Verliebt in Kolumbien, zerstritten in Galicien oder am Rande der Existenz in Argentinien – beim CineLatino 2024 wurde kein Thema ausgelassen. Doch egal ob den Charakteren auf der Leinwand Liebe, Hass oder Angst ins Gesicht geschrieben war: Dem Publikum war wie immer ein Vergnügen geboten. In einige Filme erhaltet ihr hier einen kleinen Einblick.
Acht Tage Cine Latino fühlen sich an wie ein kleiner Urlaub. Um nach Lateinamerika zu reisen muss man kein Flugzeug besteigen, es reicht ein Ausflug ins Kino Museum. Auch schien es die Gäste nicht aus der Ruhe zu bringen, dass der Studierenden-Spezialpreis von 6,50 Euro, der letztes Jahr galt, abgeschafft wurde. Dieses Jahr war für Studierende der reguläre Studi-Preis von 9 Euro fällig.
Dass viele Dinge es einfach nicht wert sind, sich darüber Sorgen zu machen lernt man auch in dem Film La Piel in Primavera (Die Haut im Frühling). Der Winter in Medellín, Kolumbien, geht zu Ende, als Sandra Vasquez den Bus auf der Linie 243 zur Arbeit besteigt. Es ihr erster Tag bei ihrer neuen Arbeitsstelle: Sie wird als Security-Frau in einem Einkaufszentrum arbeiten. „Können Sie es mir sagen, wenn wir an dieser Adresse halten?“, fragt sie den Busfahrer. Der freundliche Mann, wie Sandra etwa Mitte 40, bittet sie direkt, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, damit er sie nicht vergisst. Bei der Arbeit trifft sie auf ihre neuen Kolleginnen, die zu ihrem Glück vom gleichen Schlag wie sie sind: Sie nehmen nichts allzu ernst, plappern gerne lange in der Umkleidekabine und haben gerne nach der Arbeit etwas Spaß, anstatt gleich nachhause zu gehen.
Zwischen ihnen fühlt sie sich recht wohl bei ihrer neuen Stelle, auch wenn ihre immer wiederkehrende Patrouille zwischen den von Neonröhren beleuchteten Geschäften ein Spiegel ihres Lebens ist: Alles scheint etwas eingeschlafen zu sein, ihre Beziehung zu ihrem pubertierenden Sohn Julian ist schlecht und auch eine Liebschaft hatte sie schon lange nicht mehr. Als der freundliche Busfahrer Javier sie jedoch am nächsten Tag wieder auf seinen Beifahrersitz bittet, bahnt sich für sie ein kleines Glück an. Die beiden kommen sich Stück für Stück näher und die Fahrt zur Arbeit jeden Morgen verwandelt sich in ein Ritual, das dem Erwachen der Stadt im kolumbianischen Frühling ebenbürtig ist. Auch ihr Sohn Julian bringt plötzlich ein Mädchen mit nachhause und Sandras Rhythmus zwischen Arbeit, Freizeit und Schlafen wird ein bisschen bunter.
Schönheit liegt im Auge des Betrachters
Besonders auffällig sind die zahlreichen Nahaufnahmen, vor allem in der Umkleidekabine, in der sie und ihre Kolleginnen sich vor und nach der Arbeit begegnen. Keine Angst vor Nähe sagen die Szenen, in denen Sandras Speckröllchen am Bauch und an den Beinen vollkommen vorurteilsfrei gezeigt werden. Sie ist weder schön noch hässlich, sie ist einfach nur eine Frau, die aussieht, wie sie aussieht. Auch sie selbst scheint ihre durchschnittliche Erscheinung nicht zu stören. Selbstbegutachtungen werden selten gezeigt, nur in einer Szene steht sie vor dem Spiegel und richtet ihre Brüste, als ob mit diesen etwas nicht stimmen würde, jedoch gibt sie sich schnell zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild.
Den ebenfalls etwas beleibten Javier stört es nicht. In den eineinhalb Stunden des Films bleibt es bei der kleinen Romanze zwischen den beiden und es zeigt sich, dass ihre Rolle als Mitglieder des arbeitenden Volkes ebenso wichtig ist wie ihre Beziehung. Trotzdem lassen sie sich nicht davon abbringen, dass ihr Alltag von Arbeit dominiert wird. Javier lässt es sich auch nicht nehmen, die rote Nachtbeleuchtung in seinem Bus für ein kleines Rendezvous mit Happy End mit seiner Geliebten zu nutzen.
Medellín ist eine Stadt, deren Menschen man ein bisschen auf die Sprünge helfen muss. Sie wollen, aber sie trauen sich nicht so ganz. Und dennoch bringt jede Begegnung, die zustande kommt, ein kleines bisschen Glück. La piel en primavera ist ein Film, der zeigt, dass Fremde zu Freunden werden können. Er zeigt jedoch auch, dass Freunde zu Fremden werden können. Und wirklich Bedeutung hat eigentlich nichts. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Wer wohl als nächstes in Sandras Leben tritt?
