Mit einer Debatte zum Thema Pressefreiheit in Europa hatte am Montag die digitale Menschenrechtswoche 2020 ihren Auftakt genommen. Vier Journalist*innen diskutierten bei der Veranstaltung der Jungen EuropäerInnen Tübingen (JEF) über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Pressefreiheit und über die Wichtigkeit von unabhängigen Medien überall und zu jeder Zeit.
In Aserbaidschan habe ein Journalist 15 Minuten vor einem journalistischen Livestream aus unerfindlichen Gründen keine Internetverbindung mehr gehabt. In der Slovakei greife die Regierung immer wieder Journalist*innen an, die über die Situation in den Krankenhäusern berichten und halte diese fest. Und in Ungarn könne die Verbreitung von vermeintlichen „Fake News“ nun bis zu fünf Jahre Haft einbringen. Diese Lage betrachteten die vier diskutierenden Journalist*innen am Montagabend mit viel Sorge. Denn in vielen europäischen Ländern, vor allem in Osteuropa, werde die Corona-Pandemie dazu genutzt, die Pressefreiheit immer weiter einzuschränken.
Zu Wort kamen bei diesem Vortrag der JEF vier internationale Journalist*innen: Daniel Leisegang ist Redakteur bei der Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik”, Jeremy Druker ist Mitbegründer der internationalen Journalistenschule „Transitions” (TOL) in Prag. Zu Gast waren zudem Pavol Szalai, Leiter der Abteilungen zur EU und zu den Balkanstaaten bei „Reporters Without Borders“ und Natalia Marshalkovitch, Editor in Chief bei der Prager NGO „Free Press For Eastern Europe“, die unabhängige Medien und Journalist*innen unterstützt. Die vier Gäste diskutierten über den Zustand der Pressefreiheit in Europa, mit besonderem Augenmerk auf die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Außerdem widmeten sie sich der schwierigen Frage, wie die Finanzierung von unabhängigen Medien sichergestellt werden kann und wie man sie unterstützen kann.
Wo bleibt der Aufschrei?
Jeremy Druker stellte die vermehrten Repressionen gegen Journalist*innen unter einen größeren Trend der letzten fünf bis sieben Jahre. Repressionen seien allerdings auch immer schwieriger zu erkennen, weil sie mehr und mehr hinter verschlossenen Türen stattfinden würden. Doch gerade jetzt in Zeiten der Pandemie würden die Einschränkungen der Pressefreiheit weiter zunehmen, erklärte Natalia Marshalkovitch:
„For the autocratic governments the pandemic is just a new tool to repress journalists.”
Alle vier Journalist*innen kritisierten die EU deshalb eindringlich: Vor allem im Zusammenhang mit dem Notstandsgesetz in Ungarn habe sich die EU kaum und viel zu spät geäußert. Es hätte einen großen Aufschrei geben müssen, der zeige, dass die europäischen Werte nicht nur auf dem Papier gültig sind, sondern für die Bürger*innen geschaffen wurden. „We’re saving the car industry, but what about democracy and press freedom?”, fragte Leisegang. Szalai plädiert in Folge dessen dafür, dass finanzielle Unterstützung durch die EU nur mit der Bedingung der Einhaltung demokratischer Werte geschehen sollte.
Bedrohungen nicht nur von Regierungsseite
Szalai betont aber, dass Verletzungen der Pressefreiheit zurzeit auch in Westeuropa geschehen. Die Bedrohungen kämen hier dann jedoch nicht von der Regierungsseite, sondern „von der Straße“, so Leisegang. In Italien habe man einen Journalisten bedroht, nachdem er darüber berichtet hatte, dass die Mafia in manchen Gegenden Essen verteile. Außerdem steige in vielen Ländern die Gewalt gegen Journalist*innen, wie man auch in Deutschland beobachten könne. Auf den sogenannten Hygienedemos würden immer wieder Journalist*innen angegriffen. Ein prominentes Beispiel sei hier das Team der Heute Show, das bei einem Dreh am Rande einer Demo in Berlin Ziel eines Angriffs wurde.
Das Misstrauen gegenüber „der Medien” – beheizt von Verschwörungstheorien und Falschinformationen – steige überall.
So auch in Tschechien, erzählte Druker. Über Telegram-Channels würden dort Falschinformationen verbreitet werden, die Angst und Hass gegenüber all dem schüren, das den traditionellen Werten widerspreche.
Unabhängiger Journalismus ist nicht nur „nice to have”
Und auch von einem weiteren Problem sind unabhängige Medien in Europa jetzt betroffen: Die Einschränkungen durch die Pandemie bringen massive wirtschaftliche Probleme mit sich, die für viele das Aus bedeuten könnten. Die Krise habe deutlich gemacht, dass unabhängige Medien wenig gefördert werden, so Jeremy Druker. Hier müsse die EU viel mehr tun. Allerdings sei es jetzt auch wichtig geworden, kreativ zu werden und neue Wege zu finden, um die journalistische Arbeit zu finanzieren. Man müsse sich in Zukunft ohnehin von traditionellen Finanzierungsmechanismen wegbewegen. Dafür hat Druker die Crowdfunding-Plattform pressstart.org gegründet, die auf internationaler Ebene journalistische Projekte finanziert. Es sei wichtig, den Menschen klarzumachen, dass unabhängiger Journalismus kein Luxus nach dem Motto „nice to have” ist, sondern ein notwendiges Gut, an dessen Erhaltung jede*r teilhaben könne. Das sieht auch Natalia Marshalkovitch. Sie ist sich sicher, dass unabhängige Medien Zuwachs erhalten, wenn sie sich nach den Wünschen der Konsument*innen richten und neue digitale Möglichkeiten nutzen: „I still believe in independent media, despite the situation.”
Fotos: Friederike Streib, Reporter ohne Grenzen e. V.