Ein Diebstahl an einer Schule führt zu einer unaufhaltbaren Lawine von Beschuldigungen. Das Resultat? Eine perfide Mobbinghölle, die gnadenlos jegliche Wahrheit verdreht. İlker Çatak’s explosiver Film ‚Das Lehrerzimmer‘ lief vergangenen Mittwoch im Tübinger Kino Museum als Teil der monatlichen Reihe „Film & Psychoanalyse“, welche in Kooperation mit dem Institut für Psychoanalyse Stuttgart-Tübingen organisiert wird.
Laut Çatak stammt die Idee für den Film aus einer Erzählung von einem Freund. Die Putzfrau zuhause hatte die Familie bestohlen, jedoch gab man ihr eine zweite Chance. Diese nutzte sie um die Familie ein weiteres Mal zu beklauen. Der Regisseur verwendet für seinen preisgekrönten Film einen Diebstahl an einer Hamburger Schule als Spielbühne für brennende Fragen rund um Wahrheit und Gerechtigkeit.
“Wie wird Wahrheit passend gemacht? Wie absolut ist Wahrheit?”
İlker Çatak
Auf dieser Spielbühne überzeugt Leonie Benesch in der Hauptrolle als Carla Nowak, eine nicht einmal dreißigjährige Mathematiklehrerin, die mit einer beispiellosen Geduld und politischen Korrektheit versucht ihre Siebtklässler zu bändigen. Das Unheil nimmt erst seinen Lauf als Frau Nowak sich bemüht herauszufinden, wer hinter den Diebstählen an dem Hamburger Gymnasium steckt. Als sich nach einer von der Schuldirektorin veranlassten Razzia herausstellt, dass der Schüler Ali (der einen Migrationshintergrund hat) schuldlos ist, greift Frau Nowak eigenmächtig auf eine versteckte Kamera auf ihrem Laptop im Lehrerzimmer zurück. Eine Sekretärin wird überführt, die unglücklicherweise auch die Mutter von Oskar ist – Nowak’s begabtester Schüler.
Eine moralische Zwickmühle
Die Sekretärin darf aufgrund der Beschuldigungen erstmal nicht mehr arbeiten, der Fall muss untersucht werden – die Polizei wird involviert. Es folgt ein Psychoterror in den sonst funktionalen Räumen der Schule, der ein eigenes Leben annimmt. In einem Kreuzfeuer zwischen Schüler*innen, die die Wahrheit verlangen, und Lehrer*innen, die darauf bestehen, unerträglich vage zu bleiben, versucht Nowak allen gerecht zu werden. Der Druck unter dem sie zunehmend steht ist nahezu tastbar für die Zuschauer*innen, der auch durch instabile Kamerabewegungen und ein beengendes 4:3 Filmformat verstärkt wird. Gefangen in einem unmöglichen moralischen Dilemma, welches Fragen über Schulpädagogik und Schuld aufwirft, verliert die junge Lehrerin (sowie alle anderen Akteur*innen) allmählich die Kontrolle. In einem genialen Moment, wo sie von der Schulzeitung zu dem Vorfall befragt wird, betont sie:
“Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer.”
Carla Nowak
Eine herrlich ironische und paradoxe Aussage, denn die Ereignisse des Lehrerzimmers färben sich auf den gesamten Schulkosmos mit einer gewaltvollen Wucht ab.
Gefühlswelten kollidieren mit Rationalität
Ein Unterton, der sich durch den gesamten Film zieht, ist die Gegenüberstellung von sprunghaften Gefühlen und rationalen Erklärungen. Es ist wohl kein Zufall, dass Frau Nowak Mathematiklehrerin ist, betont die Moderatorin Dr. Barbara Heinzmann in der anschließenden Diskussion zum Film. Laut ihr gibt es in dem Narrativ wiederholt den Versuch, beladene Gefühle durch Rationalität zu zähmen. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine der letzten Szenen, wo Frau Nowak in einem Klassenzimmer mit einem schweigend protestierenden Oskar alleine sitzt. Er wurde vorübergehend von der Schule wegen des Vorfalles rund um seine Mutter suspendiert – sein Dasein verursacht zu viele Konflikte im Klassenzimmer. Zuvor hatte Frau Nowak ihm einen Zauberwürfel ausgeliehen, er sollte ihn nur zurückgeben wenn alle Farben einheitlich sind. In der besagten Szene präsentiert Oskar ihr wortlos den gelösten Zauberwürfel, er dient hier als stilles Kommunikationsmittel zwischen den beiden und erschafft eine Ebene auf der sich beide sicher fühlen. Zugleich ist der Zauberwürfel aber auch eine Anspielung darauf, dass Worte nicht immer alles sagen können.
Das Dilemma rund um den mutmaßlichen Diebstahl wird nie aufgelöst, jedoch versucht der Film dies auch nicht – weder durch turbulente emotionale Szenen, noch durch jegliche logische Erklärung. Der Film ist letztendlich ein beißendes Kommentar über die Rolle von Schuld in unserer Gesellschaft und wirft gewollt mehr Fragen auf, als er beantwortet.
Der nächste Film der Reihe, “In einem anderen Leben”, läuft am 17. Juli im Kino Museum. Das restliche Programm findet ihr hier.
Beitragsbild: © Das Lehrerrzimmer, 2023, if…Productions.