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Mit dem Rad durch Europa – im Donnergrollen zelten und andere verschwiegene Lebensträume

Du hast die Schule abgeschlossen und stehst zum ersten Mal vor tatsächlich entscheidenden Entscheidungen? Fängst du mit einer Ausbildung an, schreibst dich für ein Studium ein oder – Gott bewahre – hast du etwa noch gar keinen Plan, wie es weiter gehen soll? Geh erstmal vor die Tür und atme tief durch. Irgendetwas anzufangen, was du am Ende gar nicht willst, bringt dich auch nicht dahin, wo du hingehörst. Mein Vorschlag: Mach doch eine Radtour!

Warum eine Radtour? Weil du wissen solltest, woher die Baumkrone ihr Wasser zieht. Wenn du mal einen Blick über die Schulter wagst, wirst du merken, was hinter den sieben Milliarden Menschen für eine Zahl steckt, worauf sie ihre Existenz aufgebaut haben und womit auch du deinen Lebensinhalt füllen kannst. Zu Corona-Zeiten vielleicht ein blöder Vorschlag, ich weiß, aber sobald sich die Situation entspannt hat, dürfen dir auch wieder Magen-Darm, Zeckenbisse, Sonnenbrand und Knochenbrüche Panik schieben. Vorweg: Eine Auslandskrankenversicherung zu haben, ist garantiert ein Muss, jedoch habe ich sie nie gebraucht. Das heißt nicht, dass dir der heilige Christophorus seine Hand über den Kopf hält, sondern dass dich ein Schnupfen oder eine Schramme nicht sofort kampfunfähig rendern.

Auch musst du nicht gleich für drei Jahre um den Globus radeln. Ein Wochenendtrip kann schon ausreichen, um den Kopf einmal frei zu spülen. Ob du dabei pro Tag 30 km fährst, oder 150, bleibt allein dir überlassen. Willst du viel sehen oder viel denken? Und wenn du schon mal dabei bist: Was steckt wohl hinter dieser Entscheidung?

Über den Redakteur und warum er diesen Artikel geschrieben hat:

Ich bin kein Bear Grylls; mehr so der verschollen geglaubte Dude von nebenan. Nach Abi und Ausbildung habe ich mein Leben weggelegt wie ein zähes Buch, bei dem man das Ende schon kommen sieht. Zwei Monate und acht Länder später stand ich in Albanien, den Geldbeutel bis aufs Mark geleert, aber den Kopf zum Zerbersten gefüllt. Heute studiere ich und arbeite daran, Bücher zu schreiben, bei denen selbst ich das Ende nicht voraussehen kann.

In meinem Fahrrad-Setup weiß ich blind, wo alles ist.

Rüste dich für dein Abenteuer!

Deine Ausrüstung ist schon wieder ein anderer Schnack. In vielen Fällen kostet das Equipment sogar mehr als die Reise selbst. Für einen Wochenendtrip reicht es, den alten Drahtesel einmal zu schmieren und sich das Festivalzelt eines Bekannten auszuleihen. Erst für größere Projekte sollte es ein wenig angepasster sein. Das Fahrrad tut dabei in der Anschaffung am meisten weh, tröstet aber dadurch, dass es auch nach der Tour noch Benutzung findet. In meinem Fall habe ich 3.000€ für mein Fahrrad bezahlt, was sich dadurch rentiert, dass ich privat kein Auto nutze. Allerdings lassen sich gute Reiseräder auch schon für 1.000-2.500€ finden. Was für eine Art Fahrrad es dabei sein sollte, hängt von dir ab. Der eine mag lieber mit wenig Gepäck aber ordentlich Karacho über den Asphalt zimmern, wofür sich ein Sporttourer empfiehlt; die andere möchte durch die Wälder und tiefsten Schlammlöcher brettern, wofür sie zum Mountain- oder Gravelbike greift. Wie man das Kind am Ende nennt, ist aber Nebensache. Wichtig ist, dass man seinem Geschmack folgt, und die goldene Mitte findet sich ganz von allein.

Das Fahrrad ist das Letzte, wobei du hier sparen möchtest! Ein etwas zu breiter Sattel oder eine ständig rausfliegende Kette gehen auf Dauer stark auf die Nerven und mindern das Reisevergnügen.

Darauf rechnest du weitere 1000€ für diverse Taschen (Gewichtsverteilung ist eine höchst persönliche Philosophie), ein kompaktes Zelt, Schlafmatte (guter Schlaf ist wichtiger als jedes All-You-Can-Eat), Schlafsack und Inlett, Mini-Spaten (deine Wildnistoilette), Powerbank, Werkzeug, Ersatzteile, Erste-Hilfe-Beutel etc. etc. und – last but not least – einen Fahrradhelm (safety first!).

