Die Kupferblau eröffnete am dritten März ein Forum, um Erfahrungen über prägende Erlebnisse von Sexismus, patriarchale Strukturen und Unterdrückung in Tübingen zu teilen. Die geschilderten Vorfälle sind dabei aber keine Einzelschicksale, sondern Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Eine Einordnung der Tübinger-Ereignisse, die meist verborgenen bleiben.
Triggerwarnung: Dieser Artikel thematisiert sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt.
Aufbau des Forums und Auswertung
Das anonyme Forum sollte die Möglichkeit geben, in Form von Textantworten, seine Erfahrungen zu teilen. 66,7% der Einsendungen kamen von weiblich gelesenen Personen. 25% von männlich gelesenen und 8,3% von divers gelesenen Personen. Das Alter der Teilnehmenden lag zwischen 18 und 31 Jahren. Studierende bilden mit 75% der Einsendungen die Mehrheit, während Nicht-Studierende 25% der Einsendungen darstellen.
Einblicke und Strukturierung
Die geteilten Erfahrungen sind Ausdruck tiefgreifender persönlicher Erlebnisse. Um diesen Berichten gerecht zu werden und ihre strukturelle Dimension sichtbar zu machen, wird die Kupferblau die Antworten in inhaltliche Kategorien einordnen. Diese Kategorisierung dient nicht der Vereinfachung oder Distanzierung, sondern soll verdeutlichen: Die geschilderten Vorfälle sind keine Einzelschicksale, sondern Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Problems – sie geschehen nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb patriarchaler Strukturen, die Gewalt und Übergriffe begünstigen oder ermöglichen. Mit dieser Einordnung soll nicht Individualität und Emotion geschmälert werden, sondern der Blick auf das größere Muster gelenkt werden – um Verantwortung nicht nur bei Einzeltätern (und hier wird bewusst nicht gegendert) zu suchen, sondern bei den Strukturen, die solche Erfahrungen immer wieder ermöglichen.
Gender-Bias in der Forschung
Obwohl Frauen etwa die Hälfte der wissenschaftlichen Arbeitskräfte ausmachen, sind nur ein Drittel der Autorennamen auf Studien weiblich. Laut einer Studie der Fachzeitschrift Nature, die sich auf die Daten von fast 10.000 Arbeitsgruppen an 77 US-amerikanischen Universitäten und Hochschulen stützt, haben Frauen bei gleicher Arbeit und Qualifikation rund 13% weniger Chancen, bei einer Publikation genannt zu werden. Besonders in hochrangigen Fachzeitschriften oder bei Patenten ist der Unterschied noch größer. Das liegt nicht daran, dass Frauen weniger forschen – sondern daran, dass ihre Beiträge häufig übersehen oder nicht anerkannt werden. Viele Forscherinnen berichten zudem, dass sie aus Veröffentlichungen rausgelassen wurden, obwohl sie mitgearbeitet haben.
Die Studienleiter*innen betonten aber, dass sie hinter dem Phänomen keinen „bösen Willen“, sondern ein strukturelles Problem sehen, dass in der Wissenschaft nicht klar geregelt wäre, wer Anerkennung bekommt.

Die Befunde der Universität Wien aus dem Jahr 2020 sprechen jedoch eine eindeutigere Sprache: Frauen seien in vielen Bereichen der akademischen Karriere systematisch benachteiligt. So zeigt sich etwa, dass Frauen in der entscheidenden Phase ihrer wissenschaftlichen Laufbahn – fünf bis zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung – durchschnittlich 18 % weniger publiziert werden als Männer. Selbst bei identischer Qualifikation und Arbeit werden sie seltener als Autorinnen genannt, insbesondere in hochrangigen Fachjournalen. Belegt wurde der Genderbias durch ein Experiment in dem identische Konferenzbeiträge zufällig männlichen oder weiblichen Namen zuordneten und anschließend von Nachwuchswissenschaftler*innen beurteilt wurden. Arbeiten mit männlich klingenden Autorennamen wurden systematisch als qualitativ hochwertiger bewertet.

