Endlich gute Nachrichten aus dem Kultursektor: Das CineLatino 2021 darf stattfinden – im Kino! Mehr als zwanzig spanische und lateinamerikanische Filmproduktionen erobern ab dem 2. Juni die Lichtspielhäuser. Wir haben mit Paulo de Carvalho, dem Festivalleiter gesprochen – über Kultur in der Pandemie, das Publikum in Tübingen, und ob Boris Palmer auch manchmal ins Kino kommt.
Es ist Donnerstag, der 27. Mai. Weniger als eine Woche bis zum geplanten Start des CineLatino, als die Entscheidung fällt. Das Filmfestival wird stattfinden, und zwar im Kino, mit Zuschauer*innen, Eintrittskarten und Popcorn – aber auch mit Abstand, Maske, und Online-Ausweichmöglichkeiten. Noch ist die Pandemie nicht besiegt. Aber es gibt Lichtblicke.
Vom 2. bis 9. Juni werden dann die handverlesenen Filme des CineLatino im Tübinger Kino Museum zu sehen sein, parallel dazu läuft auch ein Onlineangebot. Der Fokus liegt dieses Jahr auf Kolumbien, speziell auf dem Thema der „Afrocolombianidad“, also dem Schwarz-Sein in Kolumbien. Die Thematik spiegelt sich auch im reichhaltigen Rahmenprogramm wider. Gäste wie Jhonny Hendrix Hinestroza (Regisseur) oder Felipe Moreno Salazar (Journalist) öffnen den Blick für kolumbianische Themen. An dieser Stelle profitiert das Festival von der Pandemie: Gerade die lateinamerikanischen Gäste haben sich häufig für Onlineformate entschieden. So erreichen Podiumsdiskussionen und Buchvorstellungen möglichst viele Zuschauer*innen.
Von Kolumbien bis an den Neckar
Ein Teil des Rahmenprogramms findet natürlich auch in Tübingen selbst statt. So wird zum Beispiel der Freistil-Garten am Neckar wieder zum Open Festival Space umfunktioniert. Dort erwarten die Gäste u.a. Kurz- und Dokumentarfilme, Tanzen zum Tropical Vinyl Sound mit Don Jorge, oder auch ein Mexican Style Brunch – und das alles mit freiem Eintritt.
Das CineLatino mischt die Tübinger Kulturszene also gehörig auf.
Aber wie kann das eigentlich sein? Ganz Deutschland befand sich monatelang im Dornröschenschlaf. Wie kommt es, dass nun ausgerechnet ein Filmfestival wachgeküsst wurde? Darüber haben wir mit mit Paulo de Carvalho gesprochen, der das CineLatino 1992 ins Leben rief und seither als Festivalleiter tätig ist. Er nimmt sich wenige Tage vor Beginn des Festivals Zeit, um einige Einblicke in die Planung und Durchführung zu geben.
“Die Idee ist, dass es eine Dynamik zwischen Kino und Online gibt”
Seit letztem Jahr sitzt das Team an den Vorbereitungen für das diesjährige Programm. Sie verlangen dieses Jahr eine ganze Menge Spontanität. Filme mussten akquiriert, Kinosäle gemietet werden. Ursprünglich war geplant, dass das Programm im April stattfindet. Da die Bedingungen damals kurzfristig aber doch kein „Präsenzkino“ zuließen, wurden die Pläne kurzerhand überworfen und ein Hybridfestival aus dem Boden gestampft. Ein reines Onlinefestival hätten sie auch in Erwägung gezogen, räumt Carvalho ein, aber für ihn stünde die besondere Atmosphäre des CineLatino im Vordergrund. Und die ließe sich im Kino und auf der Leinwand besser vermitteln als vor dem heimischen Empfangsgerät.
Das Hybridformat verbindet nun Vorteile beider Varianten: Zuschauer*innen können einen „echten“ Kinobesuch genießen, während das Onlineangebot Planungssicherheit gibt. Die Filme werden jeweils einen Tag nach der Ausstrahlung im Kino online freigeschaltet und stehen dann eine Woche lang zur Verfügung, sodass die Zuschauer*innen nichts verpassen müssen. „Die Idee ist, dass es eine Dynamik zwischen Kino und Online gibt“, so Carvalho.
