum voneinander zu trennen sind. Doch nicht nur die romanische Sprachgruppe ist ein enges Konstrukt, auch die Gruppe der germanischen Sprachen weist untereinander viele Ähnlichkeiten auf – gerade deswegen ist es spannend, wenn es doch einmal einen überraschenden Unterschied gibt. Deshalb fangen wir diesen zweiten Teil des Artikels mit einer Sprache an, die unserer eigenen gar nicht so fern ist.

Schwedisch

Schwedisch zählt wie Deutsch zu den germanischen Sprachen und ist daher eng mit unserer Sprache verwandt, was an vielen Stellen der Grammatik und des Vokabulars erkennbar ist. Im Gegensatz zum Deutschen hat Schwedisch allerdings nicht drei Geschlechter, sondern nur zwei, und zwar „utrum“ und „neutrum“. Diese beiden Kategorien sind verwandt mit den Kategorien „belebt“ und „unbelebt“, es besteht allerdings ein Unterschied. Im Schwedischen hat hier eine doppelte Transformation stattgefunden: Der direkte Vorgänger von Schwedisch sind die altnordischen Sprachen (ca. 800 n. Chr. bis 1350), sie besaßen bereits wie das Deutsche die drei Geschlechter männlich, weiblich, und sächlich. Allerdings fand in der Folge eine Rückentwicklung statt: Die Geschlechter weiblich und männlich verschmolzen über die Zeit zu einem Geschlecht: das Utrum, ein grammatisches Geschlecht, das alle ehemals männlichen und weiblichen Wörter umfasst.

Die Folge daraus ist, dass die Substantiv-Klassen „utrum“ und „neutrum“ nicht ganz deckungsgleich mit den Klassen „belebt“ und „unbelebt“ sind. Während im Russischen ein klarer Zusammenhang zwischen den biologischen und den grammatikalischen Kategorien „belebt“ und „unbelebt“ besteht, ist diese Trennung im Schwedischen nur begrenzt nachweisbar. In der Konsequenz sind knapp drei Viertel aller schwedischer Wörter utrum, obwohl viele von ihnen unbelebte Gegenstände beschreiben, so wie etwa „väska“ (Tasche), „öl“ (Bier), oder „rättvisa“ (Gerechtigkeit). Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch Wörter, die Lebewesen, bzw. Pflanzen bezeichnen, aber neutrum sind, so z. B. „bi“ (Biene).

Das Geschlechtersystem des Schwedischen ist relativ selten in den Sprachen der Welt. Außerhalb von Skandinavien gibt es dieses nur im Niederländischen und auf Filipino. Bild: Max Maucher

Konsequenterweise gibt es im schwedischen Wortschatz keine Trennung zwischen männlichen und weiblichen Begriffen, so versteht man etwa unter „läkare“ eine Ärztin oder einen Arzt, unter „kypare“ eine Kellnerin oder einen Kellner. Das Problem Morphologie ist also schon einmal aus dem Weg geschafft, es gibt kein Gendersternchen wie im Deutschen oder Point Médian wie im Französischen. Was Pronomen betrifft, sieht es jedoch anders aus. Hier hat Schwedisch dasselbe Repertoire wie Deutsch. Jedoch ist die schwedische Pronomenliste um eins ergänzt: das geschlechtsneutrale Pronomen „hen“. Es ist eine Wortneuschöpfung, die im Jahr 2012 der schwedischen Sprache hinzugefügt wurde. Damit hat das Schwedische also folgende Personalpronomen in der 3. Person Singular:

hon utrum, für Frauen („sie“)
han utrum, für Männer („er“)
den/det (abh. von Wortendung)
neutrum („es“)
hen utrum, geschlechtsneutral

Mit Blick auf die bisher aufgeführten Sprachen gibt es hier eine Überraschung: Das Wort „hen“, welches also entweder für nichtbinäre Personen oder auch für allgemeine, bzw. unbekannte Personen verwendet wird, ist in Schweden inzwischen recht etabliert und wird auch von vielen Menschen verwendet. Es geht sogar noch weiter: Das Wort taucht sogar im Wörterbuch der Svenska Akademien (Schwedische Akademie) auf, welche die Sprache des Landes fördert. Im Gegensatz zu Spanien, Italien und Frankreich (siehe Teil 1) wurde in Schweden diese Ergänzung der Sprache sogar auf höchster Ebene anerkannt.