Auch Empfehlungsschreiben reproduzieren Stereotype: Während Männer als „exzellent“ oder „führungsstark“ beschrieben werden, ist bei Frauen häufiger von „Fleiß“ oder „Hilfsbereitschaft“ die Rede. Ein weiterer Befund der Studie betrifft die Vergabe von Forschungsgeldern: Wenn nicht nur das Projekt, sondern auch die Person bewertet wird, erhalten Männer signifikant häufiger Fördermittel als Frauen. Hinzu kommt, dass Frauen ihre fachliche Kompetenz häufiger neu unter Beweis stellen müssen, während Männer von einem Vertrauensvorschuss profitieren. Der Zugang zu Netzwerken, sichtbaren Positionen und Leitungsfunktionen bleibt so weiterhin stark geschlechtsabhängig – mit langfristigen Folgen für die wissenschaftliche Laufbahn von Frauen.
Fehlendes Sicherheitsgefühl bei Frauen
Neben dem Gender-Bias in der Forschung zeigt die SiKD Studie aus dem Jahr 2020, dass knapp jede zweite Frau in Deutschland (40,7 %) nachts die Wohnung nicht verlässt. Mehr als jede zweite Frau (51,7 %) meidet nachts die öffentlichen Verkehrsmittel. Die laut der Studie am häufigsten getroffenen Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz vor Kriminalität sah bei Frauen folgendermaßen aus: Sechs von zehn Frauen (57,9%) vermeiden bestimmte Orte bei Nacht wie Straßen, Plätze oder Parks, ähnlich sieht es dabei aus (58,5%) nachts fremden Personen aus dem Weg zu gehen. Und etwa jede zweite Frau (42,2%) lässt ihre Wohnung oder ihr Haus während der Abwesenheit bewusst bewohnt wirken, um sich vor potenzieller Gefahr zu schützen. Die Zahlen sind beunruhigend und zeichnen ein klares Bedürfnis nach Sicherheit, insbesondere bei Nacht.


Sexuelle Belästigung
Laut dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend erlebt jede dritte Frau in Deutschland im Laufe ihres Lebens mindestens einmal körperliche oder sexualisierte Gewalt. Sicher vor sexueller Belästigung sei man als Frau in keinem Bereich des öffentlichen Lebens. Die gfs.bern fand heraus, dass die meisten sexuelle Belästigungen auf der Straße (56% der Frauen, die belästigt wurden) oder im öffentlichen Verkehr (46%) stattfinden. Häufiger als am Arbeitsplatz (33%) erleben Frauen sexuelle Belästigungen in Bars oder Clubs (42%). Etwas sicherer sind Frauen zuhause dort erlebten „nur“ 22% der Frauen sexuelle Belästigung. Viele Betroffene sexueller Belästigung zögern Anzeige zu erstatten. Einerseits weil die Opfer meist überrumpelt werden und anderseitseine, weil Strafverfolgung schwierig und Täter meist nicht verurteilt werden.



Sexualisierte Gewalt
Seit der Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 2016 gilt in Deutschland das sogenannte „Nein heißt Nein“-Prinzip, geregelt in § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). Demach ist eine sexuelle Handlung strafbar, wenn sie gegen den erkennbaren Willen einer Person vorgenommen wird. Das heißt: Wer „Nein“ sagt – verbal oder durch Abwehrverhalten (weinen, sich körperlich wehren)–, darf nicht übergangen werden. Doch diese Regelung hat gravierende Lücken. Denn: Wer in einer Schockstarre erstarrt, zu verängstigt ist, sich nicht wehrt oder einfach nichts sagt, ist oft nicht geschützt. In solchen Fällen wird oft argumentiert, dass man nicht erkennen konnte, dass die Person das nicht wollte.

