Vor fünf Tagen begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem erklärten Ziel, das Land zu „entmilitarisieren“ und zu „denazifizieren“. Wladimir Putin plant mutmaßlich mit seinem Krieg die Besetzung großer Teile oder der ganzen Ukraine und die Beendigung des Daseins der Ukraine als souveräner Staat. Das sorgt weltweit für Wut und Empörung, unter anderem auch in Tübingen. Etwa 1000 Menschen kamen am Samstag, den 26.02., auf dem Holzmarkt zusammen, um ihre Solidarität mit der Ukraine auszudrücken.
Es ist wohl eines der einschneidendsten Ereignisse in der Geschichte Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In seiner Rede während der Sondersitzung des Deutschen Bundestags letzten Sonntag verglich Friedrich Merz, Fraktionsvorsitzender der Unionsfraktion und Vorsitzender der CDU, die Dramatik der Geschehnisse in der Ukraine mit denen des 11. September 2001 in den USA: „Dieser 24. Februar 2022 wird uns allen als ein Tag im Gedächtnis bestehen bleiben, von dem wir später einmal sagen werden: Ich weiß noch genau, wo ich war, als ich die erste Nachricht vom Krieg in der Ukraine und die ersten Bilder davon gesehen habe“, beschrieb Merz seinen Eindruck der jüngsten Geschehnisse.
Wenige Minuten zuvor hatte Olaf Scholz in einer Regierungserklärung einen radikalen Bruch mit den bisherigen Prinzipien der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angekündigt. Scholz sprach dabei von einer „Zeitenwende“, die er damit einleiten möchte, die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auszustatten. Des Weiteren versprach Scholz, dass der Wehretat in den kommenden Jahren auf deutlich über zwei Prozent des Deutschen Bruttoinlandsprodukts ansteigen würde. Auf dieses Ziel hatten sich die NATO-Mitgliedsländer bereits 2014 als Reaktion auf die Annexion der Krim durch Russland geeignet. Doch trotz dieser Zusage weigerte sich die Bundesregierung bis zuletzt, dies auch umzusetzen.
Dass die Bundesregierung unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine bereit ist, sich zu Maßnahmen durchzuringen, die man trotz massiven Drucks seitens der USA und anderer NATO-Partner jahrelang nicht bereit war umzusetzen zeigt, welche weitreichenden Folgen Russlands Angriff für die europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur bislang hat.
Sanktionen und Aufnahme von Flüchtlingen
Doch der Russland-Ukraine-Krieg ruft nicht nur starke Reaktionen auf der Regierungsebene hervor. Binnen weniger Tage wurden zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen in mehreren Städten organisiert, darunter auch Tübingen. Hier riefen die Europaunion, CDU, FDP, Grüne und SPD sowie deren Jungenorganisationen zu einer Solidaritätskundgebung mit der Ukraine auf. Bei der etwa einstündigen Kundgebung ließ sich dabei eine bemerkenswerte Einigkeit der verschiedenen Parteiorganisationen erkennen.
So forderten sämtliche Redner*innen schärfere Wirtschaftssanktionen gegen Russland, auch wenn damit hohe Kosten für Verbraucher*innen in Deutschland verbunden wären. So sprach sich etwa Malte Voß, Sprecher der Grünen Jugend Tübingen, dafür aus, weitere Sanktionen einzuführen, deren Kosten aber vor allem für die ärmeren Teile der Bevölkerung durch ergänzende Sozialmaßnahmen abgefedert werden sollten: „Wenn die Wiederherstellung des Friedens in Europa einen wirtschaftlichen Preis haben sollte, dann müssen wir bereit sein, ihn zu zahlen. Es muss dabei darauf geachtet werden, dass nicht die Ärmsten in unserer Gesellschaft von den finanziellen Folgen, insbesondere von den steigenden Energiepreisen, am stärksten getroffen werden, ohne einen Ausgleich dafür zu erhalten“, so Voß.
“Die Solidarität darf nicht an unserem Geldbeutel enden.”
Bettina Ahrens-Diez, Vorsitzende des SPD-Kreisverbandes Tübingen
„Die Solidarität darf nicht an unserem Geldbeutel enden. Sie darf nicht enden, wenn unsere Gasrechnungen teurer werden“, bekräftigte hierzu auch Bettina Ahrens-Diez, Vorsitzende des SPD-Kreisverbandes Tübingen.
