Eigentlich soll der Studierendenrat die Interessen aller Tübinger Studierenden vertreten. Doch immer wieder erntet er für seine Arbeit Kritik. Was sind das für Vorwürfe? Und was sagen diejenigen dazu, die sich in ihm engagieren? Ein Überblick.
Zugegeben: Es sagt schon ziemlich viel über die Popularität des Tübinger Studierendenrats (StuRa) aus, wenn sich die Kupferblau eine ganze Woche lang Zeit dafür nehmen muss, ihn vorzustellen. Doch neben Unwissenheit über seine Existenz, kursieren in der Studierendenschaft auch jede Menge Vorbehalte. Drei Baustellen werden immer wieder genannt: Interne Streitigkeiten, Legitimationsprobleme, Machtlosigkeit. Wir haben mit Vertreter*innen des StuRa über diese Vorwürfe gesprochen. Die Liberale Hochschulgruppe und die Unabhängige Liste Fachschaft Jura standen nicht für ein Interview zur Verfügung. Die Fachschaftenvollversammlung antwortete schriftlich auf unsere Fragen.
1. „Der StuRa verliert sich in Grabenkämpen.”
Wer von der Arbeit des StuRas vor allem während des Wahlkampfes etwas mitbekommt, der gewinnt schnell den Eindruck, dass sich dort zwei Seiten unversöhnlich gegenüberstehen. Auf der einen Seite steht eine Mehrheit aus linken Gruppierungen wie die Fachschaftenvollversammlung (FSVV), die Grüne Hochschulgruppe (GHG), die Linke Liste (auch Sozialistisch-demokratischer Studierendenverbund, kurz SDS) und der Studierendenverband der Jungsozialist*innen in der SPD (Jusos). Die andere Seite wird von einer Minderheit konservativerer Gruppierungen wie dem Ring christlich-demokratischer Studenten (RCDS), der Liberalen Hochschulgruppe (LHG) und der Freien Fachschaft Jura (ULF) gestellt.
In der Praxis sind sich die Gruppen im StuRa jedoch meist überraschend einig. Das gilt besonders bei Aufgaben, die unmissverständlich in den Zuständigkeitsbereich des StuRa fallen – also Kosten für studentische Projekte oder Veranstaltungen zu übernehmen, die zur kulturellen oder politischen Bildung an der Uni beitragen. Hier betont Melanie vom SDS:
„Die meisten förderbaren Anträge werden genehmigt – unabhängig davon, welcher politischen Richtung sie entstammen. Wir sind uns alle einig, dass wir den Studierenden freie Hand lassen möchten.“
An die Öffentlichkeit gerichtete, politische Stellungnahmen sorgen innerhalb des StuRa dagegen regelmäßig für Zündstoff. Hier geht es nicht zuletzt um die Frage, ob sich der StuRa überhaupt politisch äußern sollte – ein Konflikt, der schon in den 70er-Jahren zwischen der Tübinger Studierendenschaft und der Landesregierung ausgetragen wurde. „Der StuRa ist die falsche Institution um sich für klare politische Positionen einzusetzen“, findet Konstantin, Vertreter des RCDS im StuRa. Schon seit langem ist dem RCDS das vom StuRa mitorganisierte Ract! Festival ein Dorn im Auge. Neben Konzerten bietet das Festival auch Workshops und Podiumsdiskussionen zu Themen wie Rassismus, Klimawandel und Wohnpolitik an. Konstantin vom RCDS meint dazu: „Der StuRa ist hier über seinen Mandat unterwegs. Statt sich im Namen der gesamten Studierendenschaft einseitig in politische Randgebiete hineinzubegeben, sollte er lieber die Studierendenschaft als Ganzes vertreten.“
Lukas, ein ehemaliger Vertreter der GHG im Senat, hält die Vorwürfe gegen das Ract! für haltlos: „Das Ract ist eine größtenteils studentische Initiative, die aus Tübingen kaum mehr wegzudenken ist. Der StuRa muss gemäß dem Landeshochschulgesetz politische Bildung fördern und genau das tut er hier.“ Die FSVV schreibt dazu: „Das Problem, das der RCDS sieht, ist nicht, dass hier etwas politisch ist, sondern dass es nicht die Politik des RCDS ist.“ Das Fachschaftsgremium weist darauf hin, dass der RCDS bei den Uniwahlen 2019 selbst mit politischen Positionen antrat: Täglich Deutschland-Flaggen an Unigebäuden anbringen, Genderregelungen abschaffen und burschenschaftskritische Banner am Clubhaus verbieten.