Der deutsche Juristinnen Bund sieht dieser Lücke kritisch entgegen und genau hier setzt das „Nur Ja heißt Ja“-Modell an: Es kehrt die Perspektive um. Statt dass das Opfer seinen Gegenwillen beweisen muss, muss die andere Person sich aktiv vergewissern, ob Zustimmung vorliegt. Kein „Ja“ – kein Sex. Damit würde das Strafrecht besser mit der Realität vieler Betroffener übereinstimmen. Außerdem entspricht „Nur Ja heißt Ja“ den Anforderungen der Istanbul-Konvention – einem internationalen Abkommen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, dem Deutschland verpflichtet ist. Es stellt sich also die Frage, warum liegt in Deutschland nicht das „Nur Ja-heißt ja Modell” vor?
„Nur Ja heißt Ja“
Im März 2022 legte die Europäische Kommission einen Entwurf für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vor. Ein zentraler Bestandteil war die Einführung des „Nur Ja heißt Ja“-Prinzips. Dieses definiert fesexuelle Handlungen nur bei ausdrücklicher Zustimmung als einvernehmlich. Allerdings blockierte Deutschland unter der Leitung des damaligen Bundesjustizministers Marco Buschmann (FDP) die Zustimmung zu diesem Punkt der Richtlinie. Buschmann argumentierte, dass die EU keine rechtliche Zuständigkeit habe, um eine solche Regelung im Strafrecht zu erlassen. Der Katalog der EU-Straftaten umfasst besonders schwere, häufig grenzüberschreitende Kriminalität – darunter Terrorismus, Geldwäsche und Menschenhandel. Vergewaltigung steht jedoch nicht auf dieser Liste. Buschmann berief sich auf ein Papier des EU-Rates, das besagt, dass die EU keine Kompetenz habe, eine einheitliche Regelung für Vergewaltigung einzuführen.

Kritiker*innen der Entscheidung Buschmanns weisen darauf hin, dass es durchaus möglich gewesen wäre, das „Nur Ja heißt Ja“-Prinzip auf EU-Ebene umzusetzen. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament stützten sich dabei auf Artikel 83 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der es der EU erlaubt, Mindestvorschriften zur Definition von Straftaten und Sanktionen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension festzulegen. Sexualisierte Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, wird in diesem Kontext als solche Kriminalität angesehen.
Zudem haben vierzehn Mitgliedstaaten bereits nationale Gesetze eingeführt, die auf dem Prinzip der ausdrücklichen Zustimmung basieren. Zudem hat die EU die Istanbul-Konvention ratifiziert, die eine solche Definition von Vergewaltigung vorsieht. Dieser Tatbestand lässt bei Kritiker*innen Zweifel aufkommen, ob die Sicherheit von Frauen als Priorität in Deutschland betrachtet werde.

Männliche Wut – Das „feministische Paradoxon“
Wenn sich der ein oder anderer Leser gewundert hat, warum bisher noch kein männlich-gelesener Beitrag eingeblendet wurde, nun das liegt daran, dass wir von ihnen keine Erfahrungsberichte erhalten haben. Stattdessen sahen die Kommentare so aus:


