Kultur Musik

Ein musikalisches Triptychon der Nostalgie

Warum war das Konzert der Tübinger Band Gast gleich ein doppeltes Heimspiel und was hat es mit dem mysteriösen Secret Act auf dem Line-Up auf sich? Ein Konzertreview.

„Tübingen im Regen ist kalt“, singt die Tübinger Band Temmis in dem Lied Andere Stadt. Als sich die Gast-Fans in einer solchen regnerischen Novemberkälte zum Club Voltaire aufmachen, wissen viele noch gar nicht, dass sie diese Lyrics gleich mitgrölen werden. Denn auf dem Line-Up für den Abend stehen neben der Band Gast noch die Wiener Panik Deluxe und ein mysteriöser Secret Act. 

Das Publikum weiß nicht, dass sie heute Abend eine Zeitreise erwartet. Bild: Hanna Neumann

Es werden zwar Vorahnungen durch das kleine Kulturzentrum gemunkelt, um wen es sich dabei handeln könnte, aber selbst auf dem handgeschriebenen Plakat am Einlass hüllt sich der zweite Support noch in Geheimnistuerei. Als er sich dann auf der Bühne offenbart, sieht das Publikum zwar bekannte Gesichter, aber mit einem überraschenden Plottwist.

Die Kühle aus den Knochen tanzen

Der Club Voltaire in der Haaggasse zeigt sich an diesem Abend in klassischer Manier: Junge Menschen stehen vor der Tür des alteingesessenen Kulturortes, rauchend, redend, leicht fröstelnd. Langsam bewegt sich die Menge in das Haus hinein, unter die Discokugel, die ihre Reflexionen in den Raum wirft. 

Panik Deluxe wärmt mit dunklem Sound das Publikum auf. Bild: Hanna Neumann

Als erster Act des Abends betritt Panik Deluxe die Bühne. Das Duo, bestehend aus Sängerin und Bassist, schafft es langsam, Bewegung in die Besucher*innen zu bringen. Mit ihren ersten Songs treiben sie dem Publikum die Kühle des Abends aus den Knochen, sodass zum Schluss nur noch wenige Füße stillstehen. Die sphärische Musik von Panik Deluxe stimmt gut auf die kommende Performance von Gast ein – wobei zuerst der angekündigte Secret Act die Show an sich reißt.

Ist das Temmis ? Nein, das ist The Miss.

Die in Tübingen gegründete Band Temmis ergänzt das Line-Up des Abends auf unerwartete Weise. Für den Abend bezeichnen sie sich selbst als The Miss eine alte, irgendwie satirische Version ihrer selbst. Auf der Set-List stehen Lieder aus den Anfängen der Band. Mit DJ, Steve’s Auto und Planet bringen sie lockeren Schoolboy-Rock in den Club. 

Für das was ihr sein wollt, seht ihr nicht gut genug aus.

Steve’s Auto – The Miss
Die Band The Miss sieht Temmis erstaunlich ähnlich. Und sie kommen beide aus Tübingen. Komisch… Bild: Hanna Neumann

Passend zu ihrem Heimspiel in Tübingen, welches gleichzeitig auch das letzte Konzert der Band im Jahr 2025 war, teilt ihr Sänger Anekdoten aus früheren Zeiten: „Wusstet ihr, dass, wenn man den Hausmeister im WHO besticht, man die Schlüssel zum Proberaum bekommt?“ In Kombination mit Songs von früher beschleicht die Band ein Gefühl von Nostalgie – aus alten Studienzeiten, gepaart mit einem regnerischen Tübinger Abend. 

Den Beat anbetend

Trotz dieser einzigartigen Zeitreise von The Miss spielte sich schlussendlich trotzdem Gast zum Höhepunkt des Abends. Und das lag vor allem an der Choreografie ihrer Bühnenperformance. Da standen kaum noch die ehemaligen Tübinger Studis Linus und Tim vor dem Publikum, sondern vielmehr zwei Kunstfiguren. Der eine mit tiefgezogener Kapuze, der andere mit Haarvorhang vor dem Gesicht, schwanken die beiden von einem Song in den nächsten, mal mit leeren Blicken in die Menge starrend, sich mal ekstatisch in ihren eigenen Rhythmen verlierend. 

Der Auftritt von Gast ist perfektioniert wie ein Stück Performancekunst. Bild: Hanna Neumann

Die Dramaturgie führt durch herzzerreißenden Liebeskummer, Selbstzerstörungsdrang und vor allem durch Weltschmerz. Letzterer ist in den Anspielungen ihrer frischsten EP Americanism zu hören. „God Bless America“-Botschaften erklingen in den Zwischenspielern ihres Konzerts; Synthesizer wie Orgelmusik, Tim sinkt dabei anbetend auf die Knie. „Und sie sagt, seitdem Amerika in Flammen steht, sei unsere Jugend tot.“ Der Schmerz, eine Welt loslassen zu müssen, an die man früher so naiv glauben konnte. Tims Hände klammern sich an den Mikrofonständer, als würden sie nach Halt greifen. Das Publikum ist ebenso haltlos, getrieben vom stets weiterfließenden Beat, und durchtanzt all diese Emotionen bis zur Zugabe. 

Ein Trip durch musikalische Sphären

Dieses musikalische Triptychon verschaffte dem Club Voltaire an diesem Abend einen Trip in diverse Sphären. So spielen Panik Deluxe mit ihrer dunklen Aura, The Miss mit punkigen  Songs und Gast mit ganzheitlicher Performancekunst das Publikum durch Höhen und Tiefen. Alle Bands lassen mit ihrer Musik verschiedenste Gefühle hochkochen – zuletzt tanzt und schwankt das Publikum gemeinsam. Nach Ende der Zugabe von Gast wird jedoch alles Dunkle abgeschüttelt: Der Rausschmeißer I Love It von Ikona Pop feat. Charlie XCX schallt durch die Boxen und spült Menschen nacheinander in den späten Abend hinaus. 

Beitragsbild: Hanna Neumann

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