Politik

Ein Land, zwei Welten – „Der Backstein-Effekt“

Was bleibt nach dem Ende einer Diktatur? Wenig, so sollte man hoffen. Auf der anderen Seite der Welt jedoch, in Chile, sind die Spuren der Diktatur unter Augusto Pinochet noch lange nicht verwischt. Vor allem eins ist davon noch übrig, und es ist ein Überbleibsel, das man nicht vermuten würde: Die Verfassung.

Aus dem Leben zweier Chilenen erzählt Carola Fuentes‘ Dokumentationsfilm El Efecto Ladrillo – Der Backstein-Effekt, der am 9. Mai im Zuge des Cine Latino 2023 im Kino Museum gezeigt wurde. Im Mittelpunkt des Filmes stehen Ramiro Urenda und Mariana San Martín, zwei Menschen aus dem reichsten Land Südamerikas, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der unter der Diktatur des neoliberalen Generals Augusto Pinochet reich wurde, indem er das System zu seinen Gunsten ausnutzte. Sie ist eine Frau, die wie viele andere die Realität dieses Systems zu spüren bekam. Im Jahr 1990 endete die 17 Jahre lange Diktatur Pinochets. Seither hat sich jedoch wenig verändert im Land. Der Film zeigt Ausschnitte aus zwei Lebenswelten, die 2019 nach vielen Jahren der Ungerechtigkeit aufeinanderprallen. 

In Chile herrscht seit langer Zeit politische Spannung. Bild: Cine Latino
Von Demokratie zu Diktatur

Am 11. September 1973 stürmt die chilenische Armee den Herrscherpalast in Santiago und drängt den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende zum Suizid. Auf den von den USA gestützten Militärputsch folgt eine Diktatur unter dem Militärgeneral Augusto Pinochet, der noch im selben Monat an die Macht kommt und den Staat daraufhin nach seinen Wünschen umbaut. Auf diese Weise macht er Chile zur wohl ersten neoliberalen Diktatur der Welt. Um dies zu realisieren, umgibt er sich mit den renommiertesten Wirtschaftsexperten des Landes, unter anderem den Chicago Boys.

„Der Backstein war im Grunde wie die Bibel. Man konnte mit einer Ausgabe davon auf seinem Schreibtisch das ganze Land regieren.“

Ramiro Urenda

Die Chicago Boys war eine Gruppe chilenischer Ökonomen, die nach dem gemeinsamen Studienort ihrer Mitglieder benannt war. Ihre Theorien, die weitgehend auf klassisch-liberale und neoliberale Theoretiker wie Milton Friedman und August von Hayek zurückgingen, hatten sie in einem Werk namens El Ladrillo (der Backstein) festgehalten, eine Sammlung von Artikeln und Politikempfehlungen.

Der „Backstein“ war ein mächtiges Werk, der Pinochets Herrscherstil nachhaltig prägen sollte. Sein Versprechen lautete: Wohlstand für alle, egal mit welchen Mitteln. „Das war im Grunde wie die Bibel“, sagt Ramiro Urenda im Film. „Man konnte mit einer Ausgabe davon auf seinem Schreibtisch das ganze Land regieren.“

Ein ungleiches Land

Mariana San Martín steht auf der anderen Seite der chilenischen Gesellschaft. Die 50-Jährige ist größtenteils in Armut aufgewachsen. Ihre Mutter starb, als sie jung war. Trotzdem ist sie eine Kämpferin. In den Genuss von Bildung kam sie nie, immer musste sie arbeiten, auch als Kind. In Pinochets Chile war das möglich. Dennoch schaffte sie es, durch pure Willenskraft ihren Traum zu verwirklichen; im Alter von 40 wurde sie als Lehrerin zugelassen. Trotz einer Arbeit, die sie erfüllt, erlebt sie jeden Tag, dass ihr Land wenige Aufstiegschancen für Menschen bietet, die wie sie aus der Armut stammen. Im Jahr 2019 war sie eine von Millionen Chileninnen und Chilenen, denen es zu viel wurde. Es folgten Proteste, die das Land lahmlegten und aufzeigten, dass sich etwas ändern musste, denn 29 Jahre nach dem Ende der Diktatur ist Pinochets Verfassung, die während seiner Amtszeit in den 1980er-Jahren inkrafttrat, immer noch rechtskräftig. Die Forderung war einfach: Eine neue Verfassung muss her.

