Kultur im Katastrophenmodus: alles digital oder im Winterschlaf? Endlich nicht mehr, denn nun hat die Kunsthalle Tübingen ihre Tore wieder geöffnet und präsentiert uns noch bis Anfang Juli eine eindrucksvolle Ausstellung der Künstlerin Karin Sander. Was die Besucher*innen erwartet, sind Irritation, eine Zeitreise und ziemlich viel Gemüse.
Die deutsche Künstlerin Karin Sander wurde durch ihre postminimalistische Konzeptkunst bekannt, in der sie „formale Strenge“ mit „unerwarteter Poesie“ kombiniert. Was das heißt wird deutlich, wenn man sich beispielsweise ihre Office Works anschaut:
Zahlreiche Stipendien und Gastprofessuren führten sie mehrfach ins Ausland, unter anderem nach New York und Rom. Dass diese sie sehr geprägt haben, lässt sich unschwer in ihrem Werk erkennen. So legt sie beispielsweise einen bewussten Fokus auf die lokalen Materialien ihres jeweiligen Schaffensortes. Momentan pendelt die Künstlerin zwischen Berlin und Zürich.
Ein lebendiges Kunstwerk
Minimal Art – kein neuer Begriff in der Kunstgeschichte. Dabei geht es in erster Linie darum, Denkanstöße zu geben, Minimales darzustellen und damit individuelle Wahrnehmung und maximales Weiterdenken bewirken zu wollen. Doch manchmal entsteht einfach nur Irritation. Auch das scheint gewollt. So wundern sich die Besucher*innen der Tübinger Kunsthalle zum Beispiel beim Betreten des zweiten Ausstellungsraumes über die verschiedenen Sorten an Gemüse, die in einer langen Reihe an die Wand genagelt sind. Das Gemüse ist echt, man kann es sehen und riechen. Vanitas ist das Motiv dieser Installation, denn das Gemüse hängt schon seit Mitte März an seinen Nägeln und ist inzwischen verschrumpelt und vertrocknet. Trotzdem wirkt es nicht wie etwas im Kühlschrank Vergessenes, denn es hängt an einer strahlend weißen Wand, losgelöst aus seinem eigentlichen Kontext, individualisiert. Dabei scheint es jedoch in keinen neuen Kontext gebracht worden zu sein, sondern in gar keinen. Und so passiert es, dass handelsüblicher Wirsing plötzlich zu einem Teil der Kitchen Pieces wird und eine ganz neue Aufmerksamkeit erfährt.
Die nächste Irritation erwartet ihre Betrachter*innen in einem großen länglichen Raum, in dem vier riesige Leinwände hängen. Statt Farbe zieren hier Dreck und Schmutz die ehemals weiße Oberfläche. “Gebrauchsbilder” nennt Karin Sander dies – Spuren des Alltags, sozusagen. Dafür stellte sie die Leinwände nämlich jeweils für eine bestimmte Zeitspanne in die unmittelbare Nähe einer Großstadtbaustelle und ließ die Arbeit ihre Abdrücke hinterlassen. Als könnte man so den Prozess eines bestimmten Baus fixieren. Mittig im Raum steht, im Kontrast zu den braun-grauen Leinwänden, ein knallgrün angemalter Backstein auf dem Boden – eine rätselhafte Skulptur oder ein Readymade à la Marcel Duchamp?
Die Kuratorin der Ausstellung Nicole Fritz schreibt dazu:
“Karin Sander bricht die rigide Haltung der Konzeptkunst der 1960er Jahre auf und erweitert diese um sensuell prozesshaft-partizipatorische Ansätze.”
Hommage an den Schreibtisch
Den größten und letzten Teil der Ausstellung stellen die Office Works dar. Hunderte Blätter, teilweise gerahmt, teilweise in Klarsichtfolien gesteckt, bedecken die Wände und verwandeln die Kunsthalle in einen endlosen Schreibtisch. Auf dem weißen Papier sind mal Büroklammern, mal Striche und Muster, farbige Punkte oder Post-its zu entdecken. Jedes Blatt ist individuell und doch bilden sie manchmal ganze Serien oder Variationen eines Gedankens, den Karin Sander einmal gehabt haben muss. Zwischen all dem Wirrwarr gilt anscheinend nur ein Prinzip:
“Alles darf möglich sein. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, es entstehen immer wieder neue Inszenierungen auf einem einfachen Blatt Papier, die alle ihre eigenen Geschichten erzählen.”
Karin Sander im Interview mit Nicole Fritz, S.1.
Ziel des Ganzen ist wieder das Herausheben aus seinem gewohnten Umfeld. Aber auch die Geschichte der Künstlerin spiegelt sich in dieser Installation wider: Ihren Ursprung fand die Idee zu Beginn der 1990er Jahre, ständig kommen neue Gedanken hinzu. Wenn man genau hinschaut, kann man zudem erkennen, dass nicht jedes Papier dieselben Maße aufweist, da Karin Sander stets das Standardpapier verwendete, was an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort üblich ist.
