Wer die Grenzen einer Gesellschaft überschreitet, kann im schlimmsten Fall im Gefängnis landen. Abgeschieden von der Außenwelt lebt man fortan ein Leben in strengen Strukturen. Sobald die Strafe abgesessen ist, muss man sich irgendwie wieder ins „normale“ Leben integrieren. Doch wie kann das am besten ablaufen?
Wenn es um Gefängnisse geht und das Leben darin, finden wir unzählige Filme, Serien und Bücher darüber. Prison Break, Orange is the New Black oder Escape Plan verdeutlichen nicht nur, wie hart der Alltag in einem Gefängnis sein kann. Sie zeigen uns auch eine große Faszination gegenüber des Konzepts von Gefängnissen und Strafgefangenen. Gefängnisse erzeugen Spannung, Furcht und vor allem Vorurteile. Wir alle kennen die Stereotype von muskelbepackten, volltätowierten und toughen Insassen, vor denen man die Kernseife in der Dusche lieber nicht fallen lassen möchte. Wie sieht aber unser Bild einer typischen weiblichen Insassin aus? Kurze Haare? Burschikose Figur? Fakt ist, dass es keine typischen Strafgefangenen gibt, sondern vielmehr typische Stereotype. Das zeigt auch, wie wenig man sich mit dem Thema „Gefängnis“ eigentlich auseinandersetzt.
Unsichtbare Übergänge
„Sobald man sich von diesen Sensationen und Vorurteilen löst, fängt das richtige Interesse an und dann muss man sich erst einmal auf diese Zielgruppe einlassen“, sagt Victoria Heuschele. Sie befindet sich gerade am Anfang ihrer Promotion innerhalb des Graduiertenkollegs „Doing Transitions“ des Instituts für Erziehungswissenschaft Tübingen. Sie erforscht Übergänge von Frauen aus Haft. Forschungspraktisch kein einfaches Thema, denn Frauen im Gefängnis bilden eine sehr kleine Gruppe. 2018 saßen in Deutschland laut des Statistischen Bundesamts 50957 Menschen im Gefängnis. Nur 2931 davon Frauen. Das sind gerade einmal 5,7% der Gefängnisbevölkerung. Da sie offenbar nur eine „Randgruppe“ der Strafgefangenen darstellen, gibt es zu ihnen weitaus weniger Forschung als zu Männern.
Das möchte Victoria ändern. Sie erforscht die Übergänge, die Frauen aus Haft in das gesellschaftliche Leben vollziehen. „Unsichtbare Übergänge“ heißt ihr vorläufiger Arbeitstitel. Unsichtbar deshalb, weil wir eben relativ wenig über deren Situation wissen und nicht selten diese Übergänge möglichst diskret und reibungslos ablaufen.
Wir sprechen hier von einem Übergang aus einer streng strukturierten, hierarchischen Institution in eine hochkomplexe Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben – so fordert es zumindest § 2 StVollzG (im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der oder die Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Strafen). Durchaus kein einfach zu bestreitender Weg. Das findet auch Victoria. Sie startete mit der Idee, wie man den Übergang zwischen Haft und dem „realen“ Leben gut begleiten kann. Da gibt es jedoch noch viel zu tun, da sich die Gesellschaft nicht gern um Ex-Sträflinge kümmert. Etwas, das sie persönlich aufwühlt:
„Jeder Mensch ist es doch wert, dass man sich um einen kümmert. Die Gesellschaft sollte doch so sein, dass es für jeden einen Platz gibt oder ein Streben, dass man ihn oder sie unterstützt.“
Natürlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass ehemalige Insass*innen eine Straftat begangen haben. Aus diesem Grund waren sie schließlich im Gefängnis. Aber unsichtbare Übergänge bedeuten auch einen Neuanfang, eine Chance, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Fakt ist ja: Sie haben ihre Strafe abgesessen. Der Teil ist beendet. Darum müssen wir uns eigentlich nicht mehr kümmern. Aber das ist super leicht zu sagen“, meint Victoria.
