Improvisation ist ja momentan das Maß aller Dinge – besonders bei Kulturschaffenden. Auf der provisorischen Freilichtbühne neben dem Landestheater fand am Dienstag der 163. Tübinger Poetry-Slam statt. Doch kann mit Mundschutz und 1,5m-Sicherheitsabstand überhaupt eine poetische Theaterstimmung entstehen? Die Kupferblau war natürlich vor Ort und hat sich ein Bild von dem Abend gemacht.
Die Abendsonne hüllte die Backsteinfassade in warmes Licht. Umgeben von hohen Laubbäumen bot der Hinterhof des Landestheaters bereits angenehmen Schatten für die knapp 80 Zuschauer*innen, die es sich auf Klappstühlen gemütlich machten und gespannt auf die Vorstellung warteten – natürlich mit 1,5m Sicherheitsabstand, versteht sich. Die kleine Freilicht-Bühne vor ihnen recht schlicht, ein rotes Sofa und zwei Mikrofone sind die einzigen Requisiten, die sich vom schwarz-weißen Hintergrund abheben. An diesem Dienstagabend saß die Regie nämlich nicht hinter, sondern vor der Bühne, denn es war mal wieder Zeit für Worte und Poeten (statt Pauken und Trompeten) – beim 163. Tübinger Poetry-Slam.
Weniger ist mehr
Für das Line-Up galt diesmal das Motto „Weniger ist Mehr“. Es traten insgesamt nur vier Slam-Poet*innen auf, die aber jeweils gleich zwei Texte in der Vorrunde darboten und in der „Tübinger Szene“ teils schon zu echten Schwergewichten gehören.
Den Anfang machte die Rhetorik-Studentin Tonia Krupinski. Als Gewinnerin des Newcomer-Contests im Epplehaus letztes Jahr offenbarte Tonia diesmal ihre heimliche (Hass-)Liebe zu Tübingen und wie sie zum ersten Mal von einer Busbekanntschaft um einen Kuss gefragt wurde. Ihre wilde, unbeschwerte Art, alltägliche Abenteuer zu erzählen und dabei stets nahbar und sympathisch zu bleiben, fand breiten Anklang im Publikum und sorgte gleich zu Beginn für eine angenehm warme Slam-Atmosphäre.
Marius Loy, Slam-Poet und Autor aus Esslingen setzte sich unter anderem in einer „kleinen Dorflyrik“ mit den Erlebnissen aus seinem Heimatort auseinander. Die Fragen nach Herkunft und persönlicher Vergangenheit in einer Welt ohne Grenzen brachten die jungen Zuschauer*innen zum Nachdenken.
Aus Frankfurt am Main angereist, berichtete die Dramaturgie-Studentin Malina Pathe von dem schmerzlichen Tod ihrer Großmutter und wie sie erkannte, dass solche Ereignisse sowohl persönliche Lügen entlarven als auch familiäre Wahrheiten zu Tage fördern können. Ungeschminkt und authentisch schüttete sie dem Publikum ihr Herz aus. Die Zuschauenden hingen förmlich an ihren Lippen und der donnernde Verkehr auf der Bundesstraße nebenan wirkte auf einmal ganz leise.
Der vierte Slam-Poet, und zugleich der älteste Teilnehmer, war Harry Kiensler. Als zweifacher Vater hat er mit seinen beiden Kindern in den bisherigen Corona-Monaten so Einiges erlebt, von dem er am Dienstagabend heitere Anekdoten in fast schon ironischer Leichtigkeit zum Besten gab. Dabei schien auch er nicht ganz von der Kreativität seiner Kinder verschont zu bleiben, als er sich die Kinderhelden Petterson und Findus als Drogendealer vorstellte oder den Warentrenner an der Supermarktkasse mit einem „Arschloch-Airbag“ verglich – was im Publikum zu teils hysterischen Lachanfällen führte.
Mit Applaus zum Erfolg
Wie üblich hatten die Zuschauenden nach der Vorrunde das letzte Wort, oder besser gesagt, den letzten Applaus. Als sich bei der Ansage des Familienvaters einige aus dem Publikum kaum noch auf ihren Plätzen halten konnten, war klar, wer den Poetry-Slam demokratisch gewinnen würde. Mit seinen poetischen Beiträgen strapazierte Kiensler die Lachmuskeln aufs Äußerste und das schien dem Tübinger Publikum zu gefallen (#LachenGegenCorona?!). Als Preis bekam er eine magnetische To-do-Liste, um die nächsten Abenteuer mit seinem Sohn und seiner Tochter sprichwörtlich festhalten zu können.
Und so nahm auch dieser Poetry-Slam-Abend ein geselliges Ende. Asli Kücük, die die Veranstaltung schon zum 163. Mal organisierte, trug ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, als sie zur Verabschiedung auf die Bühne kam. Schließlich zeigte dieser gelungene Abend einmal mehr, wie sehr Bühne und Publikum doch zusammengehören. In den Worten von Bob Holman ist Poetry-Slam „das Paradebeispiel für die Demokratisierung der Kunst.“ Theater ist für alle da – erst recht in Krisenzeiten wie dieser. Das (Pandemie-)Konzept einer Freilichtbühne neben dem LTT mag anfänglich ungewohnt wirken, doch ist gerade für laue Sommerabende passend und dabei angemessen auf die Corona-Regeln abgeschnitten.
Frische Texte, die Abendsonne als Scheinwerfer und ein Mikrofon auf der Bühne, mehr braucht es nicht für den Zauber der Poesie. Daran wird sich nichts ändern – nicht mal in einer Pandemie.
Der nächste Tübinger Poetry-Slam findet am 13.07.2020 statt. Wer Lust hat, einmal selbst zum Literaturkritiker zu werden und einen lauen Sommerabend mit authentischen Geschichten, ehrlichen Anekdoten und geselligen Humor verbringen möchte, kann bereits jetzt online, als auch an der Theaterkasse des Landestheaters Karten erwerben. Nun heißt es endlich wieder – auf ins Theater (und Mundschutz nicht vergessen)!
Fotos: Hagen Wagner