Politik

Sigmar Gabriel in Tübingen: „Müssen an Gewicht zulegen“

„Europa und China auf der Suche nach einer neuen Weltordnung“ – so lautete der Titel des Studium-Generale-Vortrags, dem am Abend des 27. April 2023 im Kupferbau gelauscht werden konnte. Gehalten wurde er von keinem anderen als Sigmar Gabriel, dem ehemaligen Bundesaußenminister und Vizekanzler. Er zeichnete ein bisweilen erschreckendes Bild des globalen Machtgefüges und formulierte einen klaren Appell an Europa.

Lange nach dem Veranstaltungsort suchen muss an diesem Abend niemand, auch niemand derjenigen, die heute zum ersten Mal in ihrem Leben den Kupferbau betreten. Es genügt, dem kaum zu übersehenden Menschenstrom zu folgen, der nur ein Ziel zu kennen scheint: Hörsaal 25. Hier soll in wenigen Minuten, pünktlich um 18 Uhr c.t., ein Publizist und Berater sprechen, der deutlich besser bekannt ist als ehemaliger Bundesaußenminister und Vizekanzler.

Die Geräuschkulisse im gut gefüllten Saal, der fast 600 Menschen Platz bietet, ist schon vor Sigmar Gabriels Erscheinen beträchtlich. Doch lange lässt der 63-Jährige die gespannte Menge nicht warten; früher als gedacht betritt er den Hörsaal durch die Tür mit der Aufschrift „NUR FÜR DOZENTEN“. Die verbleibende Zeit bis zum Beginn des Vortrags wird vonseiten der Universität und einiger kühner Zuhörer ausgiebig für Fotos von und mit Gabriel genutzt. Danach plaudert der ehemalige SPD-Vorsitzende, der einen gut gelaunten und entspannten Eindruck macht, eine Weile mit Helwig Schmidt-Glintzer, dem Direktor des CCT (China Centrum Tübingen), und mit den Organisatoren der Ringvorlesung „China: Kooperation und Distanznahme“. Diese ist eine von insgesamt sieben öffentlichen Vorlesungsreihen, die das Studium Generale an der Uni Tübingen im Sommersemester 2023 zu bieten hat. Am heutigen zweiten Termin der Veranstaltungsreihe wird Gabriel, so die Ankündigung, zum Thema „Europa und China auf der Suche nach einer neuen Weltordnung“ sprechen.

Der gut gefüllte Hörsaal 25 im Kupferbau
Die Besucher*innen warten gespannt auf den Vortrag von Gabriel
Von Heinrich dem Seefahrer zu Wladimir Putin

Nach der Begrüßung und einer kurzen Einführung durch Schmidt-Glintzer, der die von Gabriel übernommenen Ämter aufzählt, ergreift dieser selbst das Wort. Seine wichtigste und anspruchsvollste Rolle, so der Bundesminister a. D., sei in der Aufzählung vergessen worden: Er sei auch Vater von drei Töchtern. Nachdem er mit dieser Bemerkung gleich zu Beginn die ersten Lacher geerntet hat, beginnt Gabriel seinen Vortrag, der das Publikum mitnimmt auf eine gedankliche Reise von Heinrich dem Seefahrer über Woodrow Wilson, Gustav Stresemann, Robert Schuman und Willy Brandt bis zu Trump, Biden, Macron, Scholz, Xi und Putin. Die Liste der Namen, die an diesem Abend Thema sind, zeigt bereits, dass es Gabriel nicht allein um China, sondern mindestens genauso sehr um zwei weitere Player im Weltgeschehen geht: Europa und die USA.

Das Ende der Weltordnung

Am Anfang der Überlegungen des ehemaligen Politikers steht eine folgenschwere Feststellung: „Wir sind Zeitzeugen einer tektonischen Verschiebung der Machtachsen der Welt.“ 600 Jahre relativer europäischer Dominanz auf der Erde seien zu Ende; diese schlössen die ‚Entdeckung‘ Amerikas, Kolonialismus und Sklavenhandel, zwei Weltkriege und den Holocaust ein. Nun, so Gabriel, habe sich das Gravitationszentrum vom Atlantik zum Indopazifik verschoben, wo mehr als 60 % der Weltbevölkerung lebten. Mit Blick auf die Weltordnung konstatiert er noch Erschütternderes: Während es nach dem Zweiten Weltkrieg eine bipolare, also von der Konfrontation der USA und der Sowjetunion geprägte, und nach dem Ende des Eisernen Vorhangs eine unipolare Welt gegeben habe, stehe die Weltordnung seitdem nun zum ersten Mal infrage – „oder eigentlich ist sie schon weg“, wie Gabriel etwas salopp hinzufügt.

