Kultur Wissenschaft

Ein Open Air-Abend für die Wildnis

von Anna-Karina Ulbert und Hagen Wagner

15 Minuten Ruhm stehen allen zu – ganz nach dem berühmten Motto von Andy Warhol traten letzten Freitag vier Wissenschaftler*innen und Journalist*innen im Rahmen der Science Notes vor das Tübinger Open Air-Publikum auf die Bühne, um in Kurzvorträgen verschiedene Facetten eines Themas zu beleuchten, das bei genauer Betrachtung mehr über sich und uns verrät, als man glauben mag. Auch die Kultur-Redaktion der Kupferblau war vor Ort und hat sich von den Gedanken dieses lauen Sommerabends mit anschließender Techno-Musik von Dominik Eulberg inspirieren lassen.

Erwartungsvolles Gemurmel dringt durch die Sitzreihen des Tübinger Festplatzes. Noch steht die Sonne über dem Horizont und überstrahlt die Scheinwerfer. Ihr Abendrot hüllt das Publikum in einen anmutigen Schleier. Dann beginnt die Menge zu klatschen. Die beiden Moderatoren Prof. Dr. Olaf Kramer und Thomas Susanka, die eben auf die Bühne traten, um das Wort zu ergreifen, sind sichtlich überwältigt vom Applaus hunderter Hände. Für sie ist es schließlich das erste Mal seit der pandemischen Zwangspause, dass sie so viele Menschen auf einmal wieder vor sich haben.

Erinnerungen, die zählen

Ein lang ersehnter, überfälliger Abend, wie man auch im Publikum selbst spüren konnte. Trotz Abstandsregeln und Maskenpflicht war die Stimmung ausgelassen. Vielen Gesichtern war ein Lächeln anzusehen. Es war vor allem die Freude darüber, dass ein OpenAir-Event diesen Ausmaßes überhaupt wieder stattfinden kann und man gemeinsam mit anderen eine Atmosphäre stiftet, die Erinnerungen schafft.

Ziemlich gut besucht – insgesamt 750 Menschen kamen zu den Science Notes, um ins Thema Wildnis einzutauchen.

Erinnerungswürdig war allerdings nicht nur die Stimmung im Publikum, sondern auch das Format sowie das Thema des Abends. Wer nämlich an die Wildnis denkt, hat vielleicht zunächst Tarzan, Landschaftsaufnahmen oder Walgesänge, nicht aber Wissenschaftskommunikation im Kopf!

Als Abschluss des sog. Science Days, welcher im Rahmen der Exzellenzinitiative der Universität an diesem Tag stattfand, stellten Bernd Eberhard, Prof. Dr. Thomas Potthast, Prof. Dr. Oliver Bossdorf und Lissi Pörnbacher ihren eigenen Bezug zur Wildnis her und vor – sei es mit botanischem Forschungsinteresse, moralphilosophischen Überlegungen, mit Erfahrungsberichten aus dem Extremsport oder ungeahnten Fakten über radikalen Tierschutz. 

Übrigens…

Wer sich für weitere Einblicke in die Vorträge interessiert, kann hierzu gern auch einmal in den Artikel von Kai Bergmüller reinschauen.

Das verbindende Element

So unterschiedlich die Perspektiven der 15-minütigen Vorträge auch waren, die das Publikum an diesem Abend zu hören bekam, so hatten sie doch vor allem eines gemeinsam: nämlich eine Frage aufzugreifen, der wir uns bisher nur allzu selten gestellt haben: Was hat die Wildnis mit uns zu tun?

Oft betrachten wir sie schließlich als das kategorische Gegenteil zu Zivilisation und menschlichem Fortschritt. Auch, wenn diese Perspektive in mancherlei Hinsicht ihre Berechtigung hat, so erschafft sie doch die Illusion, dass wir völlig entkoppelt von ihr seien, sie also nicht brauchen, um zu existieren. Schlimmer noch, wir setzen uns über sie hinweg. Alles Wilde bedeutet untermenschlich, gesetz- und regellos, irrational. Diese negative Konnotation führt nicht zuletzt dazu, dass wir die Welt binär in Zivilisation und Wildnis einteilen, ohne darüber nachzudenken, was das Wort an sich eigentlich bedeutet.

