Der heutige Tag, der 9. Mai 2020, ist der Europatag der Europäischen Union. Außerdem feiert die EU in diesem Jahr das 35. Jubiläum des Schengener Abkommens. Jedoch spürt man bei geschlossenen Grenzen gerade im luxemburgischen Moseldorf Schengen von Europa nicht viel. Unser Redakteur studiert eigentlich in Tübingen, ist aber wegen der Corona-Krise derzeit daheim in Luxemburg – keine halbe Stunde von Schengen entfernt – und fragt sich, wie es mit Europa weitergehen soll.
Eigentlich hätte es ein schönes Jubiläumsjahr werden können. Das Wetter ist anhaltend warm, die Reben auf den sonnenverwöhnten Weinbergen erblühen und das kühle Nass der Mosel – hier Luxemburg, dort Deutschland – fließt ruhig und erhaben vor sich hin. Und doch brechen zum 35. Jubiläumsjahr des Schengener Abkommens düstere Wolken über das Idyll herein. Während man in Tübingen, weit von den Landesgrenzen entfernt, ohnehin wenig Kontakt mit diesem Vertrag hat – höchstens am Flughafen – spürt man die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf dieses tragende Element der Europäischen Union nirgends besser als hier: in Schengen selbst.
Seit Deutschland einseitig die Grenzen zu Luxemburg geschlossen hat, ist das Schreckgespenst wiedergekehrt, auf dessen Grab die Politiker beiderseits der Mosel in den vergangenen Jahren stets zu tanzen wussten: Die Grenze. Der Moselstrom, der wie kein anderer für den europäischen Traum stand und auf dem vor 35 Jahren das Abkommen unweit des Ortes Schengen die innereuropäischen Grenzpfähle brach, bildet jetzt eine Mauer. Wie von einem eisigen Schwert wird eine Region gespalten, die seit Jahrhunderten durch enge familiäre Bande, tiefgreifende wirtschaftliche Beziehungen und kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden ist.
Ein Fleck Erde, der wie kein anderer nach den großen Kriegen des letzten Jahrhunderts für den europäischen Aufbruch und die längste Friedensperiode unserer Geschichte stand.
Der Unmut auf beiden Seiten ist groß. Denn viele Deutsche leben in Luxemburg, und viele Luxemburger leben in Deutschland. Die kulturellen, wirtschaftlichen und sprachlichen Bande sind normalerweise ohnehin so stark, dass man gemeinhin nur von der „Großregion“ spricht – Grenzen waren eigentlich längst passé. Was auf großes Unverständnis stößt, ist dass die deutschen Grenzen zu den Niederlanden und Belgien im Gegenzug nicht geschlossen wurden, weil sich NRWs Ministerpräsident Armin Laschet gegen Grenzkontrollen ausgesprochen hat. So fühlt man sich hier von Deutschland hintergangen und unfair behandelt, denn es erschließt sich niemandem warum die Grenzschließung zum wohlhabenden 620.000 Einwohner-Staat Luxemburg etwas gegen Corona bringen soll, Belgien und die Niederlande, die ja um einiges größer sind, allerdings Freikarten bekommen.
Dazu kommen einige kleinere Zwischenfälle durch das Gebaren der deutschen Bundespolizei, wie die Festnahme eines luxemburgischen Spaziergängers, der auf der Moselbrücke (die beiden Ländern gehört) die Aussicht genießen wollte, oder deutsche Polizisten die bewaffnet und in Uniform nach Luxemburg zum tanken fahren, was gegen die deutschen Dienstvorschriften verstößt und von vielen als Amtsanmaßung empfunden wird. Nach unzähligen Protestbriefen sowohl von deutscher, als auch von luxemburgischer Seite hat man bislang nur die Öffnung einiger Übergänge für den Pendler- und Warenverkehr erreichen können. Zwar werden diese alle paar Wochen mehr, allerdings erreicht man jede Öffnung nur durch zähes Ringen mit den deutschen Behörden. Außer Protest bleibt auch nicht viel:
Als Zeichen für den empfundenen Tod Schengens wehen nun entlang der Mosel alle europäischen Fahnen (von denen es viele gibt) auf Halbmast.
So möchte man dem Gefühl Ausdruck verleihen, vom Bruder jenseits der Mosel, zu dem man historisch durch die beiden Angriffskriege des 20. Jahrhunderts lange ein schweres Verhältnis hatte, erneut hintergangen worden zu sein. Nur heute, am Europatag selbst, werden die Fahnen als Zeichen der Hoffnung erneut gehisst. Mehr als dieser kleine symbolische Akt bleibt auch gerade nicht, um den Glauben in die europäische Idee aufrecht zu erhalten.
Aus meiner eigenen Erfahrung als luxemburgischer Student in Tübingen, kann ich sagen, dass es leicht ist, tief im Herzen Baden-Württembergs das Projekt Europa zu vergessen und der kleinlichen Illusion zu erliegen, der eigene kleine schwäbische Ort sei eine Insel für sich. Vielleicht hat Europa auch nie wirklich irgendwo anders existiert als in Grenzregionen wie diesen, in denen Nachbarn zu Freunden, und Freunde zur Familie wurden, und in denen man jeden Tag aufs Neue spüren konnte, dass wir gemeinsam stärker, wohlhabender und friedfertiger sind als jemals zuvor. Umso schärfer der Hieb, der unlängst den zusammengewachsenen Kontinent entzweischlug und dabei eine klaffende Wunde hinterließ. Nicht nur hier, sondern überall in Europa.
Momentan liegt Schengen also auf der Intensivstation. Niemand weiß wie es weitergeht, ob der europäische Traum sterben muss, oder ob es in letzter Minute gelingt, ihn auf den Weg der Besserung zu schicken. Doch eines ist sicher: Folgeschäden werden bleiben, denn selbst wenn das Virus und die sich aufzeichnende Rezession überwunden sind und die Grenzen wieder geöffnet wurden, ist das Vertrauen in Deutschland als treibende Kraft der europäischen Einigung fürs erste dahin.
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