Eine weitere gemeinsame Forderung der Redner*innen bezog sich dabei auf die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. „Solidarität mit der Ukraine bedeutet auch, diesen Menschen in Europa Zuflucht zu geben. In Deutschland müssen alle Vorbereitungen getroffen werden, um Menschen aus der Ukraine sofort und unbürokratisch aufzunehmen“, forderte Voß. Fabian Köppen, der stellvertretende Vorsitzende der Jusos, schloss sich dieser Forderung ebenfalls an: „Es ist klar, dass unsere Türen offen sind für alle Geflüchteten, die aus diesem Kriegsgebiet kommen“.
Die Vorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten in Tübingen, Lily Mohelská, setzt sich dafür ein, dass die Europäische Union als Reaktion auf diese Krise ihre sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit verstärken müssen. Sie fordert eine europäische Armee und zitierte die Landesvorsitzende der Europaunion Baden-Württemberg, mit der sie übereinstimmend feststellt, dass der Angriff Russland auf die Ukraine nicht weniger ist als ein „Angriff auf die gesamte freie Welt.“
Forderung nach Waffenlieferungen
Jedoch gab es auch vereinzelte Unterschiede. So forderten sowohl Julian Barazi von der FDP als auch Christian Nagel, Kreisvorsitzender der CDU Tübingen, dass die Bundesregierung neben Wirtschaftssanktionen auch Waffen an die Ukraine liefern solle.
Der Redebreitrag von Julian Barazi stach dabei durch seine Entschlossenheit besonders hervor. Barazi, der sich für diese Kundgebung eine ukrainische Nationalflagge um die Schultern gelegt hatte, stieg sehr direkt in das Thema ein, direkter als es vielleicht manchen lieb gewesen wäre. So kündigte er auch gleich zu Beginn seiner Rede an: „Diejenigen von euch, die heute hergekommen sind in der Hoffnung auf eine versöhnliche Rede, in der Hoffnung auf eine Rede in der gesagt wird: ‚Wir können weiter machen wie bisher und ein anderes Resultat erwarten‘, diejenigen werde ich enttäuschen. Es gibt Zeiten für Versöhnung, es gibt Zeiten für Diplomatie und es gibt auch Zeiten für Annäherung, aber diese Zeiten sind nicht jetzt. Diese Zeiten jetzt sind Zeiten des Widerstands.“
„Scharfe Worte und finanzielle Hilfe reichen nicht aus, um eine Invasion rückgängig zu machen“, begründete er seine Forderung nach Waffenlieferungen. „Es braucht Unterstützung für die Ukraine, es braucht Waffenlieferungen für die Ukraine, es braucht die Bereitschaft von der Ukraine auch Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie nach Deutschland kommen, und es braucht die Bereitschaft von uns, Sanktionen mitzutragen“, so Barazi.
“Es ist der Angriffskrieg Wladimir Putins. Es ist nicht der Krieg der russischen Bevölkerung.”
Malte Voß, Sprecher der Grünen Jugend Tübingen
CDU-Kreisvorsitzender Christoph Naser argumentierte ebenfalls, dass Wirtschaftssanktionen nötig seien, aber allein nicht ausreichen werden. „Was wir auch brauchen, sind Verteidigungswaffen für die ukrainischen Streitkräfte, die jetzt ihr Land verteidigen“, so Naser und fügte dem noch hinzu: „Wer sind wir, in diesem von Wohlstand und Frieden gesegneten Landstrich, wenn wir diesen Menschen verwehren, sich zu verteidigen?“
Einig sind sich alle wiederum bei einem: Die Schuld an dem Konflikt trifft allein Wladimir Putin und nicht die russische Bevölkerung. „Der Feind, dem wir uns gegenübersehen, sitzt im Kreml – es ist nicht das russische Volk und es sind erst recht nicht unsere russischen Mitbürgerinnen und Mitbürger“, formulierte es Barazi und Malte Voß verwies auf die vielen russischen Staatsbürger*innen, die nach Ausbruch des Krieges in ganz Russland gegen diesen demonstriert haben: „Solidarität bedeutet, mit den Menschen aus der Ukraine, die unter dem Krieg leiden, solidarisch zu sein und gleichzeitig die Menschen in Russland zu sehen und zu hören, die größten Mut beweisen und gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gehen“, so Voß. Er folgerte daraus: „Es ist der Angriffskrieg Wladimir Putins. Es ist nicht der Krieg der russischen Bevölkerung.“
