Das „binäre Patriarchat“, davon hört man besonders in feministischen Kreisen immer wieder. Wie sich ein zweigeteiltes Geschlechtersystem für Menschen anfühlen kann, die sich weder strikt als Mann noch als Frau verstehen, ist dabei für Viele noch schwierig zu begreifen. Der genderqueere Person Pi erzählt auf authentische Weise von eigenen Erfahrungen mit dem Gefangen-sein in einer Welt, die keine geschlechtlichen Grauzonen zulassen möchte.
Als mich der Kinderarzt mit drei Jahren fragte, was ich später einmal werden möchte, war meine Antwort ganz selbstbewusst: „Prinzessin oder Mutter.“ Vielleicht erstaunt es, dass genau ich mich heute als nicht-binär verstehe. Wenn trans* Menschen in den Medien dargestellt werden, dann häufig auf eine ganz bestimmte Art. Oft fällt es mir schwer, mich darin wiederzuerkennen. Ich habe es nicht „immer schon gewusst“, dass ich mich nicht zum Frau-sein zuordnen möchte, ich bin nicht der Prototyp einer nicht-binären Person.
Ein Kleid, das nie ganz passt
Auch deshalb habe ich lange Zeit damit gehadert, mich als nicht-binär zu definieren. Manchmal tue ich es immer noch. Schließlich beziehe ich mich dabei doch auf dieselben Kategorien, die so viel Unbehagen in mir auslösen. Warum sollte ich mich über ein Kategorien-System definieren, dessen Existenz ich von Grund auf ablehne? Warum sollte ich mich einer neuen Kategorie zuordnen, wenn mein eigentlicher Wunsch darin besteht, völlig frei von geschlechtlichen Kategorien und Erwartungen zu leben?
Gefangen im System, aber nicht sprachlos
Mit der Zeit merkte ich, dass mich diese Sichtweise nicht weiterbringt. Die Schwarze queerfeministische Schriftstellerin Audre Lorde bringt es gut auf den Punkt:
“If I didn’t define myself for myself, I would be crunched into other people’s fantasies for me and eaten alive.”
Audre Lorde
Wenn ich mich nicht selbst definieren würde, würden es andere Menschen tun. Ich lebe nicht im luftleeren Raum und auch nicht in einer Utopie, in der jeder Mensch einfach so ist, wie dey ist, ohne ständig in eine willkürlich erschaffene Kategorie geschoben zu werden. Nein – wenn ich nicht den Mund aufmache und den Mut aufbringe, mich selbst zu definieren, dann werden es andere tun. Sie würden mich gefangen halten in einem Wort: „Frau“.
Mich zu definieren lässt mich zwar wohler und authentischer fühlen. Doch es löst mich nicht von den Strukturen, von der grundlegenden Einteilung in männlich und weiblich, das unser Denken zutiefst bestimmt. Genauso löst es mich nicht von der Abwertung, die Weiblichkeit in unserer Gesellschaft immer wieder erfahren. Wie so viele Menschen habe auch ich manchmal Angst, Dinge zu tun, die unsere Gesellschaft als „weiblich“ definiert hat.
Ich möchte ausbrechen, ausbrechen aus diesem Geschlechter-Gefängnis, das nur die Kategorien „Mann“ und „Frau“ zulässt. Ausbrechen aus diesem System, das alles in zwei starre Boxen sortieren möchte. Mein Problem: es gibt kein Ausbrechen, denn es gibt kein draußen, kein außerhalb dieses Systems. Ich kann mich zwar definieren, ich kann sagen, dass ich nicht-binär oder genderqueer bin, doch in der momentanen Gesellschaft – im binären Patriarchat – bin ich weiterhin gefangen. Was genau meine ich überhaupt, wenn ich vom Gefangen sein spreche? Wie ist das passiert?
Gehen wir nochmal einen Schritt zurück und beginnen ganz von vorne
Als ich geboren wurde, sprach die Hebamme meinen Eltern ihre Glückwünsche aus und gratulierte ihnen zu einem gesunden Mädchen. Die erste Einteilung, die erste Box. Zusammen mit Babybrei und Reiswaffeln fütterte mir mein Umfeld die Idee einer binären Geschlechtergesellschaft, mit mir als „weiblich“. Zwar zählten sie nie direkt Regeln auf, wie sich Mädchen zu verhalten hatten, doch lernte ich recht schnell – so wie alle Kinder – die sozialen Normen zu identifizieren und zu befolgen. Oft genug wurden Kinder im Fernsehen, in Büchern, auf der Straße oder in der Werbung ebenfalls als „Mädchen“ betitelt. Ich begann zu verstehen, was von mir als „Mädchen“ erwartet wurde. Ich sollte lieb sein, nicht breitbeinig dastehen, Kleider, rosa und Glitzer mögen. Es war wichtig, dass ich mich um andere kümmerte und eines Tages selbst Kinder haben würde.
