Wie erinnert sich Tübingen an das Jahr 1848? Eine Lesung der Stadtgespräche-Reihe im Stadtmuseum beleuchtete die lokale Revolutionsgeschichte. Mit einem einzigartigen Fund, überraschenden Einblicken in die Bürgerwehr und einem Aufruf an alle, selbst zur Geschichtsschreibung beizutragen.
Letzte Woche Donnerstag versammelten sich Tübinger Geschichtsinteressierte im Stadtmuseum, um einer besonderen Veranstaltung beizuwohnen. Unter dem Titel Bürgerwehr und Heckerkult lud der Freundeskreis des Stadtmuseums zu einer szenischen Lesung mit anschließender Diskussion ein, die sich mit der lokalen Erinnerungskultur an die Revolution von 1848 beschäftigte.
Im Mittelpunkt des Abends stand die lokalhistorische Revue Das tolle Tübingen von Kulturwissenschaftler Bernd Jürgen Warneken, aus der vorgelesen wurde. Mit scharfem Witz bringt Warneken darin das politische und gesellschaftliche Klima der Revolutionsjahre auf die Bühne: Ein Tübingen, das zwischen revolutionärem Aufbruch, Repression und Verunsicherung schwankte.
So beleuchtet das Werk unter anderem die Rolle von Studentenverbindungen, die als Keimzellen demokratischer Ideale galten, zugleich aber auch Ziel staatsschützender Überwachung waren. Ebenso zeigt es den Alltag einfacher Bürger*innen in der Stadt, die unter steigenden Preisen, Missernten und wachsender sozialer Not litten.
Ein Rückblick auf das „tolle Tübingen“
Ein zentraler Bestandteil der Lesung war die szenische Darstellung der Tübinger Bürgerwehr, die 1848 als Teil einer größeren Welle von Volkswehren in Südwestdeutschland entstand. Warneken schilderte eindrücklich, wie aus der revolutionären Forderung nach Selbstschutz und Mitbestimmung ein bürgerschaftliches Verteidigungskonzept mit klarer Symbolwirkung entstand. Mit improvisierten Uniformen, eigenen Waffen, darunter zu Speeren umgeschmiedete Sicheln, und musikalischer Begleitung durch den akademischen Musikdirektor Friedrich Silcher inszenierten sich die Tübinger Bürger als Teil eines neuen politischen Selbstbewusstseins.

Doch die Bürgerwehr war nicht nur Ausdruck republikanischer Hoffnung, sondern wurde gesellschaftlich verschieden verortet. Während Demokraten wie Friedrich Hecker in ihr ein Instrument gegen staatliche Willkür sahen, betrachtete die konservative Stadtverwaltung sie als notgedrungene Ordnungskraft. Die Lesung machte deutlich, wie brüchig die Grenze zwischen Revolution und Restauration selbst im lokalen Rahmen verlief.
Ein historischer Fund für die Gegenwart
Ein besonderer Höhepunkt des Abends war die Übergabe zweier historischer Objekte aus dem Privatbesitz Warnekens an das Stadtmuseum Tübingen: Ein Originalexemplar der Tübinger Chronik von 1848, vermutlich das letzte erhaltene, sowie eine edel verzierte Holzschatulle aus derselben Zeit. Die Tübinger Chronik, so Warneken, sei eine einzigartige Quelle zur damaligen Zeit, auch wenn sie keineswegs neutral berichte. In seinem Alter müsse man sich Gedanken darüber machen, wo das eigene Hab und Gut verbleibe, begründete er die Schenkung.
Eben jene Schenkung nahm der Freundeskreis des Stadtmuseums zum Anlass, einen öffentlichen Aufruf zu starten: Bürger*innen, die historische Objekte, Dokumente oder Erinnerungsstücke ihr Eigen nennen, seien herzlich dazu eingeladen, diese dem Stadtmuseum zur Verfügung zu stellen. Das solle das kulturelle Andenken an die Geschichte Tübingens erhalten und neue Blickwinkel auf diese ermöglichen. Vielleicht besitzt jemand noch geschichtswissenschaftliche Schätze, die die verborgenen Lücken der Tübinger Geschichtsschreibung füllen können? Wir bleiben gespannt!
Mehr als ein Geschichtsabend
Am Ende bleibt mehr als nur eine unterhaltende Lesung. Die Veranstaltung verdeutlicht, wie allgegenwärtig die revolutionären Umwälzungen der Deutschen Revolution von 1848 waren, selbst im beschaulichen Tübingen. Außerdem machte Warneken klar, wie viel „Geschichte“ sich aus einem einzigen Archivgut ableiten lässt.
Nicht zuletzt zeigte der Abend auch, dass Erinnerung keine bloße Rückschau ist, sondern ein lebendiger Prozess, der unser Heute prägen kann. Wer die Vergangenheit verstehen will, muss ihr zuhören. Auch wenn sie in einem alten Holzdöschen oder vergilbten Seiten steckt.
Beitragsbild: Paul J. Greiner