Film Kultur

Von Schlangen und Singvögeln – Eine Rezension des „Die Tribute von Panem“ Prequels

Die Veröffentlichung des ersten Die Tribute von Panem Films im März 2012 markiert einen einschneidenden kulturellen Moment. Der rekordbrechende Erfolg des Kinofilms löste eine Welle dystopischer Filmadaptionen aus – keine prägte unsere Generation jedoch so wie die Trilogie um Katniss Everdeen. Basierend auf Suzanne Collins’ Romanvorlage, bringt Regisseur Francis Lawrence nun elf Jahre später ein Prequel auf die deutschen Leinwände. Auch im Tübinger Kino Museum ist The Ballad of Songbirds and Snakes zu sehen.

„Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Das behauptete der britische Historiker Lord Acton – und zumindest für den Protagonisten des Die Tribute von Panem Prequels, Coriolanus Snow, bewahrheitet sich dieser Aphorismus. Fans der Buch- und Filmreihe kennen Snow als den kaltherzigen, kalkulierten Präsidenten Panems. Das Mitte November in den deutschen Kinos erschienene Prequel The Ballad of Songbirds and Snakes stellt Coriolanus “Coryo” Snow (Tom Blyth) als ambitionierten, gespielt arroganten 18-Jährigen vor. Gemeinsam mit seiner Cousine Tigris (Hunter Schafer) und seiner Großmutter (Fionnula Flanagan) lebt er im einst luxuriösen, in der Nachkriegszeit jedoch heruntergekommenen, Zuhause der ehemals wohlhabenden Familie. Seiner prekären finanziellen Situation beabsichtigt Coriolanus mittels akademischer Exzellenz zu entkommen.

Um sein Studium finanzieren zu können, muss Coriolanus Snow (Tom Blyth) sich als Mentor gegen seine Klassenkameraden durchsetzen und den begehrten Plinth Price sichern. Bild: Metropolitan FilmExport

Als einer von 24 ausgewählten Schüler*innen der Elite-Akademie des Kapitols, wird Coriolanus beauftragt, die – zu diesem Zeitpunkt noch sehr unraffinierten – Hungerspiele in ein mediales Spektakel zu verwandeln. Keine einfache Aufgabe. Denn nur zehn Jahre nach Kriegsende geht die brutale kollektive Bestrafung der im Krieg Besiegten nicht nur den betroffenen Bewohner*innen der Distrikte, sondern auch jenen des Kapitols, unangenehm nahe.

Die Gamifizierung der Hungerspiele

Um das Schauerlebnis des Kapitols zu verbessern und die Desensibilisierung der Zuschauer*innen gegen die entmenschlichende Gewalt der Hungerspiele voranzutreiben, nutzt das Kapitol, neben klassischen Propagandatechniken, Strategien der Gamifizierung. Auf den Vorschlag Snows hin, setzt die hauptberufliche Spielmacherin und Misanthropin Dr. Volumina Gaul (Viola Davis) Anreize für Kapitol-Bürger*innen, sich als Sponsor*innen aktiv an den “Spielen” zu beteiligen.

Den Tributen steht es erstmals offen, sich vor Beginn der Hungerspiele bei einem Live-Interview zu präsentieren. Durch geschickte Selbstinszenierung soll es ihnen so möglich sein, die Aufmerksamkeit potenzieller Unterstützer*innen zu gewinnen. Die Mentor*innen, die ebenfalls erstmalig zum Einsatz kommen, können die Spenden des Kapitols nutzen, um ihren zugeteilten Tributen “Geschenke” in die Arena zu senden (bspw. lebenswichtiges Wasser, Essen, etc.). Coriolanus Snow betreut das Mädchen aus Distrikt 12 und findet in ihr eine unwahrscheinliche Verbündete.

(K)eine Liebesgeschichte

“You can’t take my past. / You can’t take my history. / You could take my pa, / But his name’s a mystery. / Nothing you can take from me was ever worth keeping.” Das ist die erste Strophe des Liedes, welches Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) vorträgt, nachdem sie als Tribut von Distrikt 12 ausgelost wird. Der Liedtext ist eine passende Vorstellung der freiheitsliebenden Covey Sängerin. Lucy Grays aufrührerische Performance erregt die Aufmerksamkeit des Kapitols – und die ihres Mentors Coriolanus Snow.

Coriolanus (Tom Blyth) sieht in Lucy Gray (Rachel Zegler) (nicht nur) ein Mittel zum Zweck. Bild: Metropolitan FilmExport

Entgegen Snows anfänglicher Erwartungen (und dank einiger Regelbrüche seitens Snows) überlebt Lucy Gray den Horror der Arena und kehrt in Distrikt 12 und zu ihrem Leben als musikalische Performerin zurück. Während einem ihrer Auftritte begegnet sie Coriolanus, der inzwischen zur Friedenswächter-Ausbildung in Distrikt 12 verpflichtet wurde, wieder. Ob man es Liebe nennen kann, was die beiden verbindet, ist fraglich. Insbesondere in der Buchvorlage von The Ballad of Songbirds and Snakes ist Snows pragmatische, besitzergreifende Einstellung gegenüber Lucy Gray unübersehbar. Ein gewisses gegenseitiges Verständnis teilt das ungleiche Paar dennoch. Als die Beziehung schließlich in paranoidem Misstrauen ein plötzliches Ende findet, schwört Coriolanus der Liebe ab und kehrt ins Kapitol zurück.

