Zwischen Dienstag und Donnerstag drehte sich in der Alten Aula in der Münzgasse alles um Irland. Neben einer Posterausstellung über die Geschichte des Landes und seiner Integration in Europa waren bei der Konferenz mit dem Titel „Discourses of Unity in Ireland and Europe“ zahlreiche Vorträge zu hören. Darunter war auch ein Beitrag des Professors Brendan O’Leary über die politische Zukunft der Republik.
Seit 1921 ist Irland zweigeteilt: Den größten Teil beansprucht die unabhängige Republik Irland mit der Hauptstadt Dublin, während Nordirland mit seiner Hauptstadt Belfast nach wie vor Landesteil des Vereinigten Königreiches ist. Auf diesen Kompromiss einigten sich nach dem irischen Unabhängigkeitskrieg (1919–1921) die britische Kolonialmacht, die Irland über 800 Jahre lang unterjocht hatte, und die irische Armee.
Diese Trennung ist zwar Gesetz, wurde jedoch nie von der gesamten Gesellschaft hingenommen: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchlebte Irland eine Schreckensperiode, ausgelöst durch die paramilitärische „Irische Republikanische Armee“ (IRA), die durch zahlreiche Terroranschläge mit über 3.500 Todesopfern in Irland und Großbritannien versuchten, eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik herbeizuführen. Diese Zeit ist heute vielen als „the Troubles“ bekannt.
Ein blutiges Jahrhundert endet endlich mit Frieden
Erst durch das Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement) im Jahr 1998 konnte die IRA beschwichtigt werden: Die beiden Staaten einigten sich unter anderem auf eine vollständige Öffnung der Grenze auf der Insel, sowie eine Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes in Nordirland: Fortan hatte jede in Nordirland geborene Person Anspruch auf die irische und die britische Staatsbürgerschaft, insofern mindestens ein Elternteil auch nur eine davon besäße. Rechtlich sind irische und britische Staatsbürger*innen nun in beiden Staaten nahezu gleichgestellt, britische Staatsangehörige dürfen sogar an den Wahlen zum irischen Parlament in Dublin teilnehmen, wenn sie einen Wohnsitz in der Republik haben (auch andersherum dürfen irische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich, also z. B. in Nordirland, an den Wahlen zum Parlament in London teilnehmen).
Nach Abschluss des Abkommens war der Gedanke an eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik zunächst vom Tisch. Frieden kehrte ein und eine Zeit des Wohlstands begann auf der Insel, auch durch Dublins rigorose Politik der Steuererleichterung für amerikanische Tech-Konzene, eine Periode, die heute als „Celtic Tiger“ bekannt ist. Erst durch den Brexit und die damit unweigerlich aufkommende Grenzfrage zwischen Nordirland und der Republik flammte die Debatte wieder auf. Inzwischen ist es für vielen Menschen auf beiden Seiten der Grenze Realität, dass die Wiedervereinigung früher oder später kommen wird. Wie und unter welchen Voraussetzungen, damit beschäftigte sich der irische Politikwissenschaftler Brendan O’Leary von der University of Pennsylvania in seinem Vortrag.
Wo steht Irland heute?
2023 ist ein historisches Jahr für das kleine Land: Es sind 25 Jahre seit dem Abschluss des Karfreitagsabkommens, 50 Jahre seit dem Beitritt zur Europäischen Union und 100 Jahre seit dem Ende des Bürgerkriegs. Die Spaltung der Insel besteht seit 98 Jahren, und langsam entsteht das Gefühl, dass diese Zeit sich dem Ende zuneigen könnte. Sollte dies passieren, wird dem ein Referendum auf beiden Seiten der Grenze vorhergehen, in dem die Menschen zwischen Derry und Cork bestätigen können, dass die Grenze im Norden der Insel verschwinden soll. Dass diese Zeit naht, dafür gibt es mehrere Gründe.