Auch die Jusos und der SDS widersprechen der Darstellung des RCDS. „Der Stura muss einfach politisch sein. Man kann Hochschulpolitik und allgemeine Politik nicht trennen“, meint Bastian von den Jusos. Melanie vom SDS zieht Parallelen zu 68er-Bewegung: „Gerade die Studierendenschaften waren immer die treibende Kraft in der Gesellschaft. Wir Studierende sollten unsere Kräfte bündeln, damit wir gemeinsam etwas bewegen können.“
Ein weiterer Streitpunkt im StuRa ist das Abstimmungsverhalten von FSVV und GHG. Beide richten sich streng nach den Beschlüssen der FSVV. Das bedeutet: Die Fachschaften in der FSVV diskutieren über alle Anträge, die beim StuRa eingehen und stimmen dann darüber ab. Ihre Entscheidungen delegieren sie wiederum an die GHG und FSVV-Vertreterinnen und Vertreter im StuRa. Als imperatives Mandat bezeichnen FSVV und GHG das Modell. Im StuRa verfügen sie gemeinsam über eine absolute Mehrheit. Das heißt in der Praxis: Steht beispielsweise ein Förderantrag im StuRa zur Abstimmung, kann erst abgestimmt werden, sobald sich die FSVV intern auf eine Richtung geeinigt hat.
Immer wieder kommt es deshalb dazu, dass Abstimmungen vertagt werden müssen, wenn die FSVV den Antrag noch nicht diskutieren konnte oder im Vorfeld zu keiner Einigung gekommen ist.
Beim RCDS, den Jusos, der LHG und ULF sieht man das kritisch, weil es die Arbeit im StuRa zäher macht. „Man entwertet den StuRa durch das imperative Mandat“, meint Konstantin vom RCDS. „Die Fachschaften aus der FSVV könnten ja auch einfach in die StuRa-Sitzungen kommen und mitdiskutieren. Stattdessen müssen wir warten, bis sich die FSVV intern zu einer Entscheidung durchgerungen hat.“
Die GHG und die FSVV verteidigen das imperative Mandat. „Besser Entscheidungen treffen, bei der alle mitreden können, als Entscheidungen um der Entscheidungen Willen zu treffen“ argumentiert die FSVV. Zudem würden Entscheidungen nur dann verschoben, wenn sie nicht dringend seien und wenn die Antragssteller*innen damit kein Problem hätten.
2. „Der StuRa hat ein Legitimationsproblem.“
11,7 Prozent – das ist der Anteil jener Tübinger Studierenden, die 2019 ihre Stimmen bei den Uni-Wahlen abgaben. Eine erbärmliche Wahlbeteiligung, da ist man sich im StuRa einig. Von einem Zehntel der Studierendenschaft gewählt zu werden, das heißt auch, von fast 90 Prozent keine Stimme erhalten zu haben. In den Augen vieler Studierender ein beachtliches Legitimationsproblem. Seit Jahren gab es in diesem Bereich kaum Fortschritte. Erklärungen, woran die geringe Wahlbeteiligung liegen könnte, gibt es dafür umso mehr.
Lukas von der GHG sieht eine der Ursachen in der hohen Lernbelastung von Studierenden: „Wir haben die Tendenz, dass das Studium von Uni, Bafög-Amt und Politik intensiv durchgetaktet wird. Der Druck, innerhalb der Regelstudienzeit durchzukommen, ist so groß, dass viele Studis schlicht nicht die Nerven haben, sich noch über Hochschulpolitik zu informieren. Das Studium lässt ihnen gar keine andere Wahl.“
Melanie vom SDS spricht von einem Teufelskreis aus mangelndem Einfluss und geringer Wahlbeteiligung:
„Aufgrund seiner mangelnden Legitimation nimmt die Unileitung die Forderungen des StuRa wenig ernst. Gleichzeitig fragen sich viele Studis, warum sie überhaupt zur Wahl gehen sollen, wenn sich der StuRa auf universitärer Ebene nicht behaupten kann.“
Beim RCDS sieht man das Grundproblem im mangelnden Interesse der Studierenden. „Die meisten denken, dass es ihrer Beteiligung nicht bedarf und sie Hochschulpolitik nichts angeht. Deswegen wollen sie auch nicht verstehen, was da überhaupt vor sich geht.“, findet Konstantin vom RCDS.
Wie umgehen mit dieser Legitimationskrise? Der StuRa ist sich einig darüber, dass die Kommunikation gegenüber der Studierendenschaft besser werden muss. Aktuell liegt das im Aufgabenbereich des Arbeitskreis Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Seit letztem Jahr betreibt er zum Beispiel einen Instagram-Account mit rund 800 Followern. Das Problem: Interessierte können sich dort lediglich über Forderungen, jedoch kaum über Beschlüsse des StuRa informieren. „Der AK sollte die Arbeit des StuRa in den sozialen Medien häufiger und deutlicher präsentieren“, fordert Juso-Vertreter Bastian.