Beginne deine Quest!

Na, schon abgeschreckt? Bedenke, dass das alles Vorauszahlungen für eine Reise sind, die es im Nachhinein wert sein soll. Wer seinen Geldbeutel jetzt schon im Garten vergraben hat, auf den warten noch so manche Leichenschänder. Was soll der Reisealltag kosten? Willst du schick essen gehen oder dich selbst versorgen? Hotel, Campingplatz oder heimlich wild-campen? Mit dem Flugzeug zurück oder eine Kreisrunde? Wer hier nicht mehr so viel ausgeben möchte, der sei entwarnt. Auch ich ziehe es vor, auf Reisen weniger auszugeben; etwa 10€ pro Tag. Und solch ein Lebensstil wird sogar belohnt! Zwar wirst du nicht essen wie die Könige, aber es ist ja auch eine Radreise, keine Gourmetreise. Innerhalb Europas gilt weitestgehend Visafreiheit, was einen wahren Tob-Dich-Aus-Spielplatz eröffnet (informiere dich trotzdem vorab über das Land, in das du einreisen möchtest). Wer sich eine etwas nischenorientiertere Alternative zu Google Maps holt (siehe Offline-Maps wie Maps.me, Sygic o.Ä.), findet an mehr Stellen als erwartet Trinkwasserbrunnen, öffentliche Toiletten und Duschen, Insider-Strecken (siehe EuroVelo o.Ä.) und örtliche Sehenswürdigkeiten. Auch ist es kein Verbrechen, irgendwo zu klingeln und höflich zu fragen, ob man die Nacht im Vorgarten verbringen dürfte. Menschen können unfassbar freundlich sein und sehen meist schon die Geschichten, die man mitbringt, als ausreichende Bezahlung. Mach dir nur keine Sorgen, wenn du die Landessprache nicht sprichst. Pantomime spielt man auf der ganzen Welt.

Vor dem Spaß sprechen wir aber noch über die Fitness. Ein Probetrip ist genau das Richtige, um sich nicht Hals über Kopf in die Semi-Obdachlosigkeit zu schmeißen. Kannst du dich daran gewöhnen, bei winterlichsten Temperaturen im Zelt zu schlafen, skurrile Gerüche an dir festzustellen, und auch bei Sturm und Muskelkater noch vom Fleck zu kommen? Wer mit solchen Problemen in der gewohnten Umgebung fertig wird, der hat auch außerhalb wenig zu befürchten – und die Welt hält einiges im Petto! Dabei sind die ersten Tage für alle gleich: Ein Riesenfehler! Lass dich davon aber nicht entmutigen. Das Becken ist beim Reinspringen immer kalt, bring also etwas Geduld mit, um dich an diese neue Lebenstemperatur zu gewöhnen.

Große Abenteuer – zu gefährlich für Frauen?

Ein Thema, das (leider) besondere Nennung verdient, sind Frauen allein auf dem Rad. Während Eltern ihre Söhne ohne Halt auf so eine Reise loslassen, äußern sich bei Töchtern doch letzte Bedenken. Aber sind diese berechtigt? Ich kann nur von den Frauen berichten, die mir auf meinen Reisen begegnet sind – in Gruppen, aber viele auch allein. Frauen, die sich aus dem von liebevollen Eltern vergitterten Kinderzimmer rauswagen, strahlen eine Selbstsicherheit aus, die sie das ganze Leben nicht mehr verlieren. Wie zu Beginn bereits angesprochen, lernst du nicht nur, woher die Baumkrone ihr Wasser zieht, sondern auch, wie stark ihre Wurzeln sind.

Am Ende der Heldenreise erwartet dich ein neues Ich

Wenn du diesen Artikel bis hier hin gelesen hast, gehe ich davon aus, dass du die Idee einer Radreise noch nicht völlig aus dem Fenster geworfen hast. Die finale Frage lautet: Ist es das alles überhaupt wert? – Meiner Meinung nach, klar, je früher desto besser! Was auch immer du auf dieser Reise lernst, wird dich dein Leben lang begleiten. Auch wenn die Kosten auf einem hohen Risiko begründet sind, hat man meist erst wieder im Rentenalter die Möglichkeit, ein derartiges Abenteuer einzugehen – wenn allein schon die Einkaufsroutine zu einer Weltumrundung wird. Häufig bleibt man in Arbeitsverträgen, Zahlungsverpflichtungen und Familienverantwortung stecken, sodass der Wunsch zu einem Traum wird. Wenn du es also wagen möchtest, dann jetzt!

Fotos: Jonas Holsten 

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