In der Republik Irland ist das einfach erklärt: Das Land habe sich modernisiert, von alten Traditionen und Denkmustern entfernt, es habe ein Prozess der „Dekatholisierung“ stattgefunden, so O’Leary. Generell war die Zustimmung zu einer Wiedervereinigung mit dem Norden dort logischerweise schon immer recht hoch, weshalb ein Referendum in der Republik reine Formsache wäre. Komplexer ist jedoch die Situation in Nordirland.
Der Niedergang des Protestantismus in Nordirland
Der Hauptgrund nun, warum die Zeit reif sein könnte, ist die Demographie Nordirlands. Lange lebten in der Region mehrheitlich Protestanten, die meisten von ihnen mit britischem Pass, und einer Vereinigung mit der bekanntlich tief-katholischen Republik Irland dementsprechend abgeneigt. Inzwischen leben im Norden allerdings mehr Katholiken. Das ist daher revolutionär, weil es bedeutet, dass die Mehrheit der Menschen in Nordirland nicht mehr kulturell und politisch mit der britischen Krone zusammenhängen.
„Demography is not destiny.“
Prof. Brendan O’Leary
Es ist also zu erwarten, dass die öffentliche Meinung einer Wiedervereinigung in Zukunft positiv entgegen stehen wird. O’Leary mahnte jedoch: „Demography is not destiny“, also sinngemäß: Der demographische Wandel führt nicht automatisch dazu, dass die Mehrheit nicht mehr zum Königreich gehören will. Das hat mehrere Gründe, unter anderem, dass britische Staatsbürger mit höherer Wahrscheinlichkeit überzeugte „Unionisten“, also Anhänger der Monarchie sind, als dass Katholiken „Nationalisten“, also Anhänger der Republik, sind (in Irland hat der Begriff Nationalismus eine andere Bedeutung als in Deutschland und ist meistens positiv konnotiert).
Dennoch gibt es starke Anzeichen für einen Wandel: Die „Sinn Féin“ hat in Nordirland in den letzten Jahren starke Zugewinne gemacht. Sinn Féin (irisch für Wir Selbst) ist eine Partei, deren Ziel im Kern die Wiedervereinigung ist. Politisch ist sie am ehesten dem demokratischen Sozialismus zuzuordnen. Auch wenn die Partei, die sowohl in Nordirland als auch in der Republik aktiv ist, heute nichts mehr mit Terrorismus zu tun hat, ist ihre Geschichte stark mit der der IRA verwoben, weshalb in Dublin penibel versucht wird, um sie herum zu regieren. In der Republik ist sie in Umfragen die mit Abstand stärkste Partei, befindet sich jedoch in der Opposition.
Auf dem Land hat die Sinn Féin schon längst eine starke Mehrheit, interessant ist jedoch, dass sie auch in Belfast, dem Epizentrum des Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten, inzwischen mehrere Distrikte erobert, was laut O’Leary ein revolutionärer Wandel ist.
Ein weiterer Grund ist natürlich der Brexit. Nordirland hat bei dem Referendum im Jahr 2016 gegen einen Ausstieg aus der EU gestimmt. Für viele Irinnen und Iren im Norden wäre eine EU-Mitgliedschaft also ein Grund, für eine Wiedervereinigung mit der Republik zu stimmen.
Alles eine Frage der Methode
Die alles bestimmende Frage, so O’Leary, sei jedoch: Wird der Wiedervereinigungsprozess schon vor einem potenziellen Referendum ausgearbeitet oder nicht? Wenn nein, sagte er in seinem Vortrag, sei das Referendum schon verloren, da die Menschen sich nicht auf eine jahrelange Hängepartie zwischen Dublin und London einlassen würden. Vor diesem Hintergrund komme aber unweigerlich die Frage auf: Wie soll ein wiedervereinigtes Irland aussehen? O’Leary nennt hier zwei Modelle: Integration und Devolution.