Am anderen Ende des Atlantiks bahnt sich ein Sturm an
Dass die Luft in Medellín leicht ist und dass in ihr die Atmosphäre der Liebe schwingt, wird in den ersten Minuten des Films klar. Über die Luft in Galicien kann man das nicht behaupten. Der Film As Bestas (Wie Wilde Tiere), der die Geschehnisse in einem Dorf in der nordwestlichen Region Spaniens zeigt, schont das Publikum vor nichts.
Eigentlich beginnt alles ganz harmlos: Antoine (Beitragsbild, links) und seine Frau Olga, ein munteres und naturverliebtes französisches Ehepaar, kaufen ein kleines Anwesen in einem galicischen Dorf. Die beiden sind gebildet, weit gereist und durch und durch idealistisch. Bio-Landwirtschaft steht bei ihnen auf dem Programm und auch die Solarzellen auf ihrem Rasen sind nicht selten im Bild zu sehen. Bei ihren Nachbarn stößt das allerdings nicht gerade auf Freude. Die Familie Anta ist ein ungebildeter und ruppiger Haufen, für den Idealismus ein Fremdwort ist. Er wolle die Häuser, die er herrichtet, doch nur an Touristen vermieten, wirft Xan Anta seinem Nachbarn Antoine in der Dorfspelunke vor. Unsinn, meint Antoine, er wolle einfach nur mit seiner Frau das Leben auf dem Land genießen. Mit dem Galicischen tut er sich inzwischen weniger schwer als am Anfang. Das Dorf sei seine Heimat geworden.
Sechs Monate lang lebt das Paar mit der Familie Seite an Seite – widerwillig und missmutig, aber man hält sich bei Laune. Der Film beginnt jedoch erst zu einem Zeitpunkt, als ein ganz neues Problem das bereits schlechte Verhältnis in Stücke reißt: Ein norwegischer Energiekonzern will das Dorf gegen eine Abfindung für die Familien dort abreißen und in einen Windpark verwandeln, was natürlich das einstimmige Einverständnis der Menschen des Dorfes erfordert. Die Antas sind begeistert – ein Ende der Armut scheint in Sicht, auch die anderen Menschen im Dorf sehen das so. Antoine und Olga stellen sich jedoch quer. Sie seien nicht hierhergezogen, um sich durch eine ihrer Ansicht nach mickrige Abfindung vertreiben zu lassen. Der Deal platzt an der nicht gefundenen Einstimmigkeit.
Ab jetzt wird es hässlich. Die Antas lassen Antoine und Olga keinen Frieden mehr. Die Belästigungen nehmen kein Ende, und auch vor Handgreiflichkeiten schrecken die pendejos nicht zurück. Antoine beginnt schnell, die Belästigungen mit einem Camcorder festzuhalten, was jedoch nicht lange unbemerkt bleibt. Als einer der Antas nachts zwei Autobatterien in die Bewässerungszisterne der Nachbarn wirft und die Tomatenernte dadurch mit Blei belastet wird, reicht es Antoine endgültig.
Hassparolen und Morddrohungen sind an der Tagesordnung, auch wenn Antoine es nicht schafft, letztere als wasserdichtes Beweismaterial festzuhalten. Er wendet sich an die Polizei, die das Geschehen aber aus sicherer Distanz betrachtet. Antoine lebt von nun Tag ein, Tag aus in Angst. Bis es eines Tages es bei einem Spaziergang im Wald zur endgültigen Eskalation kommt.
Einige Monate sind vergangen. Es wird Winter in dem Dorf. Der Schnee fällt dicht und dennoch ist die Witwe Olga tagtäglich im Wald unterwegs, auf der Suche nach ihrem Mann. Aus der liebenswürdigen Mutter und Ehefrau ist eine eiserne Einzelgängerin geworden, die Kälte ihres Herzens ist jeder Falte auf ihrem Gesicht abzulesen. Blau- und Grüntöne dominieren die dunklen Bilder und man spürt den Wind, der durch jede Ritze zieht, förmlich am eigenen Körper. Olgas Tochter Marie kommt aus Frankreich angereist, wohl eher, um zu sehen, ob ihre Mutter noch lebt. Der erbitterte Kampf gegen ihre Umstände hat sie zu einem rauen Charakter gemacht, Resilienz ist zu ihrer einzigen Eigenschaft geworden. Während Maries Aufenthalt kommt es ein weiteres Mal zur Eskalation, das Mädchen hält es nicht mehr aus, dass ihre Mutter den Kampf gegen die Elemente nicht aufgeben will.
Die radikale Wendung der Geschichte zeichnet ein düsteres Bild eines Lebensweges, der mehr Stärke erfordert, als von einem Menschen zu erwarten ist. As Bestas ist ein monumentales Meisterwerk, die Perfektion einer Erzählung, die vor Brillanz kaum zu retten ist. Zwischen messerscharfen Dialogen, einzigartigen Charakteren und einer packenden Klangatmosphäre fühlt sich jede Sekunde des zweieinhalb Stunden langen Werkes wie eine neue Geburt an.