Allerdings wird das „hen“ hauptsächlich in der geschriebenen Sprache verwendet: „In der gesprochenen Sprache habe ich das, glaube ich, erst einmal gehört“, sagt Leonie, die nach dem Abi eine längere Zeit in der Gegend rund um Malmö gelebt hat und nun in Tübingen studiert. „In den Zeitungen des Landes liest man das allerdings immer öfter. Auch auf Hinweisschildern, die ja während der Corona-Pandemie überall hingen, habe ich das immer wieder gesehen.“ Sie sagt auch, dass das Wort inzwischen kaum politisiert werde, da sich die Menschen bereits so daran gewöhnt hätten. Schweden kann also als Beispiel dienen, wie inklusive Sprache erfolgreich umgesetzt werden kann.

Russisch

Die russische Sprache hat wie die deutsche drei Geschlechter: weiblich, männlich und sächlich, daher stellt sich die Frage sprachlicher Inklusion auch hier. Sie ist eine ostslawische Sprache, ist also in erster Linie verwandt mit  Ukrainisch und ferner auch mit anderen slawischen Sprachen wie Polnisch, Kroatisch und Bulgarisch. Wie in den romanischen Sprachen kann das Geschlecht eines Substantivs im Russischen meistens an dessen Endung festgemacht werden. Im Gegensatz zum Deutschen, wo wir für die weibliche Form einfach nur -in anhängen, ist die russische Grammatik nicht besonders einheitlich. Es gibt gleich mehrere Möglichkeiten, wie weibliche Formen gebildet werden können.

Grundsätzlich gilt, dass männliche Wörter mit einem Konsonanten oder mit -й (in etwa „j“) enden, weibliche hingegen mit -a oder mit -я (in etwa „ja“). Bei vielen personenbezogenen Bezeichnungen gibt es eine männliche und eine weibliche Form, so bedeutet „студе́нт“ Student (Aussprache: Student, mit s, nicht mit sch), während „студе́нтка“ Studentin (Aussprache: Studentka) heißt. In diesem Fall wird für die weibliche Form also einfach -ка angehängt. Daher gibt es bei vielen Wörtern im Russischen (genau wie im Deutschen) die Möglichkeit, eine gegenderte Form mithilfe eines Sterns, Unterstrichs oder Mittelpunkts (wie auf Französisch) zu erstellen: студе́нт*ка.

Russisch verwendet wie viele Sprachen Osteuropas und Mittelasiens kyrillische Schriftzeichen.
Bild: Anonimski auf Wikimedia Commons

Das funktioniert allerdings nicht immer, da es, wie gesagt, keine einheitliche Weise gibt, wie weibliche Formen gebildet werden. Der Schüler heißt zum Beispiel „шко́льник“ (Aussprache: schkolnjik), während die Schülerin „шко́льница“ (Aussprache: schkolnjitse). Es wird also nicht nur ein zusätzliches Affix angehängt, sondern es verschwindet ein ganzer Buchstabe (к) in der weiblichen Form. Eine Konstruktion wie „шко́льни*ца“ ist also möglich, aber wenig logisch, und daher auch nicht allzu gebräuchlich.

Bei der Repräsentation von Frauen im Russischen gibt jedoch ein weiteres Problem, das noch viel größer ist: Für viele (traditionell männlich dominierte) Berufe gibt es gar keine weibliche Form. Ein Beispiel hierfür ist der Arzt. Da es in Russland (wie in vielen Ländern) noch nicht lange viele Ärztinnen gibt, würde man, wenn man auf das Geschlecht der Ärztin hinweisen will, eher „Arzt weiblich“ als „Ärztin“ sagen, da es nicht wirklich ein Wort für „Ärztin“ gibt.

Aus diesem Grund ist es vielen jungen Menschen in Russland im Moment wichtiger, weibliche Formen für Berufe zu erschaffen, für die es bislang noch keine weibliche Form gibt, als gegenderte Formen zu verwenden. Dafür wird meistens die Endung -ка benutzt, wie bei den oberen Beispielen. Hier einige Beispiele:

  • а́втор (Autor)  ➝  а́вторка (Autorin)
  • режиссёр (Regisseur)  ➝  режиссерка (Regisseurin)
  • фото́граф (Fotograf)  ➝  фотографка (Fotografin)

Was die Aussprache betrifft, gibt es bisher keine Lösung. Der im Deutschen gebräuchliche glottale Plosiv ist im Russischen nicht anwendbar, da dieser nur funktioniert, wenn dahinter ein Vokal steht, wie eben bei Leser*innen, wo er ganz von Vokalen umgeben ist. (Wohlgemerkt: das „r“ im Wort „Leser“ ist ein Vokal, und zwar [ɐ]. Mehr Informationen dazu hier.)