„Wildnis ist ein Begriff, bei dem die Lebenswelt mit unserem Mensch-Natur-Verhältnis zusammenkommt.“

So formulierte es Prof. Dr. Thomas Potthast in seinem Vortrag über “Die Moral der Wildnis” und stellte dabei fest, dass Wildnis nicht nur ein Ort, sondern manchmal auch ein Zustand oder ein Prozess sein kann, den wir intuitiv oft einfach mit Natur gleichsetzen. Dabei lässt sie sich eben gerade nicht darauf verallgemeinern. Sie sei nämlich eine ganz spezifische Einstellung von Natur, so Potthast. Ein Modus, sozusagen, der sich unserem Einfluss entzieht und der dennoch in allen Lebewesen steckt, auch in uns.

Wenn wir bei einem Marathon durch Alaska an unsere körperlichen Limits gehen, wenn wir im Urwald die exotischen Klänge der dortigen Fauna erleben oder die gewaltigen Wasserfälle auf Island bestaunen, dann bedeutet dies nicht nur, fernab von der Zivilisation zu sein, sondern auch und vor allem, dass wir damit etwas über uns selbst erfahren können, was wir laut Prof. Dr. Thomas Potthast sonst nicht finden würden. Ästhetische Faszination, körperliche Grenzerfahrungen, eigene Entfremdung seien selten geworden. Wir brauchen sie aber, weil sie uns zeigen können, was das Menschsein (neben rationalem Denken, etc.) auch ausmachen kann.

Statt kategorischen Denken in Kontinuitäten denken

Vielleicht liegt darin auch ein Ansatz für den sensibleren Umgang mit Letzterer. Wenn wir nämlich bereit sind, Wildnis statt als binäre Kategorie (Wildnis vs. Zivilisation) in Kontinuitäten zu denken, d.h. im Sinne von mehr oder weniger starker Omnipräsens, schaffen wir ein Bewusstsein für das Verbindende – zwischen Menschen, Pflanzen und Tieren genauso wie auch zwischen den Wissenschaften.

Genau diesen besonderen Denkansatz fand man im Laufe des Abends immer wieder. Natur- und Geisteswissenschaften haben viel gemeinsam und können sich auf einzigartige Weise ergänzen – vorausgesetzt man gibt Ihnen die Chance dafür. Wie jeder Einzelne dieser Vorträge bewies, sah man eine Intersektionalität von Künsten, von Schnittpunkten einzelner Wissenschaften, von Vorträgen, die schon fast an Slam Poetry erinnerten, und in ihrer rhetorischen Darbietung kaum zu übertreffen waren.

Wir sollten bereit sein, auch bei solchen Fragen uns von unserer eigenen Binarität zu lösen. Gerade dieses Zeitalter ist allein ein Beweis dafür, dass geschlossene Kategorien, Konstruktionen sind, die aufgebrochen werden müssen. Vielmehr bewegen wir uns in einem Feld voller Dinge, die sich gegenseitig beeinflussen und die ohneeinander nicht existieren würden.

Ein Künstler der Schnittpunkte

Dominik Eulberg, der mit seinem Auftritt den Abend auf buchstäblich belebte Art ausklingen ließ, ist eines dieser Beispiele für interdisziplinäre Schnittpunkte. Eulberg studierte Biologie und Ökologie mit dem Schwerpunkt auf Naturschutz, engagiert sich für zahlreiche Naturschutzverbände, war unter anderem in der Naturforschung tätig und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Artikel sowie Bücher.

Doch neben diesen Leidenschaften liegt sein Fokus vor allem auf seiner erfolgreichen Karriere als DJ und Produzent. Mit seinem eigenen Label Apus Apus (Artenname des Vogels Mauersegler) ist er vor allem im Techno-Bereich unterwegs und dafür bekannt, Tier- und Naturgeräusche in seinen Tracks zu vertonen. Auch an diesem Abend gab er Musik aus seinen bereits 5 veröffentlichten Alben zum Besten.

Während er auf seinem Mischpult einen Track nach dem anderen mixte, erschien auf der Leinwand ein animierter Zusammenschnitt von Bildern der beschriebenen Wildnis. Nach anfänglichem Lauschen der Klänge wurde die Stimmung immer ausgelassener. Die Leute erhoben sich von ihren Stühlen und begannen, sich zu diesen Klängen zu bewegen.

Wer hätte gedacht, dass dieser Abend als Konzert ausklingen würde? In der Musik verschwommen die Differenzen. Egal, ob Botaniker*innen oder Philosoph*innen, ob Studierende oder Professor*innen – alle ließen sich gemeinsam auf die Musik der Wildnis ein. Manchmal ist uns das Fremde doch näher, als wir anzunehmen glauben.

Beitragsfoto:  Hagen Wagner

Fotos: Thomas Susanka/”Science Notes-Magazin” Tübingen

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