Was ihm Sorgen bereite, sei die sehr kurzfristige Entscheidung für eine Präsenzversion. Er befürchte, dass es Vielen zu spontan sei, oder die Nachricht über die Öffnung des Kultursektors noch gar nicht durchgesickert sei. „Wir sind nun mal in Deutschland, wo alles programmiert ist. Die Leute müssen frühzeitig die Infos bekommen.“
Um das Publikum in die Säle zu bekommen, wurden die Ticketverkäufe nun zügig über die Seiten der Tübinger Kinos in die Wege geleitet, und das Team arbeitet auf Hochtouren an den letzten Vorbereitungen.
Preisgekrönte Produktionen
Und diese Arbeit lohnt sich: Das Cinelatino wartet wieder einmal mit ungewöhnlichen, spannenden Produktionen. Mit im Programm sind dieses Jahr auch einige Kurzfilme sowie Dokumentationen. Schon im Eröffnungsfilm, „A media voz“ von Heidi Hassan und Patricia Pérez Fernández, zeigt sich die humanistische Linie des Festivals. Der Spielfilm handelt von zwei kubanischen Emigrantinnen, die sich erst aus den Augen verlieren und nach fünfzehn Jahren langsam wieder annähern.
Im Laufe der Woche erkunden zahlreiche preisgekrönte Produktionen Themen wie Jugend, Religion und Selbstfindung, aber auch Hoffnungslosigkeit, Gewalt, Stagnation. Sie spannen ein breites Bild auf, ohne belehren zu wollen, sondern um zu erzählen, zu berichten.
Als Festivalleiter sucht Carvalho die Filme zum großen Teil selbst aus. Er arbeitet seit langen Jahren in der Filmbranche, ist Juror bei Filmfestivals und lehrt selbst an einer künstlerischen Hochschule. Dabei, so erklärt er, suche er ständig nach besonderen Themen und jungen Talenten.
Das Schwarz-Sein in Lateinamerika sei in den letzten Jahren immer stärker thematisiert worden, auch Produktionen aus Kuba oder Brasilien wurden hierzu schon in Tübingen gezeigt. Deshalb und aufgrund der wachsenden Filmbranche im Land, habe er dieses Jahr Kolumbien als Fokus gewählt.
“In Tübingen kann ich mehr wagen”
Tübingen ist der Ausgangspunkt des CineLatino, das sich inzwischen auch nach Stuttgart, Freiburg und Reutlingen ausgebreitet hat. Seit nun 28 Jahren ist es hier zuhause. Das Festival profitiere hier vom jungen Publikum, so Carvalho: nicht nur viele Lateinamerikaner seien hier zuhause, auch Personen mit Auslandserfahrungen oder solche, die einfach die Sprache lernen wollen seien regelmäßige Zuschauer.
Aber auch der akademische Bildungsgrad trägt natürlich dazu bei, dass ein solches Festival hier Fuß gefasst hat. Das Publikum in Tübingen sei zum Beispiel ganz anders als in Stuttgart oder auch Reutlingen: „Tübingen ist speziell. Hier kann ich immer besondere Filme zeigen. Es gibt Filme, die nicht einfach sind (…), die würde ich in Stuttgart nicht zeigen, das passt einfach nicht.“
Mit seiner Filmauswahl bezieht das CineLatino auch politisch Stellung. Gerade jene Produktionen, die Perspektiven öffnen, Stellung beziehen, die Lage schildern, kämen hier in Tübingen besonders gut an:
„Die jungen Leute interessieren sich. Wir merken, wenn wir einen politischen Film haben (…), ist das Kino voll. Die Diskussion ist immer lebendig“, so Carvalho.
Das diesjährige Cinelatino ist auch in dieser Hinsicht ein besonderes: Es fällt zusammen mit der Präsidentschafts-Stichwahl in Peru, bei der sich zwei sehr unterschiedliche Kandidat*innen gegenüberstehen. Die Stimmung im Land ist angespannt. Die zwei peruanischen Produktionen, „Hugo Blanco, río profundo“ und „La revolución y la tierra“ rücken dadurch nochmal in ein neues Licht. Carvalho verspricht sich davon eine umso spannendere Festivalwoche und beweist einmal mehr, dass Planänderungen manchmal auch Gutes mit sich bringen können.
