Stop GEAS! Ein Tübinger Bündnis aus Gruppen und Einzelpersonen organisierte für den 28.10.2023 eine Kundgebung mit anschließender Demonstration, bei der die geplante Verabschiedung der GEAS-Reform scharf kritisiert wurde. Beteiligt haben sich auch Aktivist*innen der Seenotrettung.
Der Himmel ist bewölkt, meine Wetter-App kündigt Regen an. Trotz des grauen Tages versammeln sich Menschen an diesem Samstagmittag auf dem Holzmarkt. Vor den Stufen der Stiftskirche sind mehrere große Transparente ausgelegt und aufgehängt. Ich lese, in blau gelb gemalten Buchstaben, „Stop GEAS! Die EU tötet!“ auf einem, auf einem anderen, orangefarbenen steht neben einem Bild von Yoda: „menschenrecht fundamental ist“.
Doch was ist GEAS überhaupt? GEAS beschreibt das Gemeinsame Europäische Asylsystem der Europäischen Union. Im Juni diesen Jahres wurde vom Europäischen Rat für Inneres eine Vorentscheidung zu einer Reform verabschiedet, die eine massive Verschärfung der bereits bestehenden Regelungen vorsieht. Praktisch umgesetzt werden sollen diese bereits kommendes Jahr.
Eine der Organisator*innen eröffnet die Veranstaltung, bedankt sich bei den Menschen für das zahlreiche Erscheinen und macht der*dem ersten Redner*in Platz. Das OTFR beginnt und kritisiert, dass die Debatte um Migration davon ablenken soll, die eigentlichen Ursachen der Krise zu benennen: Kapitalismus und damit einhergehende soziale Ungerechtigkeit. Die darauf folgende Rednerin ist Teil von Gemeinsam Kämpfen: „Was gerade passiert, passiert im Kontext unserer Geschichte“, beginnt sie. Eine Geschichte, die den Nationalsozialismus und dessen Folgen noch verarbeitet und nun, letzten Umfragewerten und Wahlergebnissen zufolge, erneut nach rechts abdriftet. Sie fordert, dass es an der Gesellschaft liege, die Worte von Olaf Scholz im „Spiegel“ nicht so stehen zu lassen. Dieser hat Anfang letzter Woche „Abschiebungen im großen Stil“ für die gefordert, die kein Recht hätten, in Deutschland zu bleiben. Jens Spahn ergänzte diese Aussage mit der Forderung, die Außengrenzen nötigenfalls mit physischer Gewalt zu verteidigen. 2016 wurde Waffengebrauch an den Außengrenzen von Teilen der AfD legitimiert. Damals war der mediale und gesellschaftliche Aufschrei noch groß, die Forderung wurde ins Lächerliche gezogen. Heute stehe hinter der Forderung nach Gewalt ein Politiker, dessen Partei in den letzten Jahrzehnten mehrfach an Regierungsgeschäften beteiligt war.
ProAsyl, SeaWatch und NoBorderKitchen prangern seit Jahren den gewalttätigen Umgang mit Geflüchteten an den Außengrenzen an. Der Einsatz von Schlagstöcken, Schüssen, Tritten und Schlägen ist ebenso dokumentiert wie das illegale Zurückweisen Schutzsuchender.
Die GEAS-Reform könnte eine Legalisierung solcher Pushbacks fördern. Während der Verfahren sollen Geflüchtete, die die entsprechende Landesgrenze überquert und nach der Genfer Flüchtlingskonvention ein Recht auf Asylantragsstellung haben, als nicht legal eingereist gelten. Eine praktische Konsequenz dieser Nicht-Einreise würde darin bestehen, dass die Mitgliedstaaten angehalten sind, die tatsächliche Einreise in das übrige Hoheitsgebiet jenseits der Grenz- oder Transitzone zu verhindern und so Pushbacks, die nicht selten von Gewalt begleitet sind, zu legalisieren. Zur Einordung: Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht und in der Genfer Flüchtlingskonvention fest verankert. Die Einreise zum Zweck der Antragsstellung auf Asyl wird durch diese legalisiert. Eine Verweigerung die Einreise als legal zu behandeln würde eine Aushebelung des Geflüchteten-Schutzes und die Verletzung von Menschenrechten bedeuten. Auch Einrichtungen an den Außengrenzen werden von Hilfsorganisationen kritisch beurteilt. Sowohl was die Dauer des Aufenthalts als auch die Größe der Einrichtungen angeht, sei dies eine psychische Belastung und könne gegen Menschenrechte verstoßen. Zwar wird in der Reform nicht von „Haft“ gesprochen, die Frage wie eine Weiterreise ohne eine Freiheitsbeschränkung verhindert werden soll, bleibt jedoch offen.