Ein Seil über einem Abgrunde

Trotz seiner privilegierten Geburt, eigennützigen Art und frühen dahingehenden Ambitionen, scheint Snow zunächst nicht zwangsläufig für den Lebensweg eines brutalen Diktators prädestiniert zu sein. Denn obwohl im Kapitol der Zugang zu bestimmten Informationen streng reglementiert ist und die mediale Berichterstattung nur sehr einseitige Darstellungen der Distrikte beinhaltet, besteht für Snow wiederholt die Chance, sein pessimistisches Welt- und Menschenbild zu revidieren. So ist Coriolanus’ Klassenkamerad Sejanus Plinth (Josh Andrés Rivera) beispielsweise kein gebürtiger Kapitol-Bürger. Der in Distrikt 2 aufgewachsene Junge scheut sich, trotz seines Außenseiter-Status, nicht, seine differenten Ansichten und Sympathien offen zu bekunden. Doch obgleich Coriolanus Sejanus gegenüber Freundschaft – oder zumindest Kameraderie – vorgibt, verachtet er insgeheim Sejanus’ Empathie für das Leid in den Distrikten und hält dessen gefestigten moralischen Kompass für irrsinnig und selbstdestruktiv. 

Lucy Gray (Rachel Zegler) hält trotz ihrer Erfahrungen in der Arena an einem positiven Menschenbild fest. Bild: Metropolitan FilmExport

Eine weitere Gelegenheit, die Humanität in den Bewohner*innen der Distrikte zu erkennen, bietet sich Snow während seines (unfreiwilligen) Aufenthalts in Distrikt 12. Für einen Augenblick – umgeben von Lucy Gray und ihrer Covey Familie, an einem sonnigen Tag – erwägt Coriolanus, ob es genug wäre: keine Macht, keine soziale Anerkennung, kein Reichtum, dafür aber aufrichtige menschliche Verbundenheit und ein simples Leben. Letztendlich überwiegt jedoch Snows tiefgehende Verachtung für alles „Unzivilisierte“. Seine Empathie für Lucy Gray erstreckt sich nicht zum Rest des Distrikts. Vielmehr nimmt Snow sie aufgrund ihres musikalischen Talents und ihrer Covey Zugehörigkeit nicht als “normale” Distrikt-Bewohnerin, sondern als Ausnahme der Regel, wahr.

“You’ve no right to starve people, to punish them for no reason. No right to take away their life and freedom. Those are things everyone is born with, and they’re not yours for the taking. Winning a war doesn’t give you that right. Having more weapons doesn’t give you that right. Being from the Capitol doesn’t give you that right. Nothing does.”

Suzanne Collins, The Ballad of Songbirds and Snakes

Lucy Grays Einstellung, dass in jedem Menschen Gutes stecke und erst die Unterdrückung des Kapitols zu Gewaltausschreitungen führe, lehnt Snow ab. Stattdessen interpretiert Snow die gewaltvollen Auseinandersetzungen, die er in Distrikt 12 erlebt, als Bestätigung dafür, dass der Mensch von Natur aus gewalttätig ist und, um Ordnung und Frieden zu wahren, der Kontrolle des Kapitols bedarf.

Perspektivenwechsel

Entgegen aller Erwartungen entpuppt sich Snows Hintergrundgeschichte als eine würdige (und sinnvolle) Ergänzung der Die Tribute von Panem Trilogie. Suzanne Collins’ 2020 veröffentlichter Roman offenbart mit seinem, für die Autorin typischen, personalen Erzähler einen intimen Einblick in die zunehmend paranoide Psyche des zukünftigen Präsidenten von Panem, sein negatives Menschenbild sowie seine vielsagende Einstellung zu Macht und Kontrolle.

“We control it,” he said quietly. “If the war’s impossible to end, then we have to control it indefinitely. Just as we do now. With the Peacekeepers occupying the districts, with strict laws, and with reminders of who’s in charge, like the Hunger Games. In any scenario, it’s preferable to have the upper hand, to be the victor rather than the defeated.”

Suzanne Collins, The Ballad of Songbirds and Snakes

Auch wenn (oder gerade weil) die Verfilmung des Prequels auf Snows innere Monologe verzichtet – und somit einen wichtigen Aspekt der Buchvorlage einbüßt – entstehen im Film neue Perspektiven. Zuschauer*innen gewinnen ein komplexeres Bild der Charaktere, die zuvor, gefiltert durch Snows Wahrnehmung, eher eindimensional erscheinen. So bringt die Verfilmung etwa Lucy Grays Cleverness und Sejanus’ Charakterstärke hervor.

Weiterhin gelingt es The Ballad of Songbirds and Snakes, an die gesellschaftskritische Tradition der Film- und Buchreihe anzuknüpfen. Den politischen Fokus der Panem-Bücher erklären unter anderem die Umstände, die zur Konzeption der Idee führten. Suzanne Collins fand die Inspiration für ihre dystopische Trilogie beim Fernsehschauen: Der verstörende Wechsel zwischen Reality-TV Sendungen und Szenen aus dem Irakkrieg brachte die zündende Idee. Vor diesem Hintergrund bietet der Film einen treffenden Ausgangspunkt zur kritischen Auseinandersetzung mit medialer Inszenierung, Militarismus sowie modernen imperialistischen Bestrebungen.

“Who controls the past controls the future. Who controls the present controls the past.”

George Orwell, 1984

Beitragsbild: Metropolitan FilmExport

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert