Kultur

Die Leere des Raumes – Leonie Lass in der Kulturhalle

Irritierte Besucher*innen sind in der Tübinger Kulturhalle in den letzten Wochen keine Seltenheit gewesen. Die Kulturhalle wirkte während der Ausstellung Im Begriff des Versorgens von Leonie Lass leer und baustellenartig. Aufgeschlossene konnten jedoch eine neue Perspektive auf einen verborgenen Knotenpunkt Tübingens entdecken. Ein Ausstellungsrückblick.

Eine gut ausgeleuchtete weiße Wand ist normalerweise der Träger der Kunst. Dem Kunstwerk an der Wand gilt die Aufmerksamkeit. Mit diesem Rollenbild gehen die meisten Menschen ins Museum. Genau dieses Verständnis ist der Grund, warum sich die Besuchszeit in der Tübinger Kulturhalle während dieser Ausstellung auf teilweise nur wenige Minuten beschränkt hat.

Die Ausstellung von Lass bricht mit den Erwartungen an einen Ort der Kunst. Die Kulturhalle wirkt wie eine Baustelle. Von der Decke hängen Kabel, der Eingang ist von einem Gerüst verkleidet und jegliche Abdeckungen von Steckdosen oder Lichtschaltern fehlen. Das Erscheinungsbild ist aber ganz bewusst so und soll die üblicherweise versteckten Strukturen offenlegen. Dennoch sind der Zustand und die fehlenden Objekte an den Wänden verantwortlich für die in Irritation endenden Kurzbesuche.

Die künstlerische Arbeitsweise

Kein gewöhnliches Einstecktuch. Bild: Adrian Julius Herzberg

Lass ist bildende Künstlerin und Studentin an der ABK Stuttgart. Sie möchte die Besucher*innen den Raum neu erleben lassen.  Ihre Arbeitsweise verdeutlicht sich an einem Einstecktuch: In einer dunklen Ecke der Kunsthalle liegt eine schlichte weiße Servierte unsauber gefaltet auf einem Backstein. Bei näherer Betrachtung lassen sich Initialen auf dem Tuch ausmachen. Wie beim Bildhauen an einem Marmorblock hat die Künstlerin verschiedene Schichten von einem Einstecktuch ihrer Großmutter abgetragen. Das Ergebnis ist ein neues Erscheinungsbild des Tuches.

Die Kulturhalle ist Lass auf eine ähnliche Weise angegangen. Sie tritt an den Raum heran und versucht ihn wie einen ungeschliffenen Stein zu bearbeiten und neue Ecken und Kanten herauszuarbeiten. Das Produkt ist ein neues Gesicht. Die erwähnten Abdeckungen wurden entfernt, aber auch Gestände wie ein Gerüst aus der Abstellkammer rücken an den Eingang. Die Spitze ist der Durchbruch durch eine vorherige Wand, wo im wahrsten Sinne des Wortes ein neuer Zugang zur Kulturhalle entstanden ist. Der Weg durch den angrenzenden und von Spinnen bewohnten Jugendtreff in die Kunsthalle erweckt Entdeckergefühle. Der Ausstellungsraum gleicht dabei einem Versteck. Tatsächlich verbirgt sich aber in der Kulturhalle einer der wichtigsten Knotenpunkte in der Tübinger Energieversorgung. Lass spielt so mit der Geschichte als Umspannwerke und regt die Besucher*innen an sich mit der Bedeutung des Raumes für Kunst und Tübinger Stromversorgung auseinanderzusetzen.

Durchbruch zwischen Jugendtreff und Kulturhalle. Bild: Adrian Julius Herzberg

Die vielen Details und Bezüge auf die Geschichte lassen sich mit dem Raumplan erkunden. Aufgeschlossene Besucher*innen werden zu Schatzsuchenden. Sie verbringen in einem scheinbar leeren Raum viel Zeit und verlassen diesen nach anfänglicher Irritation inspiriert.

Die Zeit nach der Ausstellung

Auch das Tübinger Kulturamt beschäftigt sich, angeregt durch die Umgestaltung, neu mit den Räumlichkeiten und überlegt, langfristig die von Lass offengelegten Nebenräume besser in das Gesamtkonzept einzubinden. Kurzfristig muss Lass jedoch erst einmal alles Rückbauen und auch den Durchbruch wieder verschließen, obwohl dieser in Zukunft eventuell erneut durch das Kulturamt aufgebrochen werden könnte.

Die Ausstellung Im Begriff des Versorgens lief vom 05. April bis zu 03. Mai. Das Kunstprojekt endete zwar, aber seine Spuren bleiben.  

Beitragsbild: Adrian Julius Herzberg

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