„Wir hatten alle Angst, aber wir wollten zeigen, dass es uns nicht gut ging.“

Mariana San Martín

Ursprünglich ausgelöst durch eine Erhöhung der Tarife in den Santiagoer U-Bahnen, stürmten Millionen Menschen die Straßen und forderten Veränderung. Im Film sieht man Bilder von vollkommen ausgebrannten Straßenbahnwaggons und Bussen, jedoch auch von kräftigen, aber friedlichen Protesten und Wut, die endlich ein Ventil findet. „Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind, der nichts und niemanden respektiert“, sagte der damalige Präsident Sebastián Piñera in einem öffentlichen Statement: Ein Satz, der das enorm gestörte Verhältnis zwischen Staat und Volk versinnbildlichte und Piñera noch lange verfolgen sollte. „No estamos en guerra“ (Wir befinden uns nicht im Krieg) steht auf einer chilenischen Flagge geschrieben, die im Film bei einer Demonstration zu sehen ist.

„Wir befinden uns nicht im Krieg“ steht auf der chilenischen Flagge geschrieben. Bild: Cine Latino

Viele der Demonstrationen im Land wurden brutal niedergeschlagen. Das zeigt, dass nicht einmal das reichste Land in Südamerika, wie Mariana San Martín anmerkt, davor geschützt ist, Schauplatz von staatlicher Gewalt zu werden. Der Film erzählt unter anderem von einem jungen Familienvater, der während den Protesten von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde und nur knapp überlebte, jedoch nun querschnittsgelähmt ist. Er wurde zu einem Symbol der Bewegung gegen das System. Jedoch ist er bei weitem nicht der Einzige, der Opfer von Gewalt wurde. Fabiola Campillai, die auch in dem Film zu sehen ist, verlor ihr Augenlicht, als sie bei einer Demonstration von einem Tränengaskanister getroffen wurde. „Wir hatten alle Angst“, erinnert sich Mariana San Martín. „Aber wir wollten zeigen, dass es uns nicht gut ging.“

Ein Umdenken findet statt – überall

Ramiro Urenda, 70, auf der anderen Seite, lebt ein komfortables Leben. Man sieht ihn in seinem Haus am Meer, vor der Tür steht ein Mercedes. Er hat viel erreicht, und das hat er zum großen Teil der Politik von Diktator Pinochet zu verdanken. Unter dem Diktator gehörte er zu den staken Anhängern der neoliberalen Reformen. Die Gewalt, die Schicksale und die Ungleichheit, die die Politik des Generals mit sich brachte, sah er als Abweichung der Funktionsweise des Systems, nicht als Symptome dessen.

„Ich dachte, die Wirtschaft sei die eine Sache, die alle Phänomene der Welt erklärte.“

Ramiro Urenda

Jedoch hat auch er in letzter Zeit begonnen, nachzudenken, denn auch vier Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten der Verfassung ist Chile immer noch ein sehr ungleiches Land. „Ich dachte damals, die Wirtschaft sei die eine Sache, die alle Phänomene der Welt erklärte“, erzählt er. Er hat inzwischen verstanden, dass der Neoliberalismus seine Versprechen nicht gehalten hat, und für einen Mann seines Kalibers ist diese Denkweise unerwartet und eben deswegen erfrischend.

