Politik

Nawalny: Requiem für einen zweischneidigen Helden

Am Dienstagabend zeigte das Kino Museum aus traurigem Anlass einen Film, der leider zu gut in die Zeit passt, in der wir leben: Nawalny. Zu der Vorstellung der Oscar-prämierten Dokumentation über den russischen Dissidenten waren auch zwei ehemalige Mitglieder seines Stabes geladen, die seit ihrer Flucht aus Russland im Kreis Tübingen leben.

„Welche Botschaft,“ beginnt der CNN-Journalist, „würdest du dem russischen Volk hinterlassen wollen, solltest du getötet werden?“ Nawalny lacht. „Ach, komm schon!“ So beginnt die Dokumentation über das Leben von Alexei Nawalny, die am Dienstagabend im Kino Museum gezeigt wurde. Der Film handelt von dem Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker im August 2020. Dass es nochmal soweit kommen könnte, daran wollte er zum Zeitpunkt des Interviews offenbar nicht denken.

Eröffnet wird die Veranstaltung von Prof. Klaus Gestwa, der, bevor der Film losgeht, über das Werk eines Mannes spricht, der viel erlebt hat. Von Beruf Jurist war Nawalny schon lange politisch aktiv. Vor allem eins wollte er sein, und zwar ein Dorn im Auge von Putin und seinen Oligarchen. Dafür hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt.

Eine zweifelhafte Ikone?

Eins wird Nawalny immer wieder vorgehalten: Seine Kooperation mit Nationalist*innen und sein „Fischen am rechten Rand“ in den Anfängen seiner politischen Laufbahn. Es stimmt, dass Alexei Nawalny nicht nur einmal mit Nazis marschiert ist, das gibt Gestwa zu. Auch ein Video, von Nawalny selbst produziert, in dem er muslimische, georgische und zentralasiatische Einwanderer mit Kakerlaken vergleicht, ist häufig ein Stein des Anstoßes. „Nawalny hat sich überall unbeliebt gemacht,“ erzählt Gestwa. Aufgrund dieser „geschmacklosen Aussagen“ sei er für die Liberalen zu einem Hetzer und Rassisten geworden, während die Putin-Treuen ihn aufgrund seines Aktivismus ohnehin für einen Vaterlandsverräter hielten. Später hat Nawalny Stellung zu den Aussagen bezogen, bezeichnete sie als falsch. Der Grund, warum man ihm jedoch vergeben hat, liegt wohl viel eher an einer Veränderung der Umstände in Russland, denn nach und nach war Nawalny der einzige Mensch geworden, der es noch gewagt hatte, sich Putin entgegenzustellen.

Die Veranstaltung fand im Kino Museum statt. Bild: Max Maucher

Auch in der Dokumentation wird Nawalny mit dieser Frage konfrontiert. „Wenn ich etwas Gutes für das Land tun will,“ antwortet er entschlossen, „muss ich pragmatisch vorgehen. Unter normalen Umständen wäre ich nie in derselben Partei wie solche Leute. Aber wir müssen ein breiteres Bündnis bilden, um das Regime zu bekämpfen, um zu einer Situation zu gelangen, in der jeder an Wahlen teilnehmen kann. […] Wir leben in einem Land, in dem es normal ist, politische Gegner einfach umzubringen. Deswegen ist es okay für mich, mich mit Leuten zusammenzusetzen, deren Aktivismus mich, na ja, nicht sehr gut aussehen lässt.“

Der Film, federführend durch den US-Sender CNN produziert, beginnt. Basis für die Dokumentation ist eine Reihe Interviews, die das Journalistenteam mit Nawalny geführt hat, und die Aufnahmen, die entstanden, während sie ihn und seine Familie während seiner Zeit in Baden-Württemberg begleiteten, in der er sich von dem Giftanschlag 2020 erholte.

Putin zeigt sein hässliches Gesicht

Am 20. August befand sich Alexei Nawalny auf einem Flug von Tomsk (Sibirien) nach Moskau, auf dem er plötzlich das Bewusstsein verlor. Hiermit beginnt die Handlung des Films. Man sieht verwackelte Handy-Aufnahmen, wie Russlands Staatsfeind Nr. 1 schreiend aus dem Flugzeug getragen wird, das in Omsk, ebenfalls Sibirien, notgelandet war. Hier beginnt bereits das Drama. Dass Nawalny vergiftet worden war, schien ihm und seiner Familie eine naheliegende Erklärung. Das sahen die russischen Medien jedoch anders. Von Kokain, Heroin, Schwarzgebranntem und sogar Homosexualität war die Rede, auch wenn unklar war, was letzteres mit Nawalnys Bewusstseinsverlust zu tun haben soll. Mehrere Tage wurde Nawalny in dem Krankenhaus festgehalten, bis man ihm erlaubte, nach Deutschland auszureisen, wo er in der Berliner Charité behandelt wurde.