Die Perspektive von Russ*innen und Ukrainer*innen
Verschiedenste Gründe haben die einzelnen Teilnehmer*innen zu der Kundgebung geführt. Unter ihnen ist auch Jonathan (Name geändert), ein Jura-Student im ersten Semester. Ihn hat der Ausbruch des Kriegs nach eigenen Angaben überrascht und schockiert. Auch deswegen ist er an diesem Tag zu der Kundgebung gekommen. Er machte sich jedoch wenig Hoffnungen, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen könnte: „Ich glaube – realistisch betrachtet – dass Russland die Ukraine besetzen und eine Art Marionettenregierung einsetzen wird.“
An der Kundgebung nahmen aber auch Personen mit teils persönlichen Bezügen zu Russland und der Ukraine teil. So etwa Maria Wolf-Rempke. Sie ist Russlanddeutsche und kam vor 25 Jahren von Russland nach Deutschland. Auch sie äußerste sich empört und wütend über den russischen Angriff. Darauf angesprochen, wie der Westen über Wirtschaftssanktionen den Krieg womöglich beenden könnte, sprach sie sich vor allem für eine Sanktionierung russischer Oligarchen aus: „Es gibt sehr wenige Oligarchen in Russland im Vergleich zum russischen Volk. Wenn sie ihr Geld verlieren, werden sie sich mobilisieren und Putin stürzen“, hofft sie. Gegenüber Wirtschaftssanktionen, die auch weite Teile der Bevölkerung treffen würden, äußerte sie sich skeptisch. Bezüglich Waffenlieferungen wandte sie ein, dass die russischen Streitkräfte den ukrainischen auch mit Waffenlieferungen aus dem Western weiterhin überlegen seien.
Maxim (Name geändert), ein russischer Student der Kognitionswissenschaft, mit dem ich ins Gespräch kam, sah nicht-personenbezogene Sanktionen ebenfalls kritisch. Er begründete dies damit, dass er, im Falle eines völligen Ausschluss Russlands von SWIFT, keine finanzielle Unterstützung mehr von seinen Eltern in Russland erhalten könne. Dadurch wäre die Finanzierung seines Studiums gefährdet.
Daneben gab es jedoch auch russische Teilnehmer*innen der Kundgebung, die sich für einen völligen Ausschluss Russlands aus SWIFT aussprachen. Einer von ihnen war Matvey, ein Mitarbeiter am Max-Planck-Institut. Er tat das, obwohl er neben seiner Arbeit unternehmerisch tätig ist und ein Ausschluss Russlands von SWIFT für ihn einen Abbruch seiner Geschäftskontakte nach Russland bedeuten würde: „Ich verstehe, dass, wenn Russland aus SWIFT ausgeschlossen werden sollte, es richtig schwer wird, mit ihnen zu arbeiten, aber das ist kein großes Problem für ein oder zwei Jahre.“ Diese Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen wäre es ihm wert, wenn dies den Krieg in der Ukraine beenden könnte.
Eine Gruppe Ukrainer*innen war am Samstag auch vor Ort. Auf ihren Protestschildern forderten sie Unterstützung für die ukrainische Armee und das Einrichten einer Flugverbotszone. Eine von ihnen malte ein Plakat mit der Aufschrift „Russian warship – Go Fuck yourself“. Es handelt sich dabei um einen Funkspruch einer kleinen Gruppe von ukrainischen Soldaten, welche die militärische Besatzung der Schlangeninsel, einer kleinen Insel im Schwarzen Meer, absetzten. In den sozialen Medien verbreitete sich vor wenigen Tagen ein Video von der Insel zusammen mit der Tonspur eines Funkspruchs, in welchem ein russisches Kriegsschiff die Inselbesatzung dazu aufforderte, sich zu ergeben, was diese verweigerte.
“Unsere Armee braucht Hilfe. Sprüche allein bringen uns nichts.”