Konstantin vom RCDS und Melanie vom SDS befürworten ebenfalls eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit des StuRa. Letztere hält es dennoch für unwahrscheinlich, dass durch gute PR allein die Wahlbeteiligung auf mehr als 20% steigt. Daher formuliert sie einen weiteren Vorschlag: Das Wählen selbst zum Event machen. An der Universität Hohenheim gibt es so ein Format bereits. Dort werden die Studis beispielswiese mit Traktoren zu den Wahlurnen gefahren. Im Gegensatz zu Tübingen assoziiert man Uniwahlen in Hohenheim mit guter Laune und Partys.
Lukas von der GHG hält die Idee des SDS für interessant, bezweifelt aber, dass solche Maßnahmen dauerhaft Veränderungen bringen. Seine Gruppe plädiert für mehr Beteiligungsmöglichkeiten abseits der Wahl.
„Wir glauben, dass es sehr viel bringen kann, Studis mehr einzubeziehen, beispielsweise über die Fachschaften oder die Studentische Vollversammlung“, sagt Lukas.
Bei der letzten Studentischen Vollversammlung im November 2019 sei das Engagement der Studierenden überwältigend gewesen. In einem Beschlussantrag stellte die Versammlung unter anderem Klimaforderungen an die Universität und das Studierendenwerk. Der StuRa griff diesen Antrag auf und formulierte eine entsprechende Stellungnahme an die Universitätsleitung. Allerdings sei es dabei im StuRa zu Auseinandersetzungen gekommen. „Der RCDS und die LHG haben versucht, die Beschlüsse der Studentischen Vollversammlung zu übergehen und für ungültig zu erklären“, erklärt Lukas. „Das ist enorm gefährlich, weil die Vollversammlung der Ort ist, an dem alle Studis ein Stimmrecht haben und mitdiskutieren können. Eine solche Blockadehaltung kann eine Energie, die in langfristiges Engagement umgewandelt werden könnte, hemmen.“
3. „Der StuRa ist in der Hochschulpolitik ein zahnloser Tiger.“
Ein dritter Vorwurf betrifft die dürftigen Einflussmöglichkeiten des StuRa auf Entscheidungen der Universitätsleitung. Im StuRa sind dafür die beiden Vorsitzenden Mona und Jonathan zuständig. Sie stehen im Austausch mit den Prorektor*innen, die nicht nur die Stellvertreter*innen des Rektors Bernd Engler sind, sondern auch eigene Geschäftsbereiche wie Internationales, Forschung oder Lehre innehaben.
Regelmäßig findet zwar ein persönlicher Austausch statt, letztlich fühlt sich der StuRa aber oft übergangen, wenn das Rektorat Entscheidungen trifft, ohne den Standpunkt des StuRa einzubeziehen.
Kürzlich machte der StuRa diese Erfahrung, als der Senat ein neues Leitbild Lehre verabschiedete. Seither kritisieren die FSVV, die GHG und der SDS das Dokument. Auch die anderen Gruppen wünschen sich grundsätzlich einen zielführenderen Austausch mit der Universitätsleitung. „Wir fänden es schön wenn der Rektor auch mal in eine StuRa-Sitzung kommen und direkt mit uns in einen Dialog treten würde“, bemerkt Konstantin (RCDS).
Allerdings ist der StuRa nicht die einzige Instanz, die studentische Interessen gegenüber der Universitätsleitung vertritt. Auch im Senat, dem höchsten beschlussfassenden Gremium an der Uni, haben gewählte Vertreter*innen die Möglichkeit dazu. Dort kommen unter anderem die Dekan*innen der Fakultäten, diverse Professor*innen und das gesamte Rektorat zusammen. Von den insgesamt 47 Mitgliedern stellen die Studierenden in diesem Gremium jedoch lediglich vier Senator*innen. Die FSVV kritisiert das: „Die Senator*innen sind leider Einzelkämpfer*innen in einem Gremium, in dem die vorgeschriebene Mehrheit der Professor*innen die Anliegen von vier Student*innen einfach ignorieren kann.“ Bastian von den Jusos schließt sich der Meinung der FSVV an:
„Wir Studis bekommen viel zu wenig Gehör. Wie kann es sein, dass wir mit über 27.000 Studierenden die größte Gruppe an der Uni stellen, aber mit nur vier Senator*innen repräsentiert sind? Das passt doch nicht zusammen.“
Er hofft auf eine Änderung des Landeshochschulgesetzes durch die Politik. „Nächstes Jahr sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Die Landesregierung kann eine so große Wähler*innengruppe wie die Studierenden nicht einfach ignorieren“, meint Bastian. Er wünscht sich, dass politische Hochschulgruppen ihre Kontakte zu den Landtagsfraktionen nutzen, um sie für studentische Einflussmöglichkeiten an den Unis zu sensibilisieren. In weniger als einem Jahr wird sich zeigen, was daraus geworden ist.
Titelbild: Florian Sauer
Beitragsbilder: Marko Knab, Florian Sauer, Leo Schnirring