Motiviert sind Studierende oft für vieles, selten aber für Hochschulpolitik und Gremienarbeit. Umso interessanter ist es, herauszufinden, was diejenigen, die engagiert sind, denn antreibt.
Das Clubhaus ist kein schillernder Ort. Der Sitzungssaal im ersten Stock ist vollgestopft mit alten Plakaten, Glühwein-Tetrapacks und Kupferblau-Zeitschriften. In den Büros daneben stapeln sich Ordner, verstaubte Prospekte und Flyer von längst vergangenen Veranstaltungen. Wer hier Hochschulpolitik macht, der muss lange Montagabende im grellen Licht der Neonlampen auf sich nehmen; endlose Diskussionen um Formalitäten, Arbeitskreise, zu denen keiner kommt, weil irgendjemand zu spät gedoodelt hat. Die Mitarbeit in der eigenen Fachschaft, in Arbeitskreisen, ein Sitz im StuRa, vielleicht sogar im Senat, mag auf dem Lebenslauf später beeindruckend aussehen. Durch sie kann man all die Soft Skills begründen, die Personaler*innen heute suchen: Teamfähigkeit, Organisationsgeschick, Auseinandersetzung mit Argumenten, Selbstsicherheit.
Aber im Hier und Jetzt bleibt das Clubhaus eben das Clubhaus, die Wahlbeteiligung bleibt bei unter 12% und viele Arbeitskreise befinden sich im Winterschlaf.
„Vermutlich fehlt dem StuRa etwas die Aufmerksamkeit“, drückt es Antonia, Mitglied der Liberalen Hochschulgruppe, vorsichtig aus. Was also bewegt diejenigen, die Hochschulpolitik betreiben, die jeden Montag (Fachschaftenvollversammlung) oder jeden zweiten Montag (Studierendenratssitzung) aufs Neue zu einem Abend vieler Worte aber weniger Entscheidungen zusammenkommen?
Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass Studierende insgesamt ein durchaus stark ausgeprägtes Interesse an allgemeinpolitischen Geschehnissen haben. Zu diesem Schluss kam Sebastian Dippelhofer von der Universität Konstanz in einer empirischen Studie aus dem Jahre 2004. Deutlich weniger stark ist jedoch das Interesse an Hochschulpolitik und noch einmal geringer an studentischer Hochschulpolitik. Im Kontrast dazu stehen die Erfahrungen von Welf Schröter, ehemaliger Tübinger Student und Mitbegründer der Fachschaftenrätevollversammlung, früher „Räte VV“ abgekürzt, heute FSVV. 1974 begann er sein Studium der Germanistik und der Geschichte, später folgte Empirische Kulturwissenschaft. Er berichtet von studentischen Vollversammlungen mit bis zu 1000 oder sogar 2000 Anwesenden, die manchmal im Festsaal der Neuen Aula abgehalten wurden. „Es war eine sehr lebendige politische Kultur, man musste für seine Überzeugungen einstehen, dafür ringen und sich um Mehrheiten bemühen. Es war ein Lernprozess, den man da durchgemacht hat. Man musste die Stärke haben sich hinzustellen und zu sagen: Ich sehe das so, ich argumentiere so und ich widerspreche dir.“
Genauso wie Welf Schröter damals seine aktive Teilnahme an der Unipolitik als Teil eines demokratischen Selbstverständnisses beschreibt, führen auch heutige FSVV-Mitglieder die Lust auf Mitbestimmung und Basisdemokratie als Gründe für ihr Engagement an. Eine „hippe Fachschaft“ helfe allerdings auch. Ein Mitglied begründet seine Motivation historisch: Motivierend sei „die Verantwortung, dass vor mir Leute HoPo [Hochschulpolitik] gemacht haben und ich davon profitieren konnte und nach mir auch Leute davon profitieren können.“
Dass Engagement an der Hochschule meist mit einem allgemeinen politischen Interesse einhergeht, zeigt sich auch an den Erzählungen des Oberbürgermeisters Boris Palmer. Palmer war in den 90er-Jahren Referent für Umwelt und Verkehr im Tübinger AStA. „Ich war geprägt von Waldsterben, Tschernobyl und Club of Rome“, berichtet er, deswegen wollte er auch an der Uni etwas für die Umwelt tun und zwar „ganz praktisch“. Der Erfolg, den er mit der Umsetzung von Nachtbussen oder mit dem Angebot von vegetarischem Essen in der Mensa hatte, motivierte ihn zum Weitermachen.