Laut der Ipsos glauben 45% der deutschen Männer (das ist jeder Zweite), dass die Gleichstellung von Frauen so weit gefördert wurde, dass Männer nun diskriminiert werden. Diese Einschätzung ist jedoch ein Trugschluss. Es gibt kein Feld in dem Männer aufgrund ihres Geschlechts einen Nachteil erfahren. Was sich jedoch laut des Bundesministerium des Inneren und für die Heimat beobachten lässt, ist ein Anstieg der Rate bei häuslicher Gewalt. Innerhalb der letzten fünf Jahre, zwischen 2017 und 2021 ist die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt in Partnerschaften um 3,4 % gestiegen – von 138.893 auf 143.604 Fälle. Der Großteil der Opfer sind Frauen: 80,3 % (das sind rund 115.342 Frauen im Jahr 2021). Trotz eines leichten Rückgangs im Jahr 2021 zeigt die langfristige Entwicklung einen kontinuierlichen Anstieg.
Einige Expertinnen und Experten sehen in diesem Anstieg einen möglichen Zusammenhang mit dem sogenannten „feministischen Paradox“. Das Konzept beschreibt die Beobachtung, dass Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter auf Widerstand stoßen können, insbesondere von Männern, die sich durch den Verlust traditioneller Rollen verunsichert fühlen. Diese Verunsicherung kann sich in Form von Gewalt äußern, wenn Männer versuchen, Kontrolle zurückzugewinnen.
Was tun – ein Ausblick
Wir möchten uns zunächst als Redaktion, bei all denen bedanken, die uns ihr Vertrauen geschenkt haben und ihre Erfahrungen geitelt haben.
Das allein mit Worten der Status-quo nicht geändert werden kann steht außer Frage. Jedoch können Worte Sichtbarkeit auf diese Problematik lenken. Die Infantilisierung, Belästigungen und Gewalt gegen Frauen sind allgegenwärtig und sollten in Tübingen einen Diskurs anstoßen. Es greift zu kurz, Täter als Monster fernab der eigenen Lebensrealität zu sehen. Denn Gewalt und Machtmissbrauch geschehen oft durch vertraute Personen und in alltäglichen Strukturen. Umso wichtiger ist es, Opfern zuzuhören, ihre Ängste und Erfahrungen ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass Benachteiligung – etwa in der Wissenschaft – nicht individuelles Versagen ist, sondern oft Folge systemischer Ungleichheit.

Niemand der unter den Strukturen leidet, sollte alleine stehen. Wenn ihr euch in einem dieser Beiträge wiedererkennt, gibt es folgende Hilfsangebote, an die ihr euch wenden könnt: In schwierigen Lebenslagen können sich Betroffene an die Telefonseelsorge melden: 0800 1110111, 08001110222, 116123. Das Hilfstelefon für Frauen ist ein bundesweites Netz bei dem Betroffene von Gewalt rund um die Uhr melden können: 116 016. Im Falle des sexuellen Missbrauchs wendet euch an die 0800 22 55 530. Bei weiteren Fragen und Beratungsnachfragen kann man sich auch an das Frauenhaus-Tübingen wenden.
Beitragsbild: Suzy Hazelwood (Pexels)
Sehr guter Beitrag. Ich finde es schön, zu beobachten, wie sich die Kupferblau weiterentwickelt und hier Leuten die Möglichkeit gegeben wird, von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten und so eventuell auch andere zu ermutigen.
Es gibt jedoch eine Sache an einer Stelle, die man, glaube ich, ergänzen bzw. korrigierend einordnen muss: “Es gibt kein Feld, in dem Männer aufgrund ihres Geschlechts einen Nachteil erfahren.” Ich verstehe die Intention hinter dem Satz, gerade im Kontext relativierender Rückmeldungen, es gibt allerdings mit dem Bildungssektor mittlerweile tatsächlich ein Feld, in dem Unterschiede zwischen Männer und Frauen bzw. Jungen und Mädchen zuungunsten ersterer ausfallen.
Bei der Geschlechterzusammensetzung von Abiturienten sehen wir mittlerweile einen deutlichen Geschlechterunterschied und auch was Studierende angeht, überwiegen Frauen bislang zwar nur leicht, jedoch bereits deutlich, wenn man sich speziell die Zusammensetzung der Studierendenschaft an Universitäten (und damit der de facto prestigeträchtigsten Hochschulart) anschaut.
Das relativiert nichts von dem hier geschilderten, vor allem die starke Benachteiligung von Frauen in den MINT-Fächern oder der Forschung und nimmt auch noch lange nicht solch extreme Ausmaße wie dort an. Es passiert aber auch nicht in einem Vakuum und ist vor allem auch ein sehr schichtspezifisches Phänomen, weshalb ich glaube, dass es gerade für Leute, die selber aus der akademischen Blase kommen bzw. sich seit langem nur noch dort aufhalten, auch nicht wirklich greifbar ist und auch daher leicht übersehen werden kann.