Geschlechtsneutrale Pronomen gibt es im Russischen im Moment noch nicht. Wie im Deutschen gibt es eine Entsprechung für „es“ und zwar „оно“, was allerdings nicht für nichtbinäre Menschen verwendet werden kann. Das liegt auch daran, dass Russisch zu den Sprachen gehört, in denen die Trennung belebt–unbelebt noch in der Grammatik vorhanden ist und „оно“ demnach für Gegenstände verwendet wird.

Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass geschlechtergerechte Sprache in Russland – einem Land, das in vielerlei Hinsicht eine Diktatur ist – dennoch ein Randphänomen darstellt, und keineswegs so häufig wie in Deutschland verwendet wird.

Hebräisch

Wir verlassen nun den eurasischen Sprachraum und wenden uns einer Sprache zu, die nicht vom Proto-Indoeuropäischen abstammt und daher grammatikalisch ganz anders ist als die vorherigen. Knapp 5 Millionen Menschen sprechen Hebräisch als Muttersprache. Die meisten von ihnen leben in Israel, fast 220.000 in den Vereinigten Staaten. Wie andere Sprachen hat auch Hebräisch die grammatischen Geschlechter weiblich und männlich. Auch Kongruenz gibt es, allerdings geht die hebräische Sprache hier noch einen Schritt weiter: Nicht nur Adjektive müssen an das Geschlecht des Subjekts angepasst werden, sondern auch Verben. Doch nicht nur das: Die Verbkonjugation im Präsens richtet sich sogar mehr nach Geschlecht als nach Person, was man in nur wenigen Sprachen findet. Hier ein Beispiel für die Präsens-Formen des Wortes רקד‎“ (tanzen):

ich (Mann) tanze
du (Mann) tanzst
er tanzt
רוֹקֵד (roked)
ich (Frau) tanze
du (Frau) tanzst
sie tanzt
רוֹקֶדֶת (rokedet)
wir (Männer) tanzen
ihr (Männer) tanzt
sie (Männer) tanzen
רוֹקְדִים (rokdim)
wir (Frauen) tanzen
ihr (Frauen) tanzt
sie (Frauen) tanzen
רוֹקְדוֹת (rokdot)

Augenscheinlich ist der primäre Faktor im Präsens nicht Person, sondern Geschlecht. Wir können also festhalten, dass Hebräisch eine enorm geschlechterlastige Grammatik hat. Für Sprecher*innen europäischer Sprachen stellt die hebräische Grammatik und Schrift vermutlich ein Chaos biblischer Dimensionen dar. Aber keine Sorge, so kompliziert ist es nicht.

Wie kommt nun also das Geschlecht in die Sprache? Da Hebräisch (wie z. B. auch Arabisch oder Maltesisch) eine semitische Sprache ist, hat die Flexion hier eine andere Funktionsweise wie etwa im Deutschen, Italienischen oder Schwedischen, wo Informationen wie Geschlecht, Zeit oder Anzahl hauptsächlich durch Affixe zu Wörtern hinzugefügt werden. Im Hebräischen besteht der Stamm eines Verbs nicht etwa aus einem festgelegten Wort, an das Affixe angehängt werden, sondern aus einer Sequenz von meist drei Konsonanten. Im oben genannten Beispiel רקד‎“ (tanzen) sind die Konsonanten also ר‎“ (rollendes r), ק‎“ (k) und „ד‎“ (d) (bedenke, Hebräisch wird von rechts nach links gelesen). Der Stamm ist also R-K-D. Die Vokale, die man oben in der Tabelle lesen kann, werden im hebräischen Text durch die diakritischen Zeichen, also die Pünktchen über und unter den Buchstaben, dargestellt. Drei Punkte unter einem Konsonanten heißt also: Der folgende Vokal ist ein „e‎“.