“Es darf nicht zu Latino sein”
Trotz der besonderen Atmosphäre der Universitätsstadt räumt Carvalho ein, dass der Dialog zwischen Deutschland und Lateinamerika nicht immer einfach ist. „Ich glaube, eine der größten Herausforderungen ist, dass wir ausgleichen müssen. Es darf nicht zu Latino sein: Chaotisch (…) oder zu locker; und nicht alles so von Anfang bis Ende durchdacht, und alles funktioniert picobello. Wir versuchen, ein Gleichgewicht zu finden.“
In der Vergangenheit hat sich die Mediation zwischen den Kulturen allerdings als erfolgreich erwiesen, und zwar für beide Seiten. Regisseur*innen, Produzent*innen und Filmverleihe seien stolz darauf, international vertreten zu sein, und über die Jahre hinweg habe auch Tübingen eine gewisse Popularität erlangt, nicht zuletzt durch die positiven Publikumsreaktionen: „Inzwischen ist Tübingen schon ein Begriff. Ich muss nicht immer von Stuttgart erzählen, das ja total anders ist“, berichtet Carvalho.
Kultur im Katastrophenmodus: “Die Worte sind da, aber irgendwann muss was Konkretes kommen.”
Bei aller Freude, dass das CineLatino stattfinden kann, es bleibt doch ein bitterer Beigeschmack. Dass die Tübinger Kulturszene die Pandemie größtenteils heil überstanden hat, ist nicht selbstverständlich. Die leeren Versprechungen und Reden der letzten Monate überschatten die Wiederaufnahme des Kulturbetriebs.
Auch Carvalho, der Tübingen seit Jahren kulturell bereichert, findet kritische Worte:
„Im Diskurs, in den Emails, da steht, dass Kultur relevant ist, dass sie wichtig ist, (…) aber in der Praxis (…) habe ich nicht viel gesehen.“
Er betont auch die paradoxe Lage der Kulturschaffenden in der Pandemie: Die nötigen Gelder seien vorhanden, öffentlich würde die Relevanz des Kultursektors beteuert, und trotzdem sehe er Kolleg*innen am Existenzminimum kämpfen, Kulturbetriebe schließen. Dabei war es genau das, was für ihn maßgeblich dazu beigetragen habe, dass wir den schier unendlichen Lockdown-Winter überstanden haben: „Wir alle waren im Lockdown. Was haben wir gemacht? Wir haben Filme geguckt, gelesen – wir haben viel (Kultur) konsumiert. Wir würden es sonst nicht schaffen, so viele Monate ohne Kulturangebote.“
Umso mehr freue er sich auf Kinoerlebnisse in Gesellschaft. „Es ist schon besonders, dass wir Leute im Kino empfangen können. Kino ist auch etwas Gemeinsames. Jeder guckt ja für sich, der Film ist für jeden anders. Aber dieses Gemeinsame, das Hingehen, Warten, dann geht das Licht aus (…)“, das mache ein Kinoerlebnis erst wirklich bedeutsam.
Auf die Frage, ob Boris Palmer denn auch ab und zu die Kinosäle besuche, lächelt de Carvalho nur: „Palmer kommt manchmal zur Eröffnung ins Kino. Manchmal guckt er dann auch den Film, manchmal nicht.“ Der OB habe aber seine Unterstützung geäußert und sei Verfechter der Öffnungen des Kulturbereichs.
Als Neustart der Kultur scheint das CineLatino genau das richtige Programm zu sein: handverlesene Filme, die jeweils nur einmal im Kino gezeigt werden.
„Wenn Sie so lange ohne Kino gelebt haben, müssen Sie nicht schnell einen Blockbuster gucken – die werden sowieso wochenlang im Kino bleiben. (…) Das hier ist wirklich etwas Besonderes.“
Das CineLatino ist ein Tübinger Glücksfall. Nach Monaten der kulturellen Entbehrung werden uns filmische Meisterleistungen auf dem Silbertablett serviert – dieses Dornröschen hat es allemal verdient, wachgeküsst zu werden.
Oder, wie es im Internetauftritt des CineLatino formuliert wird: „Vom Neckar aus können Sie das Meer erreichen. Das Kino ist ein Kanu. Genießen Sie Ihre Reise.“
Beitragsbild: Cinelatino Pressekit