Die Proteste zeigten Wirkung. Nach wochenlanger Anarchie auf den Straßen verständigte sich der chilenische Nationalkongress im November 2019 darauf, ein Referendum abzuhalten, nachdem entschieden werden sollte, ob die Verfassung aus der Zeit Pinochets durch eine neue ersetzt werden sollte. Im Oktober des Folgejahres war es soweit, die Protestierenden hatten einen gigantischen Etappensieg erreicht. Im Film sieht man Mariana San Martín, wie sie mit Freudentränen in den Augen ihren Stimmzettel in die Urne wirft. Auch Ramiro Urenda hat sich dafür entschieden, für eine neue Verfassung zu stimmen, und mit ihnen auch die überwiegende Mehrheit der Chileninnen und Chilenen. Über 78 Prozent bekräftigten ihre Unterstützung für einen Neuanfang. Das Referendum war erfolgreich.

Eine der zahlreichen Protestaktionen im Land. Bild: Vladimir Fedotov auf Unsplash
Ende gut, alles gut?

Der Film endet mit dem Auszählen der Stimmzettel und dem Erfolg der Proteste. Er zeigt dem Publikum also, dass Veränderung möglich ist und Widerstand sich lohnt. Im Jahr 2021 trat dann die Kommission zusammen, die gewählt wurde, um die neue Verfassung auszuarbeiten. Unter den Gewählten waren Vertreterinnen und Vertreter aller Seiten, Kommunisten und Konservative, und nach monatelangem Debattieren wurde der Entwurf der neuen Verfassung vorgelegt. Kernpunkte waren unter anderem die institutionelle Umstrukturierung der Regierungsstruktur zugunsten der Effizienz im legislativen Prozess, sowie eine Dezentralisierung der Regierung zur Stärkung der einzelnen Regionen, was besonders den indigenen Gruppen im Süden des Landes zu mehr Autonomie von der Zentralregierung in Santiago verhelfen sollte. Selbstverständlich abgeschafft wurde das Subsidiaritätsprinzip aus Pinochets Verfassung, nachdem sich der Staat aus allem heraushalten würde, was laut der Theorien der Chicago Boys vom privaten Sektor erledigt werden könnte. Das betrifft zum Beispiel Gesundheitsvorsorge, Umweltmaßnahmen, und Wasserrechte, denn Chile ist nach der alten Verfassung das einzige Land der Welt, in dem Wasserversorgung dem Privatsektor unterstellt ist. Außerdem sollten 50 Prozent aller Abgeordneten in den Parlamenten fortan weiblich sein.

Leider nimmt die Geschichte jedoch eine ungute Wendung, die Carola Fuentes nicht mehr in ihrem Film festhalten konnte: Im Oktober 2022 stimmten 62 Prozent der Chileninnen und Chilenen dagegen, den Verfassungsentwurf anzunehmen. Wirklich verändert hat sich bis jetzt also nichts. Zu experimentell, zu radikal, so lauteten die Vorwürfe der Gegnerinnen und Gegner. Am Dienstag dieser Woche trat zum ersten Mal die neue Kommission zusammen, die nach einer erneuten Wahl einen zweiten Entwurf erstellen soll, um Pinochets Verfassung endlich in die Geschichtsbücher zu schicken. Vor allem die rechtspopulistische Partido Republicano (Republikanische Partei) feierte einen Erfolg und sicherte sich fast die Hälfte der 50 Sitze in dem Gremium.

Die Zukunft des Landes ist also ungewiss. In den kommenden Monaten wird die nun von der rechten Seite dominierte Kommission einen neuen Verfassungsentwurf ausarbeiten. Am Ende wird das Volk entscheiden. Es bleibt also spannend.

Titelbild: Daniel Mueller auf Unsplash

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2 Kommentare

  1. Giovanelli sagt:

    Very interesting article about Chile and it’s current state of affairs.

  2. […] Jahren Demokratie. Mehr über den Film und die spannende Geschichte der Protestbewegung könnt ihr hier in unserem Artikel darüber […]

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