Putin hat viele Gegnerinnen und Gegner im eigenen Land. Bild: Valery Tenevoy auf Unsplash

Die Diagnose lautete schließlich: Nowitschok. Ein Nervengift, das der Kreml schon mehrfach benutzt hatte, um politische Gegnerinnen und Gegner auszuschalten. Als Nawalny dies erfuhr, musste er jedoch zuerst schmunzeln. „Sind die bescheuert?“ sagt er lachend. „Vergiftet? Das ist so dumm, dass es schon wieder schlau ist,“ witzelt er über den Anschlag auf seine Person. Kurz nach seiner Behandlung beschloss Nawalny, einige Monate mit seiner Familie im Schwarzwald zu verbringen, um sich ordentlich auszukurieren, bevor er wieder nach Russland zurückkehrte.

Ein regelrechter Krimi

Nun kommt ein Mann ins Spiel, der dem Film Spannung verleiht. Man wünscht sich fast, es handle sich um einen Krimi, und nicht um eine wahre Geschichte. Christo Grosew ist ein in Wien ansässiger bulgarischer Investigativournalist, der mit seinem Recherchenetzwerk Bellingcat beschloss, sich dem Fall anzunehmen. Der adrett gekleidete Herr wird von CNN in einem Wiener Kaffeehaus interviewt, als er über den Fall spricht: Ihm sei bewusst gewesen, dass es in Russland keine Ermittlungen zu dem Fall geben würde. Aber irgendjemand müsse es ja tun.

Hier nimmt der Film Fahrt auf. Grosew erklärt, dass es nicht unmöglich sei, herauszufinden, wer Nawalny vergiftet hat. Es sei ihm aus einer vorherigen Recherche bekannt, dass es nur ein einziges Unternehmen in Russland gebe, das Nowitschok herstellt: Das Signal-Institut. Daher habe man einen Ausgangspunkt für die Recherche. Auf dem Schwarzmarkt kaufte er mit Bitcoin sowohl eine Liste mit den Namen und persönlichen Daten der zwölf Wissenschaftler, die im Signal-Institut mit der Herstellung chemischer Waffen betraut waren, als auch eine Anrufliste mit Telefonaten, die diese zwölf Männer in den Tagen vor dem Giftanschlag durchgeführt hatten. Grosew sagt, dass die Löhne in Russland niedrig seien, daher sei es einfach, für wenige hundert Euro sensible Daten von Mitarbeitenden verschiedener Unternehmen und Behörden zu erstehen.

Der nach der Schließung des gleichnamigen Kinos zu „Arsenal“ umbenannte Saal im Kino Museum war nahezu voll besetzt. Bild: Max Maucher

Durch einen Abgleich der Daten mit anderen Informationen, zum Beispiel von der russischen KfZ- und der Passbehörde konnte er die Liste der Verdächtigen auf einige Namen reduzieren. Zuletzt griff er auf dem Schwarzmarkt Passagierlisten von Flügen ab, die am Tag vor Nawalnys Vergiftung von Moskau nach Nowosibirsk in Sibirien geflogen waren, die Stadt, in deren Nähe die Vergiftung stattgefunden hatte. Übrig blieben vier Namen: Einer dieser vier Männer musste Nawalny vergiftet haben.

Alle Karten auf dem Tisch

Grosew reiste nach Baden-Württemberg, um mit Nawalnys Unterstützung zu entschlüsseln, wer der Täter sei. Der Kreml-Kritiker verbrachte dort einige Monate mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Dort fühlten sie sich sicher vor dem langen Arm des Regimes. Die Kamera zeigt Nawalny mit seiner Frau Julia beim Füttern eines Esels und eines Ponys auf einem Feld nahe deren Wohnung.

Schließlich kamen sie auf eine verrückte Idee. Nawalny selbst rief bei den vier Männern an. Als der erste abnahm, meldete er sich: „Hallo, hier ist Nawalny. Warum haben Sie mich vergiftet?“ Der Mann legte sofort auf. Auch die nächsten zwei Anrufe verliefen wie der erste, daher wechselten sie die Strategie: Beim letzten Anruf gab sich Nawalny als Mitarbeiter eines Beraters von Präsident Putin aus, der von dem Verdächtigen wissen wollte, was bei dem Anschlag schiefgelaufen sei und warum Nawalny noch am Leben sei. Eine Aktion, die an Waghalsigkeit kaum zu übertreffen ist. Zur Überraschung von Nawalny, dessen Familie und Grosew packte der Mann komplett aus. Zunächst skeptisch, erzählte er, dass Nawalny vergiftet worden sei, indem man das Gift im Hotel an den Nähten seiner Unterhose verteilt hatte, und dass es bedauerlich sei, dass sein Flug nach Moskau so schnell notgelandet sei. Denn wäre das Flugzeug länger in der Luft geblieben, wäre Nawalny noch an Bord gestorben.

Grosew und Nawalny konnten ihr Glück kaum fassen. Der mutmaßliche Attentäter hatte ihnen alles preisgegeben, was sie wissen wollten. Mithilfe von CNN, des Spiegels und der spanischen Zeitung El País wurde die Nachricht so schnell es ging verbreitet. Auch für ein TikTok-Video auf dem Kanal seiner Tochter war Nawalny zu haben. In Russland schlug die Enthüllung hohe Wellen. Als Lüge und als Fake wurde das Video abgetan, und Nawalny wurde Aufmerksamkeitsgier bescheinigt. Dennoch beschloss dieser, so schnell wie möglich in sein Heimatland zurückzukehren, das ihn brauchte.

