Bei seinem VHS-Vortrag am vergangenen Mittwoch machte Judaist Dr. Philipp Lenhard die Komplexität und Widersprüchlichkeit deutlich, die sich aus der Geschichte des Antisemitismus ergibt. Er erklärte, wie sich der Antisemitismus seit der Antike immer wieder gewandelt hat und warum Antirassisten auch gleichzeitig Antisemiten sein können.
Dr. Philipp Lenhard spricht deutlich, formuliert klar und so, dass sich gut folgen lässt, ohne dabei auf Information oder Präzision zu verzichten. Gleich am Anfang stellt der Judaist klar, was sich durch seinen Vortrag ziehen wird: Antisemitismus geht alle an. Er sei in einer Gesellschaft ein Angriff auf die Grundlagen vernünftigen Zusammenlebens. Bei antisemitischen Aussagen gebe es deshalb keine mildernden Umstände, sie müssten allein nach ihrem Inhalt beurteilt werden. Antisemitismus müsse konsequent verfolgt und darüber aufgeklärt werden, um ihn zu bekämpfen.
Der Versuch einer Definition
Zu Beginn des Vortrags sollte eine Definition des Begriffs Antisemitismus stehen. Jedoch wurde schnell klar, dass eine solche eigentlich gar nicht existiert. Eine Arbeitsdefinition der Europäischen Stelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zum Zweck der strafrechtlichen Verfolgung, die auch von der Bundesregierung übernommen wurde, spricht bei Antisemitismus unter anderem von einer „bestimmten Wahrnehmung von Juden, die sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/ oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen richtet.“ Zudem könne auch der Staat Israel Ziel von Antisemitismus sein, wenn er als „jüdisches Kollektiv“ verstanden wird.
In dieser sehr unspezifischen Definition spiegelt sich der Versuch wieder, die Vielseitigkeit und unterschiedlichen Erscheinungsformen von Antisemitismus einzufangen.
Ohne Aussagekraft einzubüßen sei das jedoch kaum möglich, so Lenhard. Vielmehr müsse zum wirklichen Verständnis des Wesens von Antisemitismus ein Blick auf seine Geschichte geworfen werden.
Immer wieder neu befeuerte Mythen
Die Geschichte der Judenfeindlichkeit beginnt lange bevor sie Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff Antisemitismus eine neue, rassenfokussierte Komponente erhielt. Jüdische Erzählungen von Judenfeindschaft finden sich bereits in der Bibel. Im Buch Esther verhindert die Namensgeberin beispielsweise gemeinsam mit ihrem Adoptivvater die Ausführung eines Befehls zur Vernichtung aller Juden des Perserreiches. Dass es sich hierbei um ein reales geschichtliches Ereignis handelt ist zwar eher unwahrscheinlich, aber es ist eine jüdische Geschichte, die als Ausdruck realer Erfahrungen von Verfolgung und kollektiver Abgrenzung erzählt wurde.
Auch in über 2000 Jahre alten, nicht-jüdische Quellen findet sich immer wieder ein Motiv: Juden als grundlegend andersartig – als „Feinde der Menschen“. Im hellenistischen Ägypten erzählt ein Geschichtsschreiber beispielsweise alternative Geschichten zum Auszug aus Ägypten, nach denen die Juden aufgrund ihrer andersartigen Ritualpraktiken für eine Pestepidemie verantwortlich gemacht und aus Ägypten vertrieben worden seien. Dr. Lenhard erzählt weiter, wie mit dem Aufkommen des Christentums der Vorwurf des Christusmordes zu den antisemitischen Mythen hinzukam.
Juden waren nun nicht mehr nur eine von vielen unterdrückten Minderheiten, sondern das christliche Feindbild schlechthin.
Auch im Islam habe Judenfeindschaft eine lange Tradition, so Dr. Lenhard. Jedoch würden Juden dort als Ungläubige betrachtet, wie andere andersgläubige auch – und eben nicht wie im Christentum, als direkte Feinde. Daher könne man davon ausgehen, dass sich das Leben für Juden in der islamischen Welt des Mittelalters weitaus weniger gewaltvoll gestaltete, als unter Christen.
Im Laufe der Zeit reicherte sich die Judenfeindschaft immer weiter mit volkstümlichen Mythen an: Von der Pestzeit über das England des 12. Jahrhunderts, in dem man Juden Ritualmorde an Kindern anhängte, bis hin zur Identifizierung der Juden mit Geld im Spätmittelalter, die mit dem Aufkommen des Kapitalismus zu Theorien der jüdischen Weltverschwörung führte. Judenfeindschaft habe also eine kontinuierliche Geschichte, sei aber keineswegs eine unausweichliche Grundkonstante, erklärte Dr. Lenhard.
„Dass die Judenfeindschaft ein mehr oder weniger ständiger Begleiter der westlichen, einschließlich der islamischen Kultur ist, zeigt das Scheitern und die Schwächen der jeweiligen Zivilisationen,“ erläutert Dr. Lenhard.
Die Bekämpfung von Antisemitismus müsse immer damit einhergehen, dass sich eine Gesellschaft „über sich selbst aufklärt“. Es müssten die Missstände und strukturellen Gründe gefunden werden, die dazu führen, dass ein Mensch in einer Gesellschaft antisemitisch wird.
„Mit dem Holocaust ist der Antisemitismus nicht einfach verschwunden“
Für die heutige Zeit identifiziert Dr. Lenhard elf verschiedene Arten des Antisemitismus. Darunter ist, neben den altbekannten Formen von nationalsozialistischem und nationalistischem, auch religiös motivierter Antisemitismus. Dazu kommen antikapitalistische und sogar antirassistische Ausformungen. Antisemitismus und Antirassismus schließen sich nämlich nicht aus.
Judenfeindschaft und Rassismus unterscheiden sich in einem grundlegenden Merkmal: In beiden Fällen werden zwar Gruppen unterdrückt, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. „Während sich der Rassismus, zugespitzt ausgedrückt, gegen den imaginären Untermenschen richtet, mit dem man machen kann, was man will, richtet sich der Antisemitismus gegen den imaginären Übermenschen, gegen den man sich zur Wehr setzen muss.“
Teilweise werden so im Namen des Antirassismus auch Juden als rassistische Täter identifiziert.
Dr. Lenhard zeigte in seinem Vortrag auf, wie lange die Ursprünge des Antisemitismus zurückreichen, wie verwurzelt er in unserer Gesellschaft ist und wie kompliziert es daher ist, dagegen vorzugehen. Er schlägt daher eine dreifache Strategie vor: Die Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden müssten Antisemitismus konsequent verfolgen und hart bestrafen, um zu zeigen, dass Antisemitismus nicht geduldet wird. Zudem müsse über die Vergangenheit und Gegenwart der Judenfeindschaft sowie jüdischer Kultur aufgeklärt werden, um ein Bewusstsein für antisemitische Denkmuster und Stereotype zu schaffen und diese aufzubrechen. Wichtig sei drittens, dass die Gesellschaft sich über ihre fundamentalen Probleme bewusst werde, die antisemitische Denkmuster und die Suche nach einem Sündenbock begünstigen. Zumindest zu seinem zweiten Vorschlag hat Dr. Lenhard mit seinem Vortrag an diesem Abend bereits beigetragen.
Nachzusehen ist der Vortrag hier.
Foto: Friederike Streib