Der Tübinger Stadtfriedhof liegt – wie so vieles in dieser Stadt – am Hang eines Hügels. Unter hohen, alten Bäumen winden sich zahlreiche Wege um noch zahlreichere Gräber. Jetzt im Sommer ist es dort schattig, ruhig und das Eingangstor ist nur einen Steinwurf vom Kupferbau entfernt. Trotzdem ist er wohl einer der weniger besuchten Orte in der Umgebung. Warum sollte man auch freiwillig einen Fuß auf einen Friedhof setzen?
Vielleicht, weil sich ein kleiner Spaziergang dann doch lohnt. Denn neben der ein oder anderen berühmten Persönlichkeit, deren Grab man dort besuchen kann, hinterlässt die Geschichte einer Stadt an wenigen Orten so deutliche Spuren wie dort, wo ihre Bewohner*innen die letzte Ruhestätte finden.
Stadtfriedhof und Stadtwachstum
Der Stadtfriedhof erzählt dabei die Geschichte einer stetig wachsenden Stadt. Als er 1829 offiziell angelegt wurde lag er noch weit außerhalb – und das ganz bewusst. Man wollte die Toten nicht in der Nähe der Lebenden haben. Nach der Bestattung des ersten Menschen – des Schmieds Jakob Engelfried – wurde der Ort auch als ‚Engelfrieds Hof‘ bezeichnet. Im Laufe der nächsten hundert Jahre dehnten sich sowohl Tübingen als auch sein Friedhof stetig aus. 1920 schließlich erreichte er seine heutige Größe und damit bald sein Limit. Er wurde zu klein. Die Verstorbenen des Zweiten Weltkriegs mussten bereits auf dem Galgenberg bestattet werden, wo die Stadt dann 1950 mit dem Bergfriedhof die neue Hauptruhestätte eröffnete. 1968 hatte der Stadtfriedhof vorerst ausgedient.
Bis heute umfasst er 1834 Gräber, von denen 160 unter Denkmalschutz stehen und obwohl er nun schon seit über 70 Jahren nicht mehr regelmäßig genutzt wird, sind die Gräber auch heute noch gepflegt. Die Grabsteine sind sauber und gut restauriert, auf dem Gräberfeld der gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs blühen bunte Wiesenblumen und zahlreiche Ecken sind nach wie vor bepflanzt. Das liegt vor allem daran, dass seit Anfang der 2000er neue Konzepte zur Wiedereröffnung und Erhaltung umgesetzt werden. Und das ist gut so, denn…
…auf keinem anderen Friedhof in Württemberg haben mehr bedeutende Persönlichkeiten ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Broschüre „Tübinger Stadtfriedhof 2012 Zehn Jahre nach der Wiedereröffnung”,
hg. v. Universitätsstadt Tübingen 2012
Übrigens: Eines der Konzepte zur Erhaltung des Friedhofs ist das Prinzip der Wiederbelegung. Hier können Einzelpersonen eine Patenschaft für ein bestehendes, nicht mehr gepflegtes Grab mit Grabausstattung übernehmen und ein sogenanntes Nutzungsrecht erwerben. Nach ihrem Tod können sie so in diesem Grab auf dem Stadtfriedhof bestattet werden. Was zunächst skurril klingt wird tatsächlich auf mehreren historischen Friedhöfen in Deutschland umgesetzt und hilft, alte Grabstätten zu erhalten.
Wer liegt eigentlich so auf dem Stadtfriedhof?
Ein Rundgang durch die Gräberreihen zeigt vor allem eines: Tübingen ist und war eine Universitätsstadt durch und durch. Hier finden sich Theolog*innen neben Philosoph*innen, Mediziner*innen ruhen neben Schriftsteller*innen, Mathematiker*innen und Historiker*innen. Bei vielen ist ihr Beruf (oder ihre Berufung) auf dem Grabstein verzeichnet.
Dann ist da natürlich noch das Grab von Friedrich Hölderlin, bei dem das Geburtsdatum falsch angegeben ist (statt auf den 20.3 hat der Grabstein seine Geburt um neun Tage auf den 29. verschoben). Am gusseisernen Kreuz auf seiner Ruhestätte fehlt außerdem ein Lorbeerkranz aus Kupfer. Dieser ist so oft gestohlen worden, dass die neueste Kopie heute im Stadtmuseum verwahrt wird.
