Krisen, Weltschmerz und Leistungsdruck – Viele Studierende sind zurzeit psychisch belastet, doch die Suche nach Hilfe verläuft selten einwandfrei. Egal, ob es um ein Beratungsgespräch oder einen Therapieplatz geht, Hilfesuchende müssen sich häufig auf lange Wartezeiten einstellen. Ein Psychotherapeut und eine Betroffene berichten über die Lage in Tübingen.
Vor zwei Jahren brach Selina ihr Semester ab. Viele Probleme kamen zusammen – im Alltag stresste sie das Studium, die Wohnungssuche und monatelanges Warten auf BAföG. Außerdem hat ihre schwierige Kindheit langfristige Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit gehabt. Selina brauchte wieder dringend Psychotherapie, um die Probleme weiter aufzuarbeiten und wieder Kraft für das Studium zu gewinnen.
Jedoch hat es mehrere Monate gedauert, um einen Platz zu finden. Davon suchte sie fast zwei Monate aktiv jeden Tag – über die Datenbank von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, über den ärztlichen Bereitschaftsdienst 116 117 und sogar mithilfe von beschilderten Haustüren der Praxen. Die Suche in erschöpfter und depressiver Verfassung kostete sie Unmengen an psychischer Energie.
Die Lage bundesweit
Selina ist nicht die einzige. Im Durchschnitt beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz in Deutschland fünf Monate. Mit der Zeit können psychische Krankheiten, genau wie somatische, verschlimmert und schwieriger heilbar werden. Psychisch erkrankte Menschen sind im Durchschnitt 34,7 Tage krankgeschrieben, so ein DAK-Report aus dem Jahr 2017. Vor allem seit der Corona-Pandemie sind die Fälle von psychischen Erkrankungen erhöht.
Die Ursache des Problems findet sich bei den Kassensitzen. Es gibt eine geregelte Anzahl von Kassensitzen, die von Psychotherapeut*innen verkauft und abgekauft werden. Je nach Arbeitszeit gibt es volle und halbe Kassensitze. Die Anzahl ist seit 1999 kaum erhöht worden, obwohl die Nachfrage über die Jahre deutlich gestiegen ist. Vor allem in den ländlichen Regionen gibt es Engpässe.
Der von der Bundesregierung beauftragte Gemeinsame Bundesausschuss legt die Anzahl der Kassensitze fest. Die im Gremium vertretenen Krankenkassen sind gegen eine Erhöhung. Sie befürchten hohe Kosten und schlagen vor, das System effizienter zu gestalten oder die freien Plätze mit einer zentralen Vermittlung transparent zu machen. Allerdings wird laut der Bundespsychotherapeutenkammer durch psychische Erkrankungen jährlich drei Milliarden Euro Krankengeld bezahlt, wobei die Kosten für zusätzliche Kassensitze nur 150 Millionen Euro betragen würden. Außerdem bieten viele Psychotherapeut*innen mit vollen Kassensitzen nur das Minimum der zur Verfügung gestellten Stunden, da sie sonst bis zu 60 Therapiestunden pro Woche anbieten müssten. Ein weiterer Lösungsansatz wäre also, dass sie für die übriggebliebenen Stunden weitere Psychotherapeut*innen anstellen dürften. Trotz des Koalitionsvertrags der Bundesregierung mit Versprechen für Kürzung der Wartezeiten sowie mehrerer Petitionen an die Politik hat sich noch wenig verändert.
Die Lage an der Psychotherapeutischen Beratungsstelle
Auch bei der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks Tübingen-Hohenheim ist die Nachfrage seit letztem Jahr um 25 % gestiegen, so der Psychotherapeut und Leiter der Beratungsstelle Stefan Balz. Letztes Jahr waren es 803 Studierende, die die Angebote genutzt haben. Zurzeit beträgt die Wartezeit für den ersten Termin durchschnittlich fast drei Monate.