Es ist ein Film, der nicht nur eine starke männliche Hauptrolle, sondern ein ebenso starkes weibliches Pendant hat und sich dennoch entschlossen keinem einzigen Klischee bedient. Jedes Wort, jeder Dialog trifft den wunden Punkt genau da, wo er ist, und man wird immer wieder überrascht. As Bestas ist zweifelsfrei ein dramatisch sehenswertes Unikat an Genialität.
Zurück nach Südamerika – mit gefährlicher Last
Konkurrenz in Sachen Spannung bekommt As Bestas aus Argentinien, wo das Publikum in dem Fesselnden Thriller La Extorsión (Die Erpressung) auf die Folter gespannt wird. Alejandro ist ein erfahrener Airline-Pilot aus Buenos Aires, der trotz seinen mehr als 60 Jahren immer noch Langstreckenflüge aus der argentinischen Hauptstadt zu entlegenen Zielen in Nordamerika und Europa auf sich nimmt.
Eines Samstagmorgens, als er noch verschlafen neben seiner Frau Caro liegt, wird er von zwei Männern aus dem Bett geworfen, die an seiner Tür klingeln. Airport-Security, er soll sofort mitkommen. Er entflieht dem verwirrten Blick seiner Frau und leistet Folge. In einem versteckten Büro am Flughafen wird er mit Vorwürfen konfrontiert: Wurde bei Ihnen ein teilweiser Gehörverlust diagnostiziert? Haben Sie Ihre Frau mit Ihrer Ärztin betrogen, die Ihren Gehörverlust vertuscht hat? Zu seinem Erschrecken kann Alejandro keine der Fragen verneinen.
Saavedra, der Mann, der ihn die Fragen mithilfe eines Lügendetektors beantworten lässt, stellt sich als Mitarbeiter des argentinischen Geheimdienstes vor und schlägt ihm ein Geschäft vor: Er behält die Geheimnisse über Alejandro, die diesen ins Gefängnis bringen könnten, für sich und dieser soll dafür eine einfache Aufgabe erledigen: Er wird von nun an nur noch die Route zwischen Buenos Aires und Madrid fliegen und dabei jeweils einen kleinen Rollkoffer mit sich nehmen. Diesen wird jemand in Madrid entgegennehmen.
Alejandro bleibt nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Allerdings dauert es nicht lange bis Mario, der Chef der Flughafen-Security, darauf aufmerksam wird. Durch einige Windungen kommt Alejandro an eine Regierungsmitarbeiterin, die ihm den Trick erklärt, denn die Regierung ist sich der Masche bereits bewusst: Der argentinische Geheimdienst bekommt jährlich ein gewisses Budget zugesprochen, jedoch muss er nur über einen Teil seiner Ausgaben Rechenschaft ablegen, ein Anteil davon darf für geheime Zwecke ausgegeben werden. Wird Geld jedoch außerhalb des Landes geschafft, kann die Regierung nicht zurückverfolgen, wofür dieses ausgegeben wurde, so kann Saavedra einen Teil des Geheimdienstbudgets veruntreuen. Auf diese Weise findet Alejandro heraus, dass er eigentlich nur Bargeld transportiert.
Dies wirft ihn in eine Vertrauenskrise. Soll er weiterhin für Saavedra arbeiten, aus Angst, dass die Wahrheit über seinen Gesundheitszustand und seine Affäre an seinen Arbeitgeber bzw. seine Frau weitergeleitet wird? Oder soll er mit den Behörden kooperieren und hoffen, dass das Netzwerk zu Fall gebracht wird? Über einen actiongeladenen Teil des Films irrt Alejandro durch die Welt, stets bemüht, mit beiden Seiten des Gesetzes gute Beziehungen zu halten. Als er herausfindet, dass sein langjähriger Kollege und Freund Fernando ebenfalls für Saavedra arbeitet, wird das Spiel noch verrückter.
Die Handlung wird zunehmend komplexer, wie bei einer Zwiebel kommen immer weitere Schichten hinzu, man muss aufmerksam sein, um einen Bluff als solchen zu erkennen, oder sogar als Doppel- oder Triple-Bluff. Wird Alejandro es schaffen, aus dem Spiel zu entkommen, ohne Schaden zu nehmen?
Spannung pur
So geht eine Woche voller Spannung und Entspannung zu Ende. Wie jedes Jahr wird der Publikumspreis vergeben, dieses Jahr geht die Fördersumme von 1000 Euro an das brasilianische Drama Saudade fez morada aqui dentro (Die Sehnsucht fand hier ein Zuhause), ein Film über einen Jungen, der langsam erblindet, in dem es jedoch vorrangig um Freundschaft und Nähe geht.
Ende April geht es nächstes Jahr weiter und die Vorfreude steigt schon jetzt. Auch dieses Jahr hat das Cine Latino gezeigt, dass Kino etwas Wunderbares ist und dass es, auch wenn der Verlust des Kino Arsenal im Februar eine Narbe in der Tübinger Kinolandschaft hinterlassen hat, immer weitergeht, Szene um Szene.
Beitragsbild: Cine Latino (Szene aus As Bestas)