Was teilweise recht primitiv wirkt, kann aber gleichzeitig auch als besonders poetisch und inspirierend wirken. Nicht umsonst wird Karin Sander hinterhergesagt, dass sie ihre Werke stets mit „intuitivem Gespür und Witz arrangiert“. Besucher*innen der Ausstellung werden sogar extra dazu angehalten, sich einen Aufsatz von John Waters via QR-Code zu den “Office Works” anzuhören, in dem er sich ausführlich mit der Gefühlswelt der verwendeten Heftklammern und Locherpunkte auseinandersetzt. In jedem Fall bewirkt das Betrachten der “Office Works”, Vertrautes und Alltägliches neu zu denken und einen neuen, vielleicht auch wertschätzenderen Blickwinkel auf unseren Schreibtisch zu erhalten. Denn die Bedeutung des Schreibtisches ist gerade in Zeiten des Homeoffice stetig gewachsen und Karin Sander setzt ihm hiermit ein Denkmal:
“Der künstlerische Schreibtisch ist ein Ort konzentrierten Arbeitens, an dem Konzepte gemacht und verwaltet werden. Wo wäre ich, könnte ich meine Gedanken nicht ab und zu mit einer Heftklemmer ordnen.”
Karin Sander im Interview mit Nicole Fritz, S.1.
“Nichts ist unmöglich in Karin Sanders Büro”
John Waters, ein US-amerikanischer Filmregisseur, Autor, Schauspieler und bildender Künstler, bietet mit seinem Aufsatz „Spare in der Zeit, so hast du in der Not“ Deutungsmöglichkeiten für Sanders Werkserie “Office Works”. Ihre Büroarbeiten beschreibt er als „gottvoll […], brüllkomisch, sexy und tief durchdrungen von historischer Disziplin“. Welche Aufgaben haben ein Locher oder ein Tacker, eine Heft- oder Büroklammer? Welche Hierarchie herrscht zwischen den verschiedenen Büroartikeln? Besonders die Heftklammern, die der Tacker in ein Papier stanzt, faszinieren ihn. Waters sieht in dem Tacker ein mächtiges Instrument, das eine „brutale Vereinigung zu vollziehen“ versucht. Diese Vereinigungen seien zwar von einer überwältigenden Einfachheit geprägt; aber dennoch glamourös. Angetrieben durch den „Penetrationsdrang“ der Heftklammer, den er in den Büroarbeiten erkennt, gipfelt Waters humorvoll in der Frage nach der Sexualität der Heftklammern und ihren sexuellen Präferenzen.
Einzelne Werke der Office Works stellt Waters zudem in einen kunsthistorischen Kontext und zieht Vergleiche mit Werken der Gegenwartskünstlerin Lily van der Stokker, der Expressionistin Agnes Martin, dem Bildhauer Richard Serra sowie dem Avantgardekünstler Lucio Fontana und dem Objektkünstler Cy Twombly. Geheimnisse und Geschichten, die sich hinter zerknülltem Papier, benutzten Klebeetiketten, aufgehobenen Quittungen oder abgerissenen Zeitungspapieren verbergen, dokumentiert Sander mit ihren Büroarbeiten. So entsteht mit ihrer Werkreihe nicht nur eine fortlaufende Collage, sondern auch ein Archiv.
Die Tübinger Kunsthalle für Studierende
Wer sich als scheinbar „kunstferne allgemeine Öffentlichkeit“ trotzdem für Kunst interessiert, kann auch an öffentlichen oder privaten Führungen der Kunsthalle teilnehmen, die einen Zugang zur Kunst der aktuellen Ausstellung anbieten. Für Studierende ist donnerstags nicht nur der Eintritt frei, sondern sie können am frühen Abend auch an einer Kurzführung teilnehmen, die speziell für Studierende und junge Erwachsene konzipiert ist. Die Kurzführung zur derzeitigen Ausstellung von Karin Sanders Werken wird von der wissenschaftlichen Volontärin Lisa Maria Maier durchgeführt. Die Impulse, die sie den Teilnehmenden während der Führung gibt, können direkt im Anschluss im anliegenden Café bei einer Rhabarberschorle oder auch einem Glas Wein noch weiter diskutiert werden.
Kunstinteressierte und Kunstliebhaber*innen müssen sich nun also nicht mehr mit online-Museumsführungen zufriedengeben, sondern können Kunst endlich wieder vor Ort erleben. All diejenigen, die sich noch eine eigene Meinung zu Karin Sanders Werken bilden wollen, können dies noch bis zum Ende der Ausstellung am 4. Juli tun. Ab dem 24. Juli können Kunstinteressierte dann die Ausstellung „Jenes Selbst / Unser Selbst“ der Pionierin der Performance Art, Marina Abramović, besuchen.
Titelbild: Kunsthalle Tübingen, © Studio Karin Sander
Beitragsbilder: Kunsthalle Tübingen, © Studio Karin Sander
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit der beiden Redakteurinnen Helena Geibel und Katharina Steffen.