Kranke Patient*innen ablehnen? In der Medizin ein Tabubruch, in der Psychotherapie Alltag. Grund dafür ist kein Fachkräftemangel, sondern trockendeutsche Bürokratie. Darum kämpft die Tübinger Psychologiestudentin Julia Darboven mit einer Petition für mehr Therapieplätze.
Seit Corona ist der körperliche und psychische Behandlungsbedarf stark gestiegen. Nicht nur Pflegekräfte stehen vor einer Mammutaufgabe (darüber berichtete die Kupferblau kürzlich), auch die Psychotherapie verzeichnet einen Anstieg von Depressionen und Angststörungen. So zum Beispiel in Spanien, wo sich die Zahl von Menschen mit depressiven Symptomen binnen der ersten 100 Pandemietage verdoppelt hat – verdoppelt! Besondere Belastung lag hier auf Kindern und Jugendlichen im Homeschooling, sowie Unternehmer*innen, deren Existenzgrundlage verloren ging.
Veränderung kommt nicht
von allein
Julia Darboven ist Psychologiestudentin an der Uni Tübingen. Nach ihren derzeitigen Praktika steht sie im kommenden Sommersemester vor ihrer Bachelorarbeit. Also noch ein wenig Zeit bis zum Berufseinstieg, die aber nicht tatenlos verbracht werden soll. So setzt sie sich für wartende Patient*innen ein und co-organisiert die Petition “Mehr Therapieplätze für Menschen mit psychischen Problemen“.
Wie sieht der Alltag in der Psychotherapie aus?
“Wir haben fast täglich Patient*innen, die akut suizidal sind und eigentlich stationär in die Klinik müssten. Doch auch die Psychiatrien sind vollkommen überlastet und Patient*innen können nicht die Unterstützung und Betreuung erhalten, die sie dringend bräuchten. Stell dir das mal vor: Wenn ich den Notarzt rufe, brauche ich sofort Hilfe, nicht in einem Jahr!”
Julia Darboven
Idealerweise sollte die Wartezeit für einen Therapieplatz drei Wochen nicht überschreiten. In der Realität stellen sich für ambulante Therapien Wartezeiten von 7 bis 14 Monaten ein; stationär sogar bis zu 16 Monate. Selbst Kinder müssen 6 bis 9 Monate warten – und das in einem Alter, in dem sich chronische Störungen entwickeln können. Anders als in der Krankenpflege herrscht in der Psychotherapie jedoch weniger Fachkräftemangel. Das Problem ist, dass Psychotherapeut*innen nur mit Genehmigung der „Kassenärztlichen Vereinigung“ gesetzlich versicherte Patient*innen annehmen dürfen.
Was müsste passieren, um dieser Überlastung entgegenzuwirken?
“Dass es Psychotherapeut*innen massiv an Kassensitzen mangelt, wusste ich schon. Dabei hat mich aber nicht nur die Sorge, später selbst keinen Job zu haben, beschäftigt. Ich weiß auch von Freund*innen und Familie, wie zermürbend die lange Suche nach einem Psychotherapieplatz ist. Um den psychotherapeutischen Bedarf gänzlich zu decken, bräuchten wir eigentlich 100.000 neue Kassensitze. Das wird aber nie passieren. Eine gewisse Wartezeit wird es also immer geben. Politiker*innen sprechen höchstens von 8.000 neuen Kassensitzen, Jens Spahn zuletzt von 1.600.”
Julia Darboven
Was haben denn Kassensitze damit zu tun?
Wer in Deutschland gesetzlich versichert ist, zahlt in eine bestimmte Krankenkasse ein. Im Falle eines Arztbesuchs zahlt dann die „Kassenärztliche Vereinigung“ (KV) für die Patient*innen die Rechnung. Psychotherapeut*innen werden von den Krankenkassen direkt bezahlt. Allerdings gibt es von diesen Kassensitzen nur eine festgelegte Anzahl, sodass Psychotherapeut*innen nicht einfach so „Kassenpatient*innen“ behandeln dürfen. Dazu müssen sie sich örtlich dort niederlassen, wo noch Kassensitze vergeben werden – im Zweifelsfall: nirgends. So soll die flächendeckende Verteilung gewährleistet werden, damit es nirgendwo mangelt.
Problem: Es mangelt trotzdem an allen Ecken! Es wird also ein bestimmter Satz an psychotherapeutischen Fällen ausgewählt, der behandelt werden kann. Alles darüber kommt auf die Warteliste. Wer altersbedingt aus dem Beruf aussteigt, gibt die Kassensitze nicht an die KV zurück, sondern verkauft sie an die jüngere Generation. Das kann schon mal an die 60.000 € kosten – bevor mit dem Geldverdienen angefangen wird. Alternativ können Psychotherapeut*innen auch mehrere Kassensitze haben und dann Kolleg*innen unter sich arbeiten lassen. Dabei bleibt der Kassensitz aber in Chefhänden, sodass Psychotherapeut*innen permanent mit dem Rücken zum Abgrund stehen.