Die Redner*in von Fridays For Future weist auf die Zunahme von Klimakatastrophen durch die Verschärfung der Klimakrise hin. Was das mit Flucht zu tun hat? Bisher sind Klimakatastrophen keine gültige Fluchtursache in der Genfer Flüchtlingskonvention. Nichtsdestotrotz befinden sich mehr und mehr Menschen aufgrund klimatischer Veränderungen und Katastrophen auf der Flucht. Die GEAS-Reform würde bedeuten, dass Menschen, die aus Ländern wie Pakistan oder Bangladesch stammen und eine Anerkennungsquote ihres Asylantrags von unter 20 Prozent haben, ausschließlich in den Grenzverfahren behandelt und direkt abgeschoben werden dürften. Fridays For Future fordert eine rechtliche Verankerung des Status von Geflüchteten, die aufgrund von Klimakatastrophen ihr Land verlassen haben. Die Redner*in endet mit den Worten, dass die Würde eines jeden Menschen zu achten die Verpflichtung Europas und Deutschlands sei.
Der Demonstrations-Zug setzt sich in Bewegung und endet schließlich vor dem Amtsgericht mit einer Abschlusskundgebung. Es ist ein eindrucksvolles Bild, die Demonstrierenden vor diesem Gebäude, dass die deutsche Justiz und – in diesem Fall – ihre Verfehlungen, verkörpern soll.
Die Informationsstelle für Militarisierung, deren Rede dort als erste verlesen wird, weist auf die Beteiligung lokaler Akteure am Geschäft mit dem „Grenzschutz“ hin. Auf europäischer Ebene zählt der sogenannte Sicherheitsmarkt inzwischen zu einer der lukrativsten des Europäischen Binnenmarktes. Die Rede des StopGeas-Bündnisses hat vier Teile. Aber bleibt dran, sagt die Redner*in und lacht, sie ist nicht so lang, wie es klingt:
„Sieben Jahre nach der großen Empörung sind wir hier angelangt: ein Bundeskanzler, der fordert, was NPD und AfD jahrelang auf Wahlplakaten stehen hatten, ein ehemaliger Gesundheitsminister, der “physische Gewalt” an den Grenzen will, die Abschaffung des Asylrechts und Sippenhaft.[…].
Rednerin des StopGeas-Bündnis.
Sie bittet um einen Moment des Innehaltens. „Für die über 25.000 Toten auf dem Grund des Mittelmeers seit 2014, für die über 12.000 Berichte von brutalen, illegalen Pushbacks entlang der Balkanroute, für die Massen an Leichen in den nordafrikanischen Wüsten, für alle Menschen, die die Festung Europa noch auf dem Gewissen haben wird, wenn wir sie so weitermachen lassen“. Die Menge wird still.
Zuletzt sprechen drei Aktivist*innen von Mare*Go. Die drei waren bereits auf dem Mittelmeer aktiv. Einer der Sprecher hinterfragt, warum er in seinen Erzählungen wieder und wieder Kinder betont: „Ist das Leid der Männer weniger schlimm?“ Das Narrativ des bedrohlichen Schwarzen* Mannes, ebenso die Sexualisierung desselben ist verbreitet, wird von Mainstream-Medien und Politikern wie Friedrich Merz genutzt. Durch die Stilisierung als Bedrohung ist das Empfinden von Empathie für Schwarze Körper, insbesondere Männer, nicht möglich. Wie beschreiben die Seenotretter*innen die Menschen, denen die Mare*Go Zuflucht bietet? „Für uns sind sie Widerstandkämpferinnen und Widerstandskämpfer gegen eine rassistische und mörderische Grenzpolitik“. Für sie sind sie „keine unglücklichen Opfer der Elemente“. Es ist keine Naturkatastrophe, die zu dieser Flucht geführt hat. Es sind politische Entscheidungen und fehlende Menschlichkeit. Und diese Krise, das stellen sie klar, wird nicht durch Rettungsschiffe gelöst werden.
Die Versammlung wird aufgelöst. Menschen stehen in Gruppen zusammen, reden, schweigen, umarmen sich. Die Veranstaltung war mit ca. 150 Teilnehmer*innen nicht klein, aber auch nicht besonders groß. Die Frage steht im Raum was passieren wird, wenn die GEAS-Reform kommendes Jahr tatsächlich endgültig verabschiedet wird.
*Anmerkung der Autorin: Schwarz wird groß geschrieben, weil damit ein soziales Konstrukt, keine (Haut-)farbe beschrieben wird.
Beitragsbild: Jessica Dietz