Vorurteile erschweren den Weg
Die gerichtliche Verurteilung für Sträflinge ist beendet, nachdem die Strafe abgesessen wurde. Das größere Problem stellt aber die Verurteilung der Gesellschaft selbst dar. Schließlich wird versucht, deren Akzeptanz innerhalb dieses Übergangs wiederherzustellen. Victoria sieht dabei nicht nur Verbesserungsbedarf im Übergang an sich, sondern auch in der Gesellschaft selbst:
„Die Schere der Gesellschaft wird offensichtlich und wie wir selbst sie betreiben, indem wir uns über Menschen stellen, weil wir mehr wert sind und die sind weniger wert. Und das ist bei Randgruppen so.“
Wir, die Gesellschaft selbst, spricht eben nicht gern über Ex-Sträflinge. Wenn wir es tun, dann oft wie zu Beginn gezeigt in Klischees und Vorurteilen. Dabei ist gerade „weibliche“ Straffälligkeit ein sehr irritierendes Phänomen, findet Victoria. Frauen werden bei diesem Thema immer noch sehr stereotypisiert gesehen. Oft werden sie nach wie vor als die Schönen, die Lieben, die Zarten betrachtet, die nicht böse sein können und auch nicht böse zu sein haben. Und wenn sie dann doch etwas Schlimmes tun, wird es von der Gesellschaft viel stärker verurteilt.
Wie der Übergang in die Gesellschaft am besten ablaufen kann, das versucht Victoria zu erforschen. Dabei interessiert sie sich weniger für Statistiken, sondern vielmehr um das Individuum selbst. Neben Gesprächen mit Expert*innen wie Sozialarbeiter*innen führt sie auch narrative Interviews mit ehemaligen straffälligen Frauen, die ihre Lebensgeschichte erzählen. Dabei weiß sie im Vorfeld wenig über ihre Interviewpartnerinnen und noch weniger über ihre Straftat. Durch die Erzählungen ihres Gegenübers wird sie schließlich selbst in deren Leben mit hineingenommen.
Das Graduiertenkolleg animiert die Promovierenden unter anderem dazu, feste Vorstellungen zu hinterfragen und alle Perspektiven in Betracht zu ziehen. Gerade Frauen im Übergang bewegen sich laut Victoria zwischen sehr starren Polen: Gesellschaft und Haft. „Aber dazwischen passiert so viel“, räumt sie ein.
„Und das ist das Interessante. Aber man sieht immer die Straffälligen. Fertig, aus.“
Den Stempel des Straffälligen loswerden, das ist die Herausforderung, die nicht jede*r Strafgefangene nach der Entlassung schafft. Für die Gesellschaft bleiben sie oft nicht mehr als ehemalige Häftlinge. Jede*r Straffällige geht innerhalb seines*ihres Übergangs von Haft in die Gesellschaft anders um. Manche sind dabei sehr offen, machen Präventionsarbeit und sprechen an Schulen und anderen Institutionen über ihre Erfahrungen. Doch abgesehen davon sorgt ein offener Umgang mit der Vergangenheit für größere Hürden im Arbeitsleben. „Man kann es offenlegen und sagen: ‘Hey ich habe Dreck am Stecken, aber ich will jetzt ordentliche Arbeit.’ Aber das ist kaum möglich“, meint Victoria. Aus diesem Grund versuchen viele ihr altes Ich völlig hinter sich zu lassen. Somit erhöht eine Tabuisierung der eigenen kriminellen Vergangenheit ihre Chancen, einen Job zu bekommen.
Das muss sich ändern, findet Victoria. Jede*r solle die gleichen Chancen auf Normalität haben. „Natürlich könnte man an dieser Stelle behaupten, dass sie ihre Chance bereits hatten. Aber das lässt sich leicht sagen, wenn man auf der Sonnenseite steht.“ Wie es auf der anderen Seite aussieht, das ist es, worauf sie aufmerksam machen möchte. Wegzukommen von einer stigmatisierten und stereotypen Faszination und stattdessen gefangenengesellschaftliche Strukturen zu betrachten, um festzustellen, wie es zu solchen sozialen Problemen überhaupt kommt.
Titelfoto: Sina Gramlich
Artikelfoto: Natalia Zumaran