von Hagen Wagner und Jonas Holsten
Es klingt schon fast romantisch: Jemanden zu haben, der weiß, wie es mir geht, ohne nachzufragen, jemand, der mir meine Entscheidungen abnimmt und mir in allen Fragen des Lebens beratend zur Seite steht. Doch in der neuen Inszenierung “(R)Evolution” am Landestheater Tübingen geht es um mehr als eine Liebesgeschichte. Inspiriert von Yuval Noah Hararis Buch “Homo Deus”, spielt die Hauptrolle hier kein Mensch, sondern ein Algorithmus.
“Denn wenn jemand versucht zu beschreiben, wie die Welt Mitte des 21. Jahrhundert aussehen wird und es wie Science-Fiction klingt, dann ist es vermutlich falsch.
Aber wenn man die Welt Mitte des 21. Jahrhunderts beschreibt und es nicht nach Science-Fiction klingt, dann ist es garantiert falsch.“
Der blaue Vorhang ist noch geschlossen, das Publikum im Theatersaal murmelt vor sich hin, da tritt eine uniformierte Person ins Scheinwerferlicht der Bühne und kündigt etwas Organisatorisches an – vermutlich routinemäßig wegen Corona. Doch das, wovon der Mann mit blonder Schmalzlocke im Anschluss erzählt, passt so gar nicht zur Art einer Routine: Die Rede ist von einer großen Revolution, wie es sie vorher noch nie gab. Die nächste Evolutionsstufe der Menschheit stehe unmittelbar bevor. Doch was ist damit gemeint?
„Und nachdem wir die Menschheit über die animalische Ebene des Überlebenskampfs hinausgehoben haben, werden wir nun danach streben, Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo deus zu machen.“
Homo Deus, S. 38.
20 Jahre in die Zukunft versetzt, findet sich das Publikum in einem inszenierten Gedankenspiel wieder, das jeglicher naiver Vorahnung zu trotzen scheint. Es ist weder eine klassische, noch eine moderne Erzählung. Es gibt keine Protagonist*innen, keine feste Dramaturgie. Die fünf Schauspieler*innen auf der Bühne wechseln ihre Rollen mehrfach zwischen Mensch und Maschine, selbstbestimmten Individuum und gesichtsloser Datenkrake.
Die Mischung könnte kaum verrückter sein – ein temperamentvolles Liebespaar, das sich über das Angebot seines neuen Designerkindes zerstreitet; ein Arzt, der beim Yoga nur an Essen denkt; eine just arbeitslos gewordene Amazon-Mitarbeiterin, der ein Verhör bevorsteht und ein homosexuelles Ehepaar, dass sich in virtuellen Realitäten begegnet, ohne einen realen Blick auszutauschen. Sie alle sind im wahrsten Sinne des Wortes verwirrt. Das Publikum bricht mehrfach in Lachen aus, amüsiert von der schrillen Darstellung.
Von SciFi-Comedy zur dystopischen Gesellschaftsdiagnose
Doch besonders in der zweiten Hälfte der Aufführung wird klar – den Theatermachern Yael Ronen und Dimitrij Schaad geht es um mehr als bloße Science Fiction-Belustigung. Denn nicht die Handlungen der Charaktere machen die Theaterszenen so banal, sondern vor allem deren Ohnmacht. Sie entscheiden nicht mehr, sie wählen nicht mehr, sie wissen nicht (mehr), was sie wollen – um diese Angelegenheiten kümmert sich nämlich ab sofort ein Algorithmus für sie. „Alecto“, eine Art Weiterentwicklung der Sprachassistentin Alexa, weiß genau, was Doktor Stefan Frank zum Abendessen möchte; er weiß, welches Designerkind am besten zu Ricky und Lana passt. Er weiß sogar, wen die arbeitslose Amazon-Mitarbeiterin Tatjana in Wahrheit vermisst und warum sie aufgrund dieser Perspektivlosigkeit bald zur Terroristin werden wird.
Was hier zugespitzt in kompakten Alltagsgeschichten verpackt und mit Techno-Musik untermalt ist, geht im Großen auf eine kontroverse Gesellschaftsdiagnose des Historikers Yuval Noah Harari zurück. In seinen Büchern schreibt er davon, dass der vermehrte Einsatz von Algorithmen und deren Verbindung mit Biotechnologie unser Selbstverständnis als individuell selbstbestimmte Menschen vollkommen infrage stellen werden.
Der Name “Alecto” (altgr. ‚die niemals Rastende‘) weist zurück auf die Schwester der Megaira („Beneiderin“) und Tisiphone („Mordrächerin“) aus der römischen und griechischen Mythologie. Zusammen bilden sie die Erinyen, deren Aufgabe darin besteht, Ordnung und Recht zu wahren, aber zwischendurch auch ein biss-chen Wahnsinn einzustreuen. Was hier auf theatralischer Ebene als Trivia daher geht, löst bei Amazons ‚Alexa‘ greifbarere Bedenken aus. Ständig wird man erinnert, dass diese Zukunfts-vision, und sei sie noch so absurd, nicht undenkbar – in mancher Hinsicht sogar schon real – ist.