Ausgenommen von diesem Problem sind Privatpatient*innen; diese können auch ohne Kassensitz abgerechnet werden. Für kassensitzlose Psychotherapeut*innen eine gutbezahlende Einnahmequelle und auch für ihre Patient*innen ein direkter Weg zur Hilfe. Was aber für die einen die Existenz bevorteilt, benachteiligt die anderen. Denn gerade Privatpatient*innen sind es, die am meisten in die gesetzliche Kasse einzahlen würden. Ein weiteres Beispiel für das deutsche Zwei-Klassen-Gesundheitssystem. Den Vorwurf dafür kann man aber weder den Privatpatient*innen noch den Psychotherapeut*innen machen. Das Problem liegt im System – und ein System kann man verändern.
Petitionen sind mehr als nur Wunschdenken
Daher also die Entscheidung, die Petition zu unterstützen?
“Es macht mich wirklich wütend, dass unser Gesundheitssystem Menschen einfach so hängen lässt. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, als ich Dianas Petition gesehen habe. Ich habe sie dann so viel wie möglich in Studierendennetzwerken im ganzen Land gepostet. Als Diana das gesehen hat, hat sie mich um weitere Mithilfe gebeten.”
Julia Darboven
Ursprünglich gestartet wurde diese Petition von Diana Ammann. Seit Jahren engagiert sie sich bei „Frauen für Frauen e.V. Friedrichshafen“ (nicht zu verwechseln mit dem „Frauen helfen Frauen e.V. Tübingen“), wo sie sich für Mädchen und Frauen einsetzt, die durch Gewalt traumatisiert wurden. Im September 2020 startete sie ihre Petition, um den allumfassenden Mangel an Therapieplätzen zu bekämpfen – einen Monat später ist Julia dazugestoßen.
Eure Petition hat letzte Woche die 100.000 Unterschriften geknackt. Ab 150.000 zählt sie zu den stärksten Petitionen auf Change.org. Was kann man damit politisch erreichen?
“Einen Termin im Bundestag würde man schon ab 50.000 Unterschriften bekommen. Das dauert dann noch ein paar Monate, also etwa bis Frühjahr 2022. Sobald wir unseren haben, werden wir unsere Petition persönlich in Berlin vorlegen und mit Herrn Lauterbach oder seinen Kolleg*innen besprechen.”
Julia Darboven
Dabei nehmen Petitionen keinen unbedeutenden Einfluss auf die Politik. Im Juni 2021 hatte Uwe Hauck Erfolg mit seiner Petition: „Keine #Rasterpsychotherapie, Herr Spahn!“, wofür er insgesamt 212.243 Unterschriften gesammelt hat. Damit wurde Spahns Vorschlag, je nach Krankheitsbild schablonenhafte Therapien anzuwenden, gesetzlich vereitelt. Auch Christian Homburg fand 103.108 Unterstützer*innen, um den „Impfschutz auch für schwerbehinderte Menschen außerhalb von Pflegeeinrichtungen“ zu ermöglichen. Damit stehen die Chancen gut, Julias Anliegen auf fruchtbaren Boden fallen zu lassen.
Nicht nur klugschnacken, sondern anpacken!
Ehemals für den Zustand des Gesundheitssystems zuständig war Bankkaufmann und Politikwissenschaftler Jens Spahn (CDU), an den die Petition ursprünglich adressiert war. Mit der Ampel-Koalition folgt in seiner Position der Epidemiologe und Gesundheitsökonom Dr. Karl Lauterbach (SPD).
Wie schätzt du die Ziele eurer Petition ein, jetzt wo Lauterbach in Spahns Fußstapfen tritt?
“Im Gegensatz zu Jens Spahn kennt sich Karl Lauterbach mit dem gesundheitlichen Feld besser aus, was uns etwas Hoffnung gibt. In einem Interview versprach Herr Lauterbach zuletzt, dass das Problem ‘in den nächsten Monaten gelöst’ werden würde, ohne direkt zu sagen wie. Unserer Ansicht nach hilft nur eins: Mehr Kassensitze für Psychotherapeut*innen!”
Julia Darboven
Zweifelsfrei wird es noch über die Pandemie hinaus dauern, die Wogen zu glätten. Mit jedem Tag, der verstreicht, wachsen die Probleme der zu behandelnden Patient*innen. Wenn wir unsere Mitmenschen nach der Pandemie körperlich und auch psychisch wieder zusammenführen wollen, muss eine Veränderung stattfinden.
Ihr wollt helfen? Mit eurer Unterschrift unterstützt ihr die Petition “Mehr Therapieplätze für Menschen mit psychischen Problemen” innerhalb weniger Sekunden. Falls ihr noch mehr Zeit habt, könnt ihr auch Pflegekräfte in der Corona-Krise unterstützen, euch weitere Petitionen ansehen oder sie mit Familie, Freund*innen und Bekannten teilen.
Braucht ihr selbst Hilfe? Bei kleineren Sorgen kümmert sich die Telefonseelsorge unter der 0800-1110111 um euch. Im Ernstfall wendet euch an den Patientenservice 116117.
Beitragsbild: pixabay.com
Bilder: Julia Darboven und Diana Ammann
Quellen: aerzteblatt.de; neurologen-und-psychiater-im-netz.org; mdpi.com; globalizationandhealth.biomedcentral.com; pronovabkk.de; medizin-im-text.de