„Die Jungs“ waren stets das andere, wenn auch mit einer gewissen Neugierde und Faszination verknüpft. Ein Beobachten aus der Ferne, ich kam nicht in Versuchung, „Jungsdinge“ zu tun. Dass Geschlecht nicht eine gottgegebene Tatsache ist, sondern etwas sozial konstruiertes, über das wir eine gewisse Macht haben, verstand ich damals noch nicht. Als mein Kinderarzt mich also fragte, welchen Beruf ich später einmal haben wollte, hatte ich meine Identität schon so sehr an das gefesselt, was von mir erwartet wurde, dass ich selbstbewusst antwortete: „Prinzessin. Oder Mutter.“
Als Teenager kamen dann noch mehr und noch belastendere Erwartungen für mich hinzu. Auf dem Schulhof wurde plötzlich getuschelt, wer auf wen steht. In geheimnisvollen Sitzkreisen sollte jedes „Mädchen“ teilen, in welchen Jungen sie verliebt sei. Unschwer zu erraten, dass ich mich in diesen Sitzkreisen alles andere als wohl fühlte. Die Filme und Serien, die meine Mitschüler*innen mochten, kannten für weibliche Charaktere alle nur ein Happy End: in einer festen romantischen Beziehung mit einem Mann. Ich lernte also, dass ich einen Mann brauchte, um glücklich zu sein, und von Männern begehrt werden musste, um wertvoll zu sein.
All diese Erwartungen schnürten mir die Luft ab, wie ein Korsett, das zu eng gezogen worden war. Mehr und mehr merkte ich, dass es nicht nur die extremen patriarchalen Erwartungen waren, die mir nicht gut taten, sondern auch die geschlechtliche Kategorie an sich. Die Zeichen waren zwar da, aber noch weigerte ich mich anzuerkennen, dass eine weibliche Identität nicht das Richtige für mich ist, dass ich Geschlecht als etwas viel fluideres erlebe, als das die zwei Boxen je zulassen könnten.
Von Verletzungen und Verwandlungen
Mit der Zeit bröckelte die Fassade allerdings immer mehr. Gegen Ende der Schulzeit hatte ich meine geschlechtliche Identität neu definiert und umgewälzt, wenn auch im Geheimen. Mich in der Schule zu outen, traute ich mich nicht. Die Anfeindungen mancher Mitschüler*innen, das schlecht versteckte Grinsen und das Absprechen der eigenen Erfahrungen und Identität sah ich einer befreundeten, nicht-binären Person passieren. Und auch wenn ich mich versteckte, mich weiterhin verstellte, um keine Zielscheibe zu bilden: Spuren haben die Kommentare trotzdem hinterlassen, die stellvertretend über mein Mitschüli gesagt wurde, die mich aber genauso mit meinten.
In der linken Tübinger Studierenden-Bubble, in der ich mich bewege, fange ich an, mein queeres Selbstbewusstsein zurück zu bekommen. Ich habe mich mit Menschen umgeben, die mich respektieren, manchmal sogar verstehen und ein sicherer Ort für mich sind. Hier gelingt es mir, meine Queere Pride zurück zu bekommen.
Ausbrechen aus dem binären System?
Trotzdem, all diese Erfahrungen, die mich in das patriarchale „Weiblich“ pressen wollten, sind geblieben und ich trage sie immer noch mit mir herum. Männliche Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten, fühlt sich manchmal immer noch besser an als von anderen Menschen. Manchmal schleicht sich noch immer der Gedanke in meinen Kopf, ob ich überhaupt ein „Recht“ darauf habe, mich auf eine bestimmte Art zu kleiden oder zu identifizieren oder zu verhalten . Und manchmal verbiete ich mir selbst, mich so zu verhalten, wie die Gesellschaft klassisch „weiblich“ definiert hat. Aus Angst, jemand könnte mir meine hart erarbeitete Freiheit und Identität wieder wegnehmen, mich zurückstopfen in die alte Box. Wie wir alle bin auch ich gefangen in diesem binären System, und noch habe ich nicht herausgefunden, wie ich daraus ausbrechen kann.
Beitragsbild: Lena Füßinger