Doch was hat das zu bedeuten? Informationen wie Geschlecht oder Zeit werden nun durch die Vokale bestimmt, die in die Lücken zwischen den Konsonanten gefüllt werden. Wie in der Tabelle oben sichtbar, sind in einigen Fällen auch Affixe notwendig. Für das Verb „tanzen‎“ gibt es also nun folgenden Konjugationen (die Rauten ersetzen in diesem Schema die Konsonanten des Stamms):

  • oe  =  männlich, Singular
  • oeed  =  weiblich, Singular
  • o _ im  =  männlich, Plural
  • o _ ot  =  weiblich, Plural

Es gibt sieben verschiedene Konjugationsklassen, רקד‎“ ist ein so genanntes Pa’al-Verb, wird also auf die oben dargestellte Weise konjugiert. Dies ist natürlich eine recht kurze Abhandlung, die der Vielseitigkeit der hebräischen Sprache nur wenig gerecht wird. Für diesen Zweck soll sie jedoch genügen, denn das, was wir soeben gelernt haben, zeigt bereits einen Umstand eindeutig auf: Menschen, die sich weder als klar männlich noch als klar weiblich identifizieren, fallen in der hebräischen Grammatik durchs Raster. Es zeigt jedoch auch etwas anderes auf: Die hebräische Sprache bietet viel Spielraum für Erweiterung. Mit 13 Vokalen plus einer Leerstelle (siehe Plural im Schema oben) ist das Repertoire für Ergänzungen zur Grammatik nicht ausgeschöpft.

Obwohl Hebräisch die dominante Sprache Israels ist, wird dort auch häufig Deutsch oder etwa Polnisch gesprochen, ein Resultat von Immigration infolge des Holocausts. Auch Arabisch ist als Minderheitensprache weit verbreitet. Bild: Aislinn Spaman on Unsplash

Eine aktuell beliebte Lösung in Israel ist es, bei Gruppen immer beide Formen zu verwenden, also weiblich/Plural und männlich/Plural. Dies steht allerdings deshalb in der Kritik, da auf diese Weise sehr lange Sätze entstehen. Aus „Sie tanzen“ würde also „הם רוֹקְדוֹת והם רוֹקְדִים“ (Verben fett, Aussprache in etwa: hem rokdot wehem rokdim). Das ist in der Tat ein sehr langer Satz für so wenig Information, um das generische Maskulinum zu umgehen. Welche Alternativen gibt es dazu also?

Lior Gross, Hebräisch-Student*in an der University of Colorado in Boulder hat als Lösungsansatz das Nonbinary-Hebrew Project gegründet, welches das Ziel verfolgt, eine nichtbinäre hebräische Grammatik zu konstruieren. Einer der Vorschläge lautet, die Vokale zwischen den Konsonanten durch den Vokal „e“ zu ersetzen, da dieser Buchstabe im Hebräischen, wie auch in vielen anderen Sprachen, keinem Geschlecht klar zugeordnet ist (wie a etwa mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert wird oder o mit dem männlichen).

Auch Substantive sind natürlich einem Geschlecht zugeordnet. Student z. B. bedeutet also „תלמיד“ (talmid), Studentin hingegen „תלמידַה“ (talmidah). Hier wird die weibliche Form also in zwei Schritten gebildet: Erst wird der Buchstabe „ה“ (h) angehängt, zudem steht unter dem vorletzten Buchstaben ein Strich, welcher das „a“ signalisiert. Die Aussprache lautet also talmidah. Für nichtbinäre Menschen lautet der Vorschlag des NHP: „תלמידֶה“. Man muss genau hinsehen, doch die drei Punkte unter dem vorletzten Buchstaben deuten auf die Aussprache talmideh hin. Wer Teil 1 gelesen hat, wird sich vielleicht an Spanisch erinnern: Der Klang „e“ ist in vielen Sprachen weder weiblich noch männlich konnotiert, kann also als Lösung für das Problem herangezogen werden.

Inklusive Sprache – hoffnungslos?

Die in diesem Teil besprochenen Sprachen haben gezeigt, dass viele Sprachen der Welt sehr grammatiklastig sind. Über die Jahrtausende hinweg haben sich hochkomplexe Systeme entwickelt, deren Strukturen kaum aufzubrechen sind. Doch nicht alle Sprachen sind so, zumindest in Bezug auf Geschlecht. Im dritten und letzten Teil dieser Reihe, der am Freitag erscheint, reisen wir gedanklich nach Südkorea und in die USA und sehen, dass Grammatik gesellschaftlichen Wandel auch bedingen kann, anstatt diesen zu hemmen.

Beitragsbild: Katie Rainbow on Unsplash

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2 Kommentare

  1. […] ganz anders um, tatsächlich hat die Mehrheit der Sprachen der Welt dieses überhaupt nicht. Im zweiten Teils dieses Artikels könnt ihr mehr darüber lernen, wie Schwedisch, Russisch, Koreanisch, Hebräisch, und sogar […]

  2. […] Teil 1 und Teil 2 dieser Reihe haben wir uns mit umfangreichen grammatischen Problemen und komplexen Konjugationen […]

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