Auch Ludwig Uhland, ein Dichter, Politiker und Literaturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts ist hier begraben. Er hat schon zu Lebzeiten dichterisch festgelegt, wie sein Grabstein aussehen soll – schlicht. Ein Spaziergang zum Stadtfriedhof zeigt: Dieser Wunsch ist berücksichtigt worden.
Zu ihnen gesellt sich auch Ottilie Wildermuth – heute kaum noch bekannt, war sie ein wahrer Hit der Biedermeierzeit. Ihre Zeitschriftentexte und Romane wurden in Haushalten in ganz Deutschland gelesen. Auch Lothar Meyer liegt hier. Nach ihm ist nicht nur ein Unigebäude benannt worden, er war vor allem Mitbegründer des Periodensystems der chemischen Elemente. Und sogar ein ehemaliger Bundeskanzler hat seine letzte Ruhestätte in Tübingen gefunden: Kurt Georg Kiesinger, der von 1966 bis 1969 – trotz seiner Vergangenheit als NSDAP Mitglied – im Amt war.
Das sind nur ein paar Beispiele für berühmte Persönlichkeiten auf dem Stadtfriedhof. Wer alle historisch, wissenschaftlich und politisch relevanten Gräber in Tübingen finden will, nimmt am besten die App Wo-sie-ruhen zur Hilfe. Die bietet eine Übersicht über zahlreiche berühmte Personen auf dem Friedhof – zusammen mit einer Karte und der Lebensgeschichte der jeweiligen Begrabenen.
Gräberfelder und Gewaltherrschaft
Aber Tübingens Geschichte hat mehr Kapitel als die der Dichter*innen und Denker*innen, die hier gewirkt haben. So sind auf dem Stadtfriedhof zum Beispiel auch Spuren deutscher Kolonialaktivitäten zu finden und dann gibt es da noch das Gräberfeld X – heute eine Erinnerungsstätte an das Wirken der NS-Herrschaft. Hier war zwischen 1849 und 1963 die Grabstätte für Verstorbene, die zuvor im Anatomischen Institut zu Forschungs- und Lehrzwecken aufbewahrt worden waren.
Etwa 1078 Menschen wurden dem Institut zwischen 1933 und 1945 geliefert – darunter verstorbene oder hingerichtete Kriegsgefangene, Opfer der Justiz oder Zwangsarbeiter*innen. Wurden die Personen damals versteckt und achtlos verscharrt, arbeitet heute ein Projekt der Universität aktiv an ihrem Gedenken. Auf der Website findet sich die volle Geschichte des Gräberfelds zusammen mit einigen Biografien dort Bestatteter, die so zumindest im virtuellen Rahmen ihr Gesicht und ihre Geschichte zurückerhalten.
Spazierengehen, Geschichte sehen, Ruhe erfahren
So unangenehm der Gedanke an den Tod auch ist: Ein Friedhof gehört zur Geschichte einer Stadt nunmal dazu. Die Gräber des Tübinger Stadtfriedhofs erlauben es den Besucher*innen so auch, einen kleinen Blick in die Vergangenheit zu werfen, die Namen von Menschen zu lesen, die am Wochenende durch dieselben Straßen spaziert sind, die an derselben Universität gelebt und gelehrt haben, die vielleicht sogar in denselben Häusern gelebt haben. Es lohnt sich also, mal einen Spaziergang dort zu machen, die ein oder andere Ruhestätte zu besuchen, oder einfach auf einer Bank unter den Bäumen zu sitzen und den Stadtfriedhof als das wahrzunehmen, was er vor allem ist: Ein Ort der Ruhe.
Für alle, die erfahren wollen, wo die Geschichte außerhalb der Friedhofsmauern ihre Spuren in Tübingen hinterlassen hat: Das könnt ihr in der neuen Printausgabe der Kupferblau erfahren, die ab jetzt überall in und an der Uni erhältlich ist. (Sie lässt sich auch wunderbar nach dem Spaziergang auf einer schattigen Bank lesen).
Titelbild: Paula Baumgartner