„Europa existiert nur deshalb, weil der Kleine keine Angst vor dem Großen haben muss.“

Sigmar Gabriel
Von der Geoökonomie zur Geopolitik

Putins Angriffskrieg habe man es zu verdanken, dass Amerika nun nach Europa zurückgekehrt sei. Der ehemalige Außenminister betrachtet die USA als unseren wichtigsten Verbündeten, nicht zuletzt deshalb, weil die Ukraine ohne deren Hilfe „von der Landkarte radiert“ würde. In den letzten Jahren sei Russland immer stärker zu einer revisionistischen Macht geworden und wolle nun unter Putin als Großmacht zurückkehren. Diese Entwicklung sei von uns, die wir möglichst ungebremst Handel betreiben wollten und überzeugt waren, dass, wer wirtschaftlich verbunden ist, weniger Kriege führt, falsch eingeschätzt worden. Auch er selbst sei „mitverantwortlich für die Fehlbeurteilung Russlands“, wie Gabriel halb beiläufig anmerkt. Lange Zeit sei die Welt durch Geoökonomie getrieben gewesen, doch nun kehre die Geopolitik zurück. In diesem Zusammenhang hebt der Ex-Minister hervor, dass Deutschland zwar wirtschaftlich bedeutend sei, aber nicht in geopolitischer oder militärischer Hinsicht. Zudem existiere Europa allein aus dem Grund, dass „der Kleine keine Angst vor dem Großen haben muss“.

Sigmar Gabriel am Rednerpult im Hörsaal 25
Der diktatorische „Frenemy“

China, so Gabriel, bewerte die Rückkehr der Amerikaner nach Europa als positiv, da sich diese so weniger stark der Eindämmung des chinesischen Einflusses widmen können. Für die Europäer sei die chinesische Diktatur ein „Frenemy“ (Freundfeind). Da es „keine Bilderbuchlösung“ geben werde, müsse sich Europa darauf konzentrieren, die drei großen „C“ in Balance zu halten: Confrontation mit Blick etwa auf Chinas Umgang mit Taiwan und den Uiguren, Competition und Cooperation. Denn ohne Zusammenarbeit mit China könne Klimaschutz und Pandemiebekämpfung in der Zukunft nicht gelingen.

„Ich glaube nicht, dass die Welt sehenden Auges in den Untergang gehen wird.“

Sigmar Gabriel
Gabriel und die Zeitenwende

Am Ende seiner gut einstündigen Rede richtet Gabriel den Blick in genau diese ungewisse Zukunft. Er prognostiziert für die nächsten zehn Jahre eine Phase der Unsicherheit und der Instabilität und fordert daher, dass Deutschland seinen Blick auf die Welt ändert: „Zeitenwende heißt, sich anders zur Welt zu stellen“. Europa brauche Partner in der Welt; „am bedeutsamsten für unsere Zukunft“, ist der Ex-Politiker überzeugt, „wird unser Verhältnis zu Afrika sein“. Für Europa gebe es nur eine Möglichkeit: „Schwierig, wenn ich das sage: An Gewicht zulegen.“ Der Applaus ist laut und lang anhaltend; es scheint den Leuten gefallen zu haben. Nun ist Raum für Fragen; das Publikum erkundigt sich unter anderem nach dem Grund für Gabriels Optimismus („Ich glaube nicht, dass die Welt sehenden Auges in den Untergang gehen wird.“) und nach seiner Haltung zu Macrons Äußerung zum Taiwan-Konflikt („Das Richtige zum falschen Zeitpunkt ist in der Politik auch falsch.“).

Gabriel nimmt sich viel Zeit, muss schließlich aber weiter zum nächsten Termin. Um kurz nach 20 Uhr verlässt er den Hörsaal durch die Tür, durch die er ihn gut zwei Stunden zuvor betreten hat: „NUR FÜR DOZENTEN“. Und manchmal auch für Ex-Minister, möchte man hinzufügen.

Fotos: Maximilian Schmelzer

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