Alina, Tübinger Studentin
Alina, eine der Ukrainerinnen aus der Gruppe und Studentin an der Uni Tübingen erzählte, dass sie aus Kiew komme und zahlreiche Freund*innen habe, die von den Kämpfen um die Hauptstadt direkt betroffen seien. Ihren Grund zur Kundgebung zu gehen, beschrieb sie folgendermaßen: „Wenn ich schon hier bin, muss ich irgendetwas machen. Mehr Menschen müssen das ernst nehmen, je mehr desto besser. Unsere Armee braucht Hilfe. Sprüche allein bringen uns nichts.“
Oksana, ebenfalls ukrainische Studentin an der Uni Tübingen (des Faches Jura), erklärte, dass sie sich vor allem wünsche, dass die NATO-Staaten eine Flugverbotszone über den Luftraum der Ukraine verhängen würden. Sie ist überzeugt, dass die Ukraine dann, ohne die Gefahr durch russische Flugzeuge, Hubschrauber und Fallschirmjäger, diesen Krieg gewinnen könne. „Alles, was auf dem Land passiert, können wir selber regeln“, meinte sie zuversichtlich. “Unsere Armee ist die beste.“
Gegenüber dem Einwand, dass dies eine direkte militärische Konfrontation zwischen der NATO und Russland bedeuten würde, erwiderte sie, dass es früher oder später sowieso zum Krieg zwischen NATO und Russland kommen würde, sollte es Putin gelingen, die Ukraine zu erobern: „Man merkt, dass Putin auch Ansprüche auf das Baltikum erhebt. Wir Ukrainer wissen, dass er bei der Ukraine nicht Halt machen wird.“
Gegen Ende des Gesprächs fragte mich Oksana, ob sie mir auch eine Frage stellen dürfe: „Warum ist Deutschland gegen Waffenlieferungen an die Ukraine?“ Sie habe dafür kein Verständnis und verstehe auch nicht, wieso man angesichts der Lage in der Ukraine auf dieser Position beharre. Zu dem Zeitpunkt unseres Gesprächs hatte die Bundesregierung ihre langjährige Haltung, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern und liefern zu lassen, noch nicht aufgeben. Erst eine Stunde nach unserem Gespräch wurde gemeldet, dass die Bundesregierung nun doch europäischen Staaten erlaube, Waffen aus deutscher Fertigung an die Ukraine zu liefern. Kurz danach wurde auch bekannt, dass die Bundesregierung direkt Panzerabwehrwaffen mit der zugehörigen Munition und Flugabwehrraketen an die Ukraine liefern werde. Warum Deutschland sich zu diesem Schritt erst am dritten Tag der Invasion durchringen konnte, bleibt jedoch eine relevante Frage.
Teile der Gesellschaft, beispielsweise die Politikerin Sahra Wagenknecht, wollten den Ernst der Lage lange nicht wahrhaben. Sogar die Lieferung von Schutzausrüstung an die Ukraine, gefordert von Robert Habeck wenige Monate vor der Bundestagswahl, wurde heiß diskutiert. Deutschland lieferte nur Helme, als andere längst Waffen schickten.
Die Zukunft der Atomwaffen
Die Lage in der Ukraine ist durchaus ernst und wird voraussichtlich auch für die Zukunft dramatische Konsequenzen haben. Julian Barazi wies in seiner Rede darauf hin, dass die Invasion der Ukraine dazu führen werde, dass mehr Staaten das Erlangen von Nuklearwaffen anstreben würden. Die Ukraine hatte ihre Nuklearwaffen in Folge des Budapester Memorandum 1996 an Russland übergeben und im Gegenzug die Zusage erhalten, dass Russland die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine respektieren würde. Eine Zusage, die Russland bereits 2014 und nun mit seinem Angriff endgültig gebrochen hat.
Seitens der Ukraine könnte nun die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es ein Fehler war, auf Nuklearwaffen zu verzichten. Andere Staaten könnten ihrerseits die Schlussfolgerung ziehen, dass sie Nuklearwaffen erlangen sollten, wenn sie wirklich verhindern wollen, dass eine übermächtige Großmacht sie überfällt, so wie es jetzt der Ukraine geschieht. Dass der ehemalige japanische Premier Shinzo Abe sich dafür aussprach, dass die USA Atomwaffen in Japan stationiere, zeigt, dass diese Überlegungen wirklich gemacht werden. Genau das ist das Problem, auf das auch Barazi hinweist: „Was das jetzt zeigt, ist, dass es für kleinere Länder wie die Ukraine ein Fehler ist, ihr Atomwaffenprogramm aufzugeben, solange die Welt nicht bereit ist, sie zu schützen. Was gerade passiert, ist eine riesige Gefahr für die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, mit der wir uns noch in den nächsten Jahrzehnten rumschlagen werden. Dagegen spreche ich mich aus.“
Obwohl Barazi sich eigentlich gegen Atomwaffen ausspricht, wird er von Zwischenrufen unterbrochen, die ihn beschuldigen, ein Kriegstreiber zu sein. Es entsteht so der Eindruck, dass es von manchen Menschen in Deutschland nach wie vor als eine Provokation empfunden wird, wenn man sicherheitspolitische Tatsachen klar und deutlich anspricht. Zu diesen Tatsachen gehört leider auch der Umstand, dass wir seit Mittwoch wieder einen Krieg in Europa haben Teil dieser Tatsachen ist und Sprüche allein nicht helfen werden, ihn zu beenden.
Fotos: Thomas Kleiser