Die Beratungsstelle bietet kostenlose Termine für Studierende, diese Beratungsgespräche ersetzen aber keine Therapie. Neben Deutsch wird Beratung auch auf Englisch und Französisch angeboten. Zusätzlich gibt es jeden Dienstagmittag eine offene Sprechstunde für 25 Minuten pro Gespräch ohne vorherige Terminvereinbarung. Die fünf größten Ursachen laut des Anmeldebogens sind depressive Verstimmung, Stressbewältigungsprobleme und Erschöpfung, Ängste, Identitäts- und Selbstwertprobleme sowie Lern- und Arbeitsstörungen. Zusätzlich leiden vor allem internationale Studierende oft unter sozialem Ausschluss. 25 % der Studierenden wird bei der Beratungsstelle empfohlen, sich Psychotherapie zu suchen.
Auch laut Balz sei die Bedarfsplanung der Praxen nicht realistisch. In Tübingen gebe es 130 psychotherapeutische Praxen mit einem Kassensitz, was ein Vielfaches im Vergleich zu anderen Orten sei, aber trotzdem der Nachfrage nicht entspräche und auch die Kunden von weiter weg miteinbeziehe. Das Sparen an den Kassensitzen nennt er kurzsichtig.
Was ist wichtig bei der Suche?
Laut Selina ist es wichtig, dass Psychotherapie eine Art von „Safe Space“ ist: Man darf aus der Sitzung eher mit einem guten Gefühl herauskommen als mit einem schlechten. Ihre erste Psychotherapeutin hatte ihre Probleme kleingeredet und trivialisiert, ihre jetzige Therapeutin nennt das unprofessionell. „Der Psychotherapeut sollte einem kein schlechtes Gefühl geben, wenn man sich über eigene Fehler öffnet.“ Ein anderer Psychotherapeut wollte ihr direkt Antidepressiva verschreiben, was Selina aber nur im Notfall annehmen würde. Zusätzlich sei es wichtig anzuerkennen, dass die Aufarbeitung der Probleme nicht über Nacht läuft, sondern Arbeit über einen längeren Zeitraum darstellt.
Auch Balz hebt die Chemie zwischen Psychotherapeut*innen und ihren Patient*innen hervor, sodass man sich möglichst einfach über die eigenen Gedanken öffnen kann, was zudem den Ablauf der Psychotherapie begünstigt. Dafür darf man mit mehreren Psychotherapeut*innen bis zu vier Erstgespräche vereinbaren. Außerdem sei es wichtig, sich über die verschiedenen Therapieformen wie Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zu informieren. Sich Hilfe zu suchen ist wichtig, vor allem wenn man selbst durch eigenständige Versuche keine Lösung findet. Es ist immer besser früher als später zu kommen, auch für die Lösung der Probleme.
Bei Selina haben vor allem Meditation und Yoga viel geholfen. Außerdem macht sie Spaziergänge und schreibt ihre rasenden Gedanken auf. „Man braucht keine Angst zu haben, dass man in der Psychotherapie einen Platz von jemandem anderen wegnimmt – die Profis wissen, wie sie die Zeit für jeden Patienten so einteilen, dass es den Problemen gerecht wird und keine Zeit von anderen weggenommen wird.“
Es gibt mehrere niederschwellige Anlaufstellen für psychisches Wohlergehen in Tübingen:
Die psychotherapeutische Beratungsstelle vom Studierendenwerk
- Friedrichstraße 21
- telefonisch unter 07071 / 253960
- Webseite: https://www.my-stuwe.de/beratung-soziales/psychotherapeutische-beratung/#nav-kontaktaufnahme.
Psychologische Beratungsstelle der Diözese Rottenburg-Stuttgart
- Brückenstraße 6
- telefonisch unter 07071 / 92990
- Email: info@pbs-brueckenstrasse.de
Nightline Tübingen
- 07071 / 8895440
- Chat auf der Webseite https://nightline-tuebingen.de/
Weitere Anlaufstellen sind auf der Internetseite der Universität aufgelistet: https://uni-tuebingen.de/studium/beratung-und-info/schwierigkeiten-im-studienverlauf/mental-health/#c1901003.
In akuten Notfällen wendet euch bitte an die Notfallambulanz des Universitätsklinikums telefonisch mit der 07071 29-82311 oder direkt vor Ort in der Calwerstraße 14 oder an den Notdienst 112.
Quellen:
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/psychotherapie-bedarf-anstieg-warteplaetze-100.html
https://www.emotion.de/gesellschaft/therapieplaetze-petition
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