Keine Angst haben …

Wenig überraschend wurde Nawalny direkt nach der Landung am Moskauer Wnukowo-Flughafen festgenommen. Es folgte ein langwieriger Prozess, an dessen Ende Nawalny in die Strafkolonie Polarwolf verlegt wurde, in der er diesen Monat verstarb, womöglich ermordet durch einen Schlag aufs Herz, eine klassische KGB-Technik, so mutmaßt die britische Times.

„Gebt nicht auf,“ sagt Nawalny schlussendlich auf die Frage des CNN-Journalisten, welche Nachricht er im Falle seines Todes hinterlassen möchte. „Wenn sie mich töten, bedeutet das, dass wir unglaublich stark sind.“ Dann fügt er noch einen Satz hinzu: „Alles, was für den Triumph des Bösen notwendig ist, ist die Untätigkeit des Guten.“ Schnitt. Film Ende.

Geladen waren auch zwei ehemalige Mitarbeitende des Nawalny-Teams: Julia Morozow (Mitte) und Sergei Oskolkow (rechts von ihr). Bild: Max Maucher

Es ist kein Wunder, dass der Film über Nawalnys Leben in den USA entstand. Sein Leben ist im Grunde eine Real-Life-Hollywood-Geschichte: Eine Tragödie, eine Liebesgeschichte, dramatische Wendungen und ein mit einer ordentlichen Portion Coolness untermalter, charismatischer und gutaussehender Held, der den düsteren Gegner in die Knie zwingt. Nur ein Happy End konnte Nawalny dem US-Filmteam nicht bieten. Das macht seinen Tod zu einer solchen Tragödie. Nicht nur für ihn, sondern für das ganze russische Volk.

Nach seinem Tod verhallt Nawalnys Appell nicht in der Stille, denn nach dem Film folgt noch eine kurze Fragerunde mit Julia Morozow und Sergei Oskolkow. Die ehemaligen Mitarbeitenden des Teams Nawalny leben seit ihrer Flucht im Kreis Tübignen. Morozow stammt aus Rostow am Don und Oskolkow aus Tjumen in Sibirien. Für sie hat der Kampf gegen Putin gerade erst begonnen, das merkt man ihnen an.

… und vor allem: Nicht aufgeben

„Vor kurzem wollte ich einen Brief an einen politischen Häftling in Russland schreiben,“ erzählt Julia Morozow. Sie schrieb zuerst dessen Sohn, um die Adresse ausfindig zu machen. Er schrieb ihr zurück und bat sie, das nicht zu tun. Sollte ein Brief aus Deutschland für seinen Vater in dem Straflager ankommen, würde dieser erst recht als Vaterlandsverräter gelten. Sie erzählt von dem Klima der Angst, das Russland inzwischen regiere.

Putin habe Russland komplett gleichgeschaltet. Den Rechtsstaat gibt es nicht mehr und die Brutalität des Putin-Regimes greift immer mehr um sich. Christo Grosew ist inzwischen in die Vereinigten Staaten ausgereist, da die österreichischen Behörden nicht mehr garantieren konnten, ihn vor einem Anschlag auf sein Leben durch den russischen Geheimdienst beschützen zu können.

„Wir haben schon Angst vor unseren eigenen Schatten.“

Julia Morozow

Daher appelliert sie an die deutsche Regierung, nicht in ihrer Unterstützung für die Ukraine nachzulassen. Putin dürfe nicht gewinnen. „Dieser Mensch, den ich eigentlich nicht als Menschen bezeichnen möchte, sollte aus dieser Welt verschwinden,“ sagt Morozow. „Wir haben schon Angst vor unseren eigenen Schatten.“

Doch das ist nicht alles. Auf die Frage, ob Deutschland mehr Putin-kritischen Russinnen und Russen den Weg nach Deutschland erleichtern sollte, antwortet Oskolkow, dass es vor allem wichtig sei, Menschen mit Know-how aus Russland abzuziehen. Vor kurzem habe der ehemalige Schachweltmeister und Kreml-Kritiker Garri Kasparow auf einer Konferenz in Litauen gesagt, es müssten 1500 Fachleute in den Bereichen Waffen- und Kriegsindustrie aus Russland abgezogen und in Europa integriert werden. Diese Zahl würde helfen, Russland zu schwächen und Europa zu stärken.

„Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, diesen Krieg als Routine hinzunehmen,“ hat Julia Morozow noch hinzuzufügen. „Denn je länger der Krieg geht, desto mehr wird Putin glauben, dass er ihn gewinnen kann.“

Übrigens: Der Film kann auf dessen offizieller Website kostenlos angesehen werden.

Beitragsbild: Mitya Aleshkovsky auf Flickr (CC BY-SA 2.0)

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