Integration bedeute, dass Nordirland als politische Einheit aufgelöst und Teil der Republik würde. Devolution hingegen bedeute, dass Nordirland als politisches Konstrukt beibehalten und eine eigene Regierung bekäme, die dann eben nicht mehr der Zentralregierung in London, sondern der in Dublin unterstellt wäre. Umfragen zeigen jedoch, dass die Integrationslösung unter den Menschen in Nordirland kaum Zustimmung findet.
„Das alleinige und ausschließliche Recht, Staatsgesetze zu erlassen, wird hiermit dem Oireachtas [Parlament] verliehen. […] Es können jedoch durch ein Gesetz Bestimmungen über die Bildung und Anerkennung untergeordneter Gesetzgebungsorgane wie auch über ihre Befugnisse und Aufgaben erlassen werden.“
Verfassung der Republik Irland, Art. 15, Abs. 2
Das Devolutionsmodell bringt allerdings ein Problem mit sich: Die irische Verfassung erlaubt es zwar, Regierungsaufgaben an eine niedrigere Ebene abzutreten, dies bedarf allerdings einer Verfassungsänderung. Eine solche wiederum benötigt nach irischem Recht die Zustimmung des Volkes durch ein Referendum, an dem nur irische Staatsangehörige teilnehmen dürften. Britische Staatsbürger*innen in Nordirland könnten also nicht ihre Zustimmung zu einer Wiedervereinigung unter diesen Bedingungen geben.
Wie überzeugt man Protestanten von einem vereinten Irland?
Für dieses Problem gibt es bislang keine Lösung. Dennoch gibt es Studien, die erforscht haben, unter welchen Voraussetzungen nordirische Protestanten einer Wiedervereinigung mit der Republik zustimmen würden und welche Vorschläge sie am meisten davon abhalten würde, diese zu unterstützen. Ergebnis der Studie war, dass vor allem drei Themen den Befragten am Herzen liegen: Zum einen war es ihnen wichtig, auch weiterhin Zugang zum britischen „National Health Service“ zu haben, der trotz radikalen Sparmaßnahmen unter konservativer Führung in London immer noch hohes Ansehen genießt. Am zweitwichtigsten war es den Befragten, dass eine säkulare Politik herrscht, die Protestanten und Katholiken gleich behandelt, und drittens, dass die Unionisten ein Veto im Parlament in Dublin einlegen können. Auch die nach einer Wiedervereinigung wieder aktive EU-Mitgliedschaft wäre für nordirische Protestanten ein großer Grund, diese abzulehnen.
Da gleich mehrere dieser Forderungen in keinster Weise mit der Vision von einem geeinten Irland vereinbar sind, wird der Weg dorthin wohl felsig werden. Es wäre schwierig und dazu hochgefährlich, eine Wiedervereinigung einfach am Widerstand der protestantischen Minderheit vorbei herbeizuführen. Eine solche Situation wäre dieselbe wie 1921, nur umgekehrt. Die Zukunft wird also zeigen, in welche Richtung die Grüne Insel steuert.
Konferenz im Rahmen von Gastprofessur
Die Tagung mit dem Namen „Discourses of Unity in Ireland and Europe“, in dessen Rahmen der Vortrag zu hören war, fand im Zuge einer irischen Gastprofessur an der Universität Tübingen statt. Diese dauert immer ein Wintersemester, die Konferenz folgt dann im Sommersemester. Der diesjährige Gastprofessor war der irische Filmemacher Maurice Fitzpatrick, der im Wintersemester unter anderem die Vorlesung „Screening Ireland“ hielt. Anwesend bei der Tagung waren unter anderem auch zwei Mitglieder der irischen Botschaft in Berlin, sowie einige Professor*innen der Universitäten Wuppertal, Würzburg und Saarbrücken, an denen die irische Gastprofessur in den nächsten Jahren Halt machen wird.
Titelbild: Quelle: Max Maucher (Motiv: Belfast City Hall, Nordirland)