„Seit Jahrhunderten macht uns der Humanismus weis, dass wir der eigentliche Quell allen Sinns sind und dass unser freier Wille deshalb die oberste Autorität darstellt. Statt auf irgendeine äußere Instanz zu warten, die uns erklärt, was Sache ist, können wir auf unsere eigenen Gefühle und Wünsche vertrauen.“
Homo Deus; S. 347
Die Illusion des freien Willens
Was aber sind unsere wahren Gefühle und Wünsche? Wie entscheiden wir uns? Wissen wir überhaupt immer, was wir wirklich wollen und brauchen? Diese Fragen sind in dem meisten Situationen zweifellos nicht einfach zu beantworten. Der Glaube an einen freien selbstbestimmten Willen entpuppt sich, wie Harari an diversen verhaltenspsychologischen Analysen zeigt, als eine naive Illusion. Wer unser persönliches Innenleben gut genug kennt, könne theoretisch alle unsere Entscheidungen und Handlungen vorausahnen. Algorithmen sind dafür gemacht, große Datenmengen zu sammeln und auszuwerten. Wenn sie nun auch unsere persönlichen Biodaten sammeln und auswerten, so Hararis These, werden uns Algorithmen irgendwann besser kennen als wir uns selbst und damit auch bessere Entscheidungen treffen als wir selbst.
So geht das Stück in seiner Zukunftsvision einen Schritt weiter, diskutiert die Gender-Debatte nicht aus moderner Perspektive, sondern ignoriert all seine Problemfelder als abgearbeitet. Stattdessen schlägt sich das homosexuelle Pärchen mit einem anderen Konflikt herum: Transhumanismus. Was, wenn man nicht mehr das Gefühl hat, in einem falschen Körper, sondern falsch in einem Körper geboren worden zu sein. Dafür wird mit einfachsten Mitteln – einem Eimer auf dem Kopf und einem Kleiderbügel in der Hand – eine virtuelle Realität als Fluchtpunkt der Protagonisten dargestellt. Eine Realität, so echt, dass sich der Mensch buchstäblich darin verlieren könnte. Eine Vorstellung, die vor allem in ihrer archaischen Darstellung abschreckend wirkt.
Jedoch hört die Gender-Debatte hier nicht auf. Während der Mensch auf der einen Seite dazu neigt, sich selbst zu digitalisieren, strebt der Algorithmus danach, sich selbst zu materialisieren. Die KI ‚Alecto‘ begleitet unsere Protagonist*innen durch den ganzen Tag, ist dabei treuer und fürsorglicher als jeder andere Mensch. Kein Wunder also, dass auch im Bezug auf ‚Alecto‘ Gefühle bestehen – warum also hier aufhören, Geld zu verdienen? So bietet ‚Alecto‘ im Zuge eines Updates ein Hirnimplantat an, um den Algorithmus selbst Fleisch werden zu lassen.
Spiegel der Ohnmacht
Und so kann aus postmoderner Bequemlichkeit eine Bedrohung für das Individuum entstehen. Menschen werden zu steuerbaren Datenquellen degradiert – von einer Technologie, die sie selbst erfunden haben. Daran erinnert auch die Bühnenkulisse im großen Saal des LTT. „Troll Farmer“, ein halbdurchsichtiges Gemälde des Malers Norbert Bisky dominiert die Bühne. Auf ihm sieht man einen Menschen, der in Trance auf einen Laptopbildschirm starrt, aus welchem wiederum ein Arm ragt und ihm einen ausgestreckten Mittelfinger zeigt. Eine Botschaft, die deutlicher kaum sein könnte, doch in der digitalen Vernebelung trotzdem ignoriert wird.
Zugegebenermaßen – so überspitzt die Welt auch scheinen mag, die hier 20 Jahre in die Zukunft versetzt wird, so zeigt sie doch auf dramatische Art in die Mitte unserer Gegenwart. Algorithmen gibt es längst, ob auf Spotify, YouTube oder Instagram. Die Frage ist nur, werden wir uns selbst noch wiedererkennen, wenn sie nicht nur in unseren Handys und Computern, sondern evtl. bald auch als Biochips und -sensoren in uns selbst stecken und jede Aktivität überwachen? Nach der gut 100 minütigen Vorstellung verlässt das anfangs noch amüsierte Publikum in nachdenklichen Murmeln den Saal. Als würde es in den Spiegel schauen und sich selbst nicht mehr erkennen.
Unmöglich scheint es, die Aufführung als irren Traum abzuschütteln. Tritt man aus dem Theater, ist man noch immer mittendrin. Dies macht ein Seitenblick auf Mark Zuckerbergs jüngste Umbenennung der Facebook Inc. zu Meta Platforms, Inc. deutlich. Virtuelle Realitäten, die den Arbeits-, Sport- und Unterhaltungsmarkt in einer VR-Brille verpacken, sind keine abstruse Spinnerei, sondern bereits Realität. So sagt Harari in einem Interview mit dem Spiegel:
„Falsch ist diese apokalyptische Hollywoodvorstellung von irgendwelchen martialischen Robotern, die die Macht ergreifen und alle Menschen umbringen. Viel eher werden wir Schritt für Schritt und in einer für die meisten Menschen unmerklichen Weise mit unseren eigenen Erfindungen verschmelzen […]. Viele Leute empfinden ja schon heute ihr Mobiltelefon als Teil ihrer selbst, von dem sie sich kaum noch trennen können. Viele Leute verbringen schon heute mehr Zeit damit, ihre Persönlichkeit auf Facebook zu gestalten als in der Wirklichkeit. Irgendwann werden diese Optimierungen uns so weit verändert haben, dass es nicht mehr sinnvoll ist, dieses Lebewesen Homo sapiens zu nennen.“
Quelle: Spiegel
Wer sich selbst ein Bild von der Aufführung machen möchte und wissen will, welche Nebenrolle Boris Palmer spielt, hat noch bis Ende Januar Gelegenheit, dafür ins LTT zu kommen. Tickets gibt es online bereits ab 7 Euro. Ein 2G-Nachweis ist obligatorisch.
Fotos: © Tobias Metz/Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen/Reutlingen
(R)Evolution auf der Website des LTT
Weitere Aufführungstermine: 20.11.21 (16Uhr); 16.12.21; 20.12.21; 21.12.21; 19.01.22, 27.01.22; 28.01.22 jeweils um 20 Uhr