Oft entsteht studentisches Engagement aber auch in Opposition zur aktuellen (Landes-)Politik. Genauso wie Welf Schröter in den 70er-Jahren gegen Studiengebühren kämpfte, wurde auch die heutige Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger (Bündnis 90/Die Grünen) durch deren Einführung 2005 mobilisiert. Die Arbeit im StuRa oder auch die Erfahrung im Senat „als junge Frau inmitten einer ganzen Reihe von altehrwürdigen männlichen Professoren zu sitzen und sich behaupten zu müssen“ half ihr, sich argumentativ als junges Mitglied im Bundestag zu behaupten. Nicht nur Grüne finden ihren Weg in die Politik, auch Ronja Kemmer, die 2010 für den Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) in den AStA gewählt wurde. Dieser eine Sitz war für den RCDS damals schon ein voller Erfolg. Kemmer erinnert sich daran, dass ständig ihre Plakate zerstört wurden. Dennoch schlussfolgert sie, dass „sich an Universität wirklich unglaublich viel mit pragmatischem und konstruktivem Engagement erreichen [lässt]“. Viel „Potenzial“ habe dieses Gremium, so auch Antonia (LHG) und Konstantin (RCDS) aus dem aktuellen StuRa.
Jedoch stellt sich angesichts der vielen Gesichter, die es vom Tübinger AStA/StuRa in leitende Gremien oder in die Landes- und Bundespolitik geschafft haben, die Frage, ob in manchen Fällen hochschulpolitisches Engagement nicht eher nur Mittel zum Zweck ist. Geht es doch nur um den Absatz im Lebenslauf? Ist der StuRa nur die Treppenstufe, die einen weiter nach oben auf der Karriereleiter bringt? Und wenn ja, was wäre eigentlich so schlimm daran? Schlimm wäre es vor allem, wenn Leute in die Hochschulpolitik gewählt werden, die sich eigentlich gar nicht engagieren. Die Verantwortung tragen, aber diese nicht übernehmen. Die weder nächtelang Flugblätter drucken oder Reden schwingen bei studentischen Vollversammlungen, noch Anträge stellen oder Projekte in Arbeitskreisen umsetzen. Selten sieht man zum Beispiel Mitglieder der Unabhängigen Liste Fachschaft Jura (ULF) irgendwo auftreten.
Gegen das Bild des Karriere-Juristen im StuRa spricht indes die Forschung: Die meisten engagierten Studierenden seien gesellschaftlich-altruistisch motiviert, nicht instrumentell-materialistisch, schlussfolgert der Politologe Dippelhofer in seiner Studie.
Vor allem Studierende, die die Gesellschaft verbessern oder sich in alternativen Lebensformen erproben möchten, weisen ein höheres Interesse und mehr Partizipation im Bereich Hochschulpolitik auf. Außerdem schreiben sie dieser mehr Aufgabenbereiche zu und befürworten mehr Kritikformen, wie zum Beispiel Schriften, Demos oder Besetzungen. Diejenigen dagegen, die an einer hohen sozialen Position oder einem guten Einkommen interessiert sind, zeigen weniger Engagement. Zudem zeigte sich auch, dass Erwerbsstätige häufiger engagiert sind – das Argument, keine Zeit zu haben, zieht also nur bedingt.
Der idealtypische Habermas‘sche Diskurs, in dem nur das bessere Argument gewinnt – lebt er also doch noch weiter, auch in der Tübinger Hochschulpolitik? Als utopisches Ziel anscheinend schon. Im StuRa höre sie Meinungen, die im eigenen Freundeskreis so nicht vorhanden sind, meint Medizinstudentin Antonia (LHG).
„Für mich war das Studium nicht nur die Aufnahme von Fachinhalten, sondern ein Ort, an dem ich Demokratie gelernt habe“, sagt Schröter im Telefongespräch.
Zwar gab es in den 70er und 80er Jahren keine Regelstudienzeit, was einen deutlich selbstbestimmteren Umgang mit dem Studium ermöglichte und politisches Engagement erleichterte. Dennoch gäbe es immer wieder stärkere und weniger starke politische Phasen. „Ich bin eine Art struktureller Optimist“, erklärt Schröter. Und natürlich gibt es sie auch heute noch genau so wie früher, die politische Hochschule. Oft spielt sie sich jedoch außerhalb von offiziellen Gremien ab, wie zum Beispiel bei den zahlreichen Fridays for Future Protesten 2019.
Und der StuRa und seine Hochschulgruppen müssen innerhalb einer Dialektik leben: Für die einen lassen sich Sachfragen und administrative Entscheidungen scheinbar klar von politischen Haltungen und Ideologien trennen. Für andere sind es genau diese Haltungen, die ihre hochschulpolitischen Ziele beeinflussen. Die einen wünschen sich einen „ideologiefreien“ StuRa, die anderen werden erst durch ihre basisdemokratischen Ideale und gesellschaftlichen Ziele überhaupt motiviert, sich zu beteiligen. Was nun entscheidender ist, bestimmen im Endeffekt die Studierenden. Nicht nur auf Wahlzetteln, sondern auch durch Engagement in Arbeitskreisen, Fachschaften und Hochschulgruppen, die mit dem StuRa zusammenarbeiten. Das Clubhaus war noch nie ein schillernder Ort und wird es auch nie sein. Aber nicht alles, was Gold ist, glänzt.
Titelbild: Daniel Böckle
